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Wessel, Johann - Vom Fegefeuer

Wessel, Johann - Vom Fegefeuer

Ich wundere mich über die gemeinsame Unachtsamkeit der Lehrer unserer (der nominalistischen) Schule, die sich nicht durch die Autorität dar Lehrer der ersten Kirche bewegen lassen, welche doch das Reinigungsfeuer vom Straffeuer unterscheiden. Gregorius von Nazianz nennt das ein Reinigungsfeuer, welches der Herr Jesus auf die Erde brachte, und wollte, daß es brenne. Und dieses muß geistig sein, weil es die geistigen Flecken der unvollkommenen Weisheit, des unvollkommenen Urtheils über Gott und der unvollkommenen Gerechtigkeit reinigen soll; was auch Paulus andeutet, wenn er sagt, jenes Feuer werde prüfen; denn wenn es prüft, so erkennt es auch, wie eines jeden Werk war. Das Straffeuer aber nennt er jenes, welches bereitet ist den Teufeln und seinen Engeln. - Welches ist also jenes Feuer? wenn nicht das verzehrende Feuer, welches Gott selbst ist, der die Nieren brennt und verzehrt und alles Gold läutert …. der Gott, der Herzen und Nieren prüft. Jenes reinigende Feuer ist also eins mit dem Grunde, der gelegt ist. Wenn auf dieses Feuer und dieses zu Verbrennende unsere Ablaßmänner gehörig merken wollten, so würden sie nicht so unbedachtsam nach dem Tode eine vollkommene Sündenvergebung und Straflosigkeit verheißen; denn sie würden wissen, daß die Prüfung durch jenes Feuer nothwendig ist, wie nach einem unvermeidlichem Tode ein gerechtes Gericht. - Durch wen soll man gereinigt werden, außer durch den Liebenden und den Meister der Liebe und das erste Vorbild der brüderlichen Liebe? - Je mehr der Büßende liebt, desto mehr ist die Erwartung (der völligen Gemeinschaft mit Gott) für ihn eine Strafe, die nicht erst über ihn verhängt zu werden braucht, sondern von Natur sich einfindet, weshalb sie auch weder der Pabst noch irgend ein Kirchenvorgesetzter aufheben kann. Und wenn jene Strafen, wie Gott fürchten, sich nach ihm sehnen, nach Gerechtigkeit hungern und dürsten u. s. f. wenn, sage ich, schon jene Strafen höchst wirksam zur Reinigung sind, wozu noch andere suchen, da doch ohne diese alle andere unnütz wären? Die Liebe wird durch nichts gereinigt, als durch die Zunahme der Liebe; daher, welche Pein sie auch erdulde, wenn sie nicht zunimmt, wird sie nicht gereinigt. Unser bester und frömmster Herr Jesus hat tausend Qualen ertragen, ohne dadurch gereinigt zu werden (weil er es nicht bedurfte). Der Lucifer wird ewige Qualen ertragen und wird nicht gereinigt werden. Die Pein also reinigt bloß zufälliger Weise; an und für sich aber reinigt nur die wachsende Liebe Gottes und Christi. - Dieses doppelte Feuer nenne ich in Wahrheit das Fegefeuer des inneren Menschen, welches das Herz reinigt, bis der Mensch mit reinem Herzen Gott schaut, ein Feuer, welches stärker quält, als alles körperliche Feuer und aller körperliche Tod, je mehr es aus feuriger Sehnsucht des Verlangenden hervorgeht.

Literar-historisches Lesebuch Dr. Georg Weber Zweiter Theil Die Literatur des Mittelalters Leipzig Verlag von Wilhelm Engelmann 1851

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