Vinet, Alexandre - Über das Prinzip der christlichen Moralität.

Vinet, Alexandre - Über das Prinzip der christlichen Moralität.

Röm. XII, 1.
Ich ermahne euch, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber begebet zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei, welches sei euer vernünftiger Gottesdienst.

Meine Brüder! Vor Kurzem unterhielt eine von jenen Flugschriften, welche dazu bestimmt sind, der öffentlichen Neugierde eine tägliche Speise darzubieten, ihre Leser von einem neuen Werke, welches, wenn man dem Beurteiler Glauben schenkt, alle Freunde der gesunden Moral in die größte Unruhe versetzen sollte. Dies gefährliche Werk entwickelt eine Idee, welche zeigen wird, wie sehr die Lehre, und vielleicht die Absicht des Autors, vergiftet ist, diese Idee nämlich: dass alle Bemühungen des Menschen ihm nicht die Seligkeit erwerben können, und dass nichts zu tun ist, um sie zu verdienen. Ihr werdet mich fragen, meine Brüder, welches dies so hart beurteilte Buch ist. Ich weiß es nicht, es ist nicht einmal genannt, aber es könnte das Evangelium sein. Denn auch das Evangelium erklärt, dass der Mensch nicht durch seine Werke selig, dass die Seligkeit ganz umsonst gegeben wird; und dass dieses nicht liegt an Jemandes Wollen oder laufen, sondern an Gottes Erbarmen. Und da das Evangelium kein anderes Mittel des Heils aufstellt, noch zulässt, so geht daraus klar hervor, dass jedes andere Mittel, welches wir versuchen könnten, uns nicht zum Ziele führen würde, auch selbst die größten Anstrengungen nicht, welche wir machen könnten, um den Willen Gottes zu erfüllen. Da habt Ihr die Lehre in ihrer ganzen Nacktheit, ich hätte beinahe gesagt, in ihrer ganzen Rohheit. Was sollen wir nun tun, meine Brüder? Da sich die Menschen, welche diesen Lehren das Urteil sprechen, für Christen ausgeben, so würde es, um sie zum Schweigen zu bringen, vielleicht genügen, wenn man ihnen bemerkbar machte, dass die Lehren, welche sie tadeln, eben die Lehren des Evangeliums sind, und dass seit ungefähr achtzehn Jahrhunderten die Kirche diese Lehren als Grundwahrheiten bekennt und verkündet; allein da diese unbesonnenen Richter, außer einer großen Unbekanntschaft mit dem Evangelium, ein großes Maß von Unüberlegtheit und einen Mangel an wahrer Philosophie befunden, so möchte es vielleicht am Orte sein, den in Rede stehenden Satz, als eine einfache Idee, als eine reine Theorie, bei dem Lichte der Vernunft allein zu prüfen. Dies wollen wir unternehmen, und wir hoffen, es wird aus dieser Prüfung hervorgehen, dass diese Lehre nicht bloß vernünftig und moralisch ist, sondern dass sie die einzige vernünftige und die einzige wahrhaft moralische ist; hierin allein wird der Gegenstand der folgenden Rede bestehen.

Geben wir uns vor Allem genau Rechenschaft über die Schwierigkeit, welche man uns vorhält. „Eine Lehre,“ sagt man, „welche uns erklärt, dass man die Seligkeit nicht verdienen kann, eine Lehre, welche die Hinlänglichkeit und folglich die Notwendigkeit der guten Werke leugnet, steht in direktem Widerspruch mit dem Begriff der Moral; denn die Moral ist die Wissenschaft von der Pflicht; und in der Lehre, welche man angreift, gibt es keine Stelle für die Pflicht. Was noch mehr ist, diese Lehre steht im Widerspruch mit dem Evangelium, denn auf jeder Seite empfiehlt dasselbe die guten Werke; und diese Lehre schließt sie aus.“ Lasst uns, meine Brüder, diesen Einwurf aufnehmen, und zugleich an die, welche ihn uns machen, unsererseits einige Fragen richten.

Wenn es eine religiöse Moral gibt, d. h. ein System von Pflichten gegen den Schöpfer, so bedarf es, nicht wahr, irgend einer Triebfeder in uns, um uns zur Ausübung dieser Pflichten zu vermögen? Man gesteht dies zu. Kann es eine andere Triebfeder geben, als eine von den beiden folgenden: das Interesse und die Aufopferung? Nein, es ist nicht möglich, sich eine dritte zu denken! Nun wohlan! diesen beiden Triebfedern entsprechen zwei Lehren, welche wir untersuchen wollen.

Nach der ersten dieser Lehren kommt jeder Mensch mit ganzen Fähigkeiten in die Welt, mit Verpflichtungen, welche denselben entsprechen und mit der Erwartung eines Schicksals, welches mit der Art, in der er diese Fähigkeiten angewendet, diese Verpflichtungen erfüllt hat, in Verhältnis steht. Zwischen Gott und ihm besteht ein stillschweigender Kontrakt, eine gegenseitige Verbindlichkeit. Der Mensch verspricht den Gehorsam, und Gott verspricht das Glück. Wer das Gute tut, wird belohnt, wer das Schlechte tut, bestraft werden. Das ist genug, uns alle unsere Pflichten üben zu lassen.

Das Interesse also ist in dieser ersten Lehre die Triebfeder, welche man uns vorschlägt; ein allerdings sehr erhabenes Interesse, das unermesslichste von allen, aber immer ein Interesse. Nun, wer sieht nicht auf den ersten Blick, wie ungenügend und mangelhaft diese Triebfeder ist? Zunächst führt dieses Prinzip ein fremdes, man kann sogar sagen, feindliches Element in die Moral ein, weil die Tugend wesentlich in dem Opfer des Ich besteht. Dies Prinzip zeigt nicht gleich alles, was es der Moral Zuwiderlaufendes enthält; aber lasst es wirken, und bald wird es Alles an sich gerissen haben; bald wird es Euch erkennen lassen, dass der Erfolg den ganzen Wert der Handlungen ausmacht, dass der reine Gewinn oder der letzte Verlust ihnen ihren wesentlichen Charakter gibt; das Gute ist nicht mehr gut durch sich selbst, es ist nur gut, in so weit es das Glück zusichert; eben so ist das Laster nicht mehr Laster in sich selbst, es ist nur Laster in so weit, als es dem Unglück aussetzt. Man braucht an das Laster nur Versprechungen zu knüpfen, und es wird Tugend, Drohungen an die Tugend, und sie wird Laster. und doch muss, wenn die Moral nicht ein leeres Wort ist, die Tugend, getrennt von ihren Hoffnungen, noch etwas sein, so wie das Laster, getrennt von seinen Gefahren. Das ist nicht Alles. Vergessen wir nicht, dass es sich um eine religiöse Moral handelt, um Pflichten, die Gott zum Gegenstande haben; aber die erste von allen diesen Pflichten, die einzige, um richtig zu reden, ist die Liebe. Das Gesetz wird nur durch die Liebe erfüllt; niemals aber wird sich das, zu seiner höchsten Gewalt gesteigerte, Interesse, niemals wird sich der vervollkommnetste Egoismus bis zur Liebe erheben; man kann Handlungen berechnen; man kann das äußere Leben berechnen; man kann, aus Interesse, all sein Habe den Armen geben und seinen Leib brennen lassen; aber man kann sich, aus Berechnung, nicht mehr bestimmen zu lieben, als man aus dem Zusammenstoß von zwei Eiszapfen den kleinsten Funken ziehen kann.

Angewidert von dieser ganz egoistischen Moral, haben andere Geister ein anderes System geträumt. Sie haben das Interesse gänzlich ausgeschlossen, und haben gemeint, die Tugend um ihrer selbst willen zu üben. Die Tugend, sagen sie, ist sie nicht, unabhängig von den Gütern, welche sie verschafft, würdig, alle unsere Huldigungen zu empfangen und alle unsere Gedanken einzunehmen? Hat Gott, der die Wahrheit, die Schönheit, die höchste Güte ist, nötig, uns durch Versprechungen anzutreiben, durch Drohungen zu erschrecken, um unsern Gehorsam zu erhalten? Wir würden erröten, wollten wir, indem wir ihn dienen, andern Eindrücken weichen, als denen, welche aus seinen Vorzügen selbst hervorgehen.

Nun wohlan, meine Brüder! wer von uns wird zu sagen wagen, dass Diese hier nicht Recht haben? Wer wird nicht gern dies erhabene System unterschreiben? Aber, auf der andern Seite, wer wird es verwirklichen? Es ist schön dies System, es ist edel, es ist in einem Sinne sogar wahr; es hat nur einen einzigen Fehler, den nämlich, dass es unausführbar ist. Halten wir ein mit unsern Schlussfolgerungen, und lassen wir die Tatsachen reden. Wo sind Diejenigen, welche Gott aus reiner Liebe dienen? Was sage ich? Wo sind Die, welche Gott lieben? Suchen wir nicht, uns zu täuschen! Diese flüchtigen Rührungen, welche uns der Gedanke an den Schöpfer oder der Anblick seiner wundervollen Werke empfinden lässt, diese oberflächlichen Eindrücke, welche übrigens so vielen Herzen fremd sind, alles dies ist keine Liebe. Wenn wir Gott nur lieben, sobald wir einen Gefallen daran finden, unsere Gedanken, unsere Neigungen, unsere Wünsche, unser ganzes Leben ihm unterzuordnen; wenn wir Gott nur lieben, sobald unser Wille in dem seinigen verloren, untergegangen ist; wenn wir Gott nur lieben, sobald ihn beleidigen uns schon hienieden als das größte, das einzige Unglück, und ihm gefallen als die größte, die einzige Glückseligkeit erscheint; wenn wir Gott nur lieben, sobald unser Herz zwischen die Kreaturen und ihn dieselbe Entfernung setzt, welche er selbst dazwischen gesetzt hat … antwortet, o Ihr, die Ihr mich hört, wer ist es dann, der ihn liebt? Es ist wahr, dass das Kind der Welt oft ausruft: Ich liebe Gott, gewiss! und wer ist es, der ihn nicht liebt? aber nichts eben beweist die Verirrung unsers Lebens besser, als die Verwegenheit dieser Behauptung. Derjenige, welcher anfängt, Gott zu lieben, ist es gerade, der zuerst über seine Gleichgültigkeit gegen Gott erschrickt. Wir lieben Gott! Ach, eilen wir nicht, es auszusprechen! Wenn wir für ihn den zehnten, den hundertsten Teil der Zuneigung haben werden, die wir für einen Verwandten, einen Freund, für einen irdischen Wohltäter haben, dann wird es vielleicht Zeit sein, zu sagen, dass wir ihn lieben. Bis dahin lasst uns schweigen und in den Staub zurücksinken.

Und wenn wir ihn nicht lieben, was wird dann diese uninteressierte Moral, welche wir mit Recht vorzogen? Was wird dieses geläuterte System, worauf wir so stolz waren?

Es ist wahr, dass es in der Welt Menschen gibt, welche unternommen haben, Gott zu dienen. Sie haben sich gesagt, dass er ein Recht habe, sich dienen zu lassen; sie haben innerlich die Verpflichtung gefühlt, ihm ihr Leben zu weihen. Aber zu was hat dieser Versuch geführt, wenn nicht, ihnen zu beweisen, dass sie in der Tat Gott nicht lieben? Das Weltkind, der leichtsinnige Mensch wird Euch mit Zuversicht sagen können, dass er Gott liebt; aber geht und fragt diese mühseligen und beladenen Herzen, welche mit Anstrengung und ächzend die lange Kette der Vorschriften des Gesetzes schleppen, geht und fragt sie, ob sie im Herzen diese Liebe haben. Ach! nicht von Liebe werden sie Euch reden, sondern von Furcht, das heißt, noch von Interesse. Sie werden Euch von der Majestät des göttlichen Gesetzes reden, von seiner Unverletzlichkeit, seinen Drohungen. Sie werden Euch sagen, dass ihre Sünden eine größere Last sind, als sie tragen können. Sie werden Euch sagen, dass sie anstatt des Vaters, welchen sie suchten, nur einen Herrn und Richter gefunden haben, und dass sein Zorn ihnen seine Güte verborgen, und dass die Furcht der Liebe keinen Platz gelassen hat, und dass sie, bevor sie lieben, hoffen müssen.

Vernehmt es wohl, meine teuren Zuhörer: bevor sie lieben, ist es nötig, dass sie hoffen. Und das da ist gerade das System des Evangeliums. Wir haben dasselbe nun zu entwickeln.

Ihr habt gesehen, dass das Interesse nicht würdig ist, als Triebfeder für unsern moralischen Lebenswandel zu dienen. Ihr habt von einer andern Seite gesehen, dass ein auf die bloße Liebe begründeter Gehorsam in dem Herzen des natürlichen Menschen keinen Platz findet. Wir befinden uns also hier in einer doppelten Verlegenheit: man muss das Interesse entfernen, man muss die Liebe hervorbringen, aber wie das Interesse entfernen, und wie die Liebe hervorbringen? Das Evangelium übernimmt es, auf diese beiden Fragen zu antworten.

Tuet dies, so werdet ihr leben, sagen uns die meisten Moralisten, und selbst die Schriften des alten Testamentes. Das heißt (wenn wir Rücksicht auf das Geistige, auf die Vollkommenheit des Gesetzes nehmen): Tut das Unmögliche, und ihr werdet leben, tut das Unmögliche, wenn ihr nicht verloren gehen wollt.

Es war wohl nötig, meine Brüder, dass eine solche Moral in der Welt gelehrt wurde; es war selbst nötig, dass Gott sie im alten Bunde predigen ließ; es ist in unsern Tagen noch nötig, dass sie unter denen gepredigt werde, welche dem Evangelium widerstehen, weil es nötig ist, dass man den Wert der Wohltat nach der Größe des Bedürfnisses, und den des Heilmittels nach der Größe des Übels abmesse. ist nötig, dass Die, welche Jesus Christus zurückstoßen, lernen, wie weit entfernt sie sind, das Gesetz zu erfüllen, und wie sehr sie nötig haben, dass demselben durch Den genügt werde, Der allein Allem genügen, Der allein die Abgründe ausfüllen, endlich Der allein schaffen kann, da es sich hier um nichts Geringeres, als um eine Schöpfung handelt. Auf diese Weise ist das Gesetz oder die Moral wirklich ein Lehrer, der zu Christus führt.

Aber für den, welchen das Gefühl seiner Sünden und seiner Ohnmacht zu Christus geführt hat, beginnt eine andere Lebensordnung, für den entsteht eine andere Moral. Das Gesetz hatte gesagt: tut alles dieses, so werdet ihr leben; das Evangelium sagt ihm: ihr lebt, drum tut alles dieses. Mit zwei Worten, meine Brüder, in der gewöhnlichen Moral öffnet der Gehorsam den Himmel; in der Moral des Evangeliums erzeugt der geöffnete Himmel den Gehorsam.

Bemerkt Ihr es, meine Brüder? Diese einfache Umsetzung hat Alles ausgeglichen. Wir wussten nicht, was wir mit dem Interesse machen, noch woher wir die Liebe nehmen sollten. Das Interesse und die Liebe finden beide ihre Stelle in diesem System, aber in einer neuen Ordnung und in einer neuen Beziehung. Wage ich es zu sagen? Das Evangelium entledigt sich unsers Egoismus, indem es ihn sättigt, erschöpft ihn, indem es ihm Alles gibt; das Evangelium macht das Ich verschwinden, indem es dasselbe ganz und gar auf die erste Linie verbannt. Man gibt, von vorn herein, aber einmal für alle Mal, dem Interesse das größte Teil, oder vielmehr man gibt ihm nicht sein Teil, denn man gibt ihm im Voraus Alles, Alles, was das Herz der Menschen und der Engel fassen kann: das ewige Leben, den Frieden Gottes, das Glück im weitesten, im vollkommensten Sinne des Worts. Man fängt damit an, uns zu erklären, dass wir geliebt werden, nicht wegen unserer Werke, sondern abgesehen von unsern Werken und ganz ohne unser Zutun. Man befreit uns das durch von der unerträglichen Last, mit welcher die Verpflichtungen und die Schrecken des Gesetzes auf und drückten. Man macht unser Herz leicht und ungebunden. Man gibt ihm die Freiheit wieder. Und welchen Gebrauch macht es von dieser Freiheit? Hierin liegt die Schönheit des evangelischen Systems. Erfreut über seine verscheuchten Schrecken, glücklich über seine Befreiung, ruhig über seine Zukunft, aber vor Allem endlich zugelassen, Gott in der vollständigen Offenbarung seiner Liebe zu betrachten, fest auf Gott bauend, dessen Güte kein Bereuen kennt, sagen wir Alles mit einem Wort, gewonnen durch die Dankbarkeit, fühlt es sich ergriffen von dem Verlangen, Alles für den zu tun, der es zuerst geliebt, und der sich selbst für es hingegeben hat. Es liebt viel, weil ihm viel vergeben worden ist. Wird es das Gesetz vernachlässigen? Weniger als je; im Gegenteil, es wird ihm teurer und heiliger werden; aber es wird seiner in einem andern Geiste pflegen, nämlich als des Gesetzes der Liebe eines Vaters und eines Heilandes; es wird erkennen, dass das Gesetz vollkommen ist, süßer als der Honig, dass es die Seele erquickt; es wird daraus seine ganze Freude machen; es wird dasselbe aus Pflichtgefühl ausüben, allerdings, aber auch aus Geschmack, aus Neigung, bald aus Instinkt; und je mehr es seiner pflegen wird, je mehr werden die süßen Früchte, welche es trägt, es ihm teuer machen. Man braucht den Menschen solchen Herzens nicht mehr zu sagen: Im Namen eurer ewigen Interessen, im Namen der Schrecken des letzten Gerichts, tuet dies und ihr werdet leben; denn es ist für ihre ewigen Interessen vorher gesorgt, und der Urteilsspruch, welcher sie verdammt, ist an das Kreuz genagelt worden; aber man wird ihnen sagen: „Wandelt in guten Werken, zu welchen ihr in Jesu Christo erschaffen seid; ihr seid teuer erkauft; darum so preiset Gott an eurem Leibe und in eurem Geiste, welche sind Gottes;“ oder wie der Apostel in meinem Text: „Ich ermahne euch, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber begebet zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei, welches sei euer vernünftiger Gottesdienst.“

Freilich, meine Brüder, ist diese Fülle des Vertrauens nicht allen Christen in gleichem Grade verliehen; und wenn mehrere sie von dem ersten Augenblick ihrer Bekehrung an besitzen, so scheinen andere dazu nur durch ein langsames und mühsames Vorschreiten zu gelangen, und ist für andere endlich die Freude bis zum Ziele nicht ohne Zittern. Aber wollet gefälligst die beiden folgenden Bemerkungen beachten: Zuerst ist es gewiss, dass für alle die, welchen der heilige Geist es gegeben hat, an das barmherzige Opfer des Heilandes zu glauben, Gott Liebe ist. Sie wissen sich, sie fühlen sich geliebt; sie erkennen, dass die Absichten Gottes rücksichtlich ihrer Heil und Frieden sind; und diese Überzeugung, welche ihrer Seele einen andern Gott erscheinen lässt, als der ist, welchen die Welt kennt, durchdringt sie auch mit andern Gesinnungen und Vorsätzen, als die sind, welche die Welt hat; sie lieben diesen Gott, welcher sie persönlich und innig geliebt hat, und dies reicht hin, dass die Liebe das Prinzip ihres moralischen Lebens werde. Übrigens treibt sie das Evangelium, welches unermüdlich ist, ihnen zu erklären, dass ihre Werke sie nicht selig machen können, und sie unaufhörlich auf die Idee zurückführt, dass sie es aus Gnaden werden, es treibt sie fortwährend zu der göttlichen Liebe hin, und zwingt alle ihre Gedanken, sich auf diesen großen Gegenstand, die Barmherzigkeit des Herrn, zu konzentrieren. Mit diesen Überzeugungen, mit dieser beständigen Geistesrichtung, ist es unmöglich, dass das Leben nicht ein Leben in Gott werde. Diese Christen also machen keine Ausnahme in Bezug auf den Grundsatz, welchen wir aufgestellt haben. Aber dies ist noch nicht Alles.

Der aufrichtige Glaube ist in der Wirklichkeit voller Hoffnung. Die Seele, welche fest glaubt, dass das Blut des neuen Bundes für sie vergossen worden ist, kann nicht annehmen, dass Derjenige, welcher ihr gegeben hat, zu glauben, sie mit einer eitlen Gabe getäuscht habe. Sie kann sich selbst die Treue Gottes nicht ableugnen. Und wenn zuweilen das unauslöschliche Gefühl ihrer eignen Unwürdigkeit, der Anblick des Gesetzes des Fleisches, welches in ihren Gliedern gegen das Gesetz des Geistes streitet, der Anblick von so vielen beklagenswerten Treubrüchen selbst im Schoße der Kirche ihre Hoffnung für einen Augenblick verdunkeln können, so lassen sie gerade diese Dinge sich mit einer verdoppelten Inbrunst an Den wenden, der, da er nichts in uns fand, das unser eigen wäre, alles das in uns legen will und zu legen wissen wird, was seinen Augen gefällt. Verlangt nicht gebieterisch von dieser christlichen Seele eine triumphierende Gewissheit, womit der Herr nicht alle Getreuen bevorzugt hat; sie hat sie nicht, vielleicht; aber sie liebt, sie hat es aufgegeben zu verdienen, sie erwartet nichts von sich selbst, und alles von ihrem Vater; ich frage Euch, ob sie nicht im Sinne des Evangeliums handelt; ich frage Euch, ob, wenn sie aus Liebe gehorcht, ohne Hoffnung in sich selbst zu setzen, ohne gewinnsüchtige und schmutzige Absichten; ich frage Euch, ob dieses Prinzip der christlichen Moralität, dessen Überlegenheit wir festzustellen versucht, ihr fremd ist, und ob die vorüberziehenden Wolken ihrer Hoffnung die Lehre, welche wir entwickelt haben, im Geringsten schwächen? Sich geliebt wissen, fühlen, ist das nicht genug? Das kleine Kind, welches am mütterlichen Busen schlummert, kann ängstliche Träume haben; allein es öffnet die Augen, es sieht sich in den Armen von Der, die es mehr liebt, als sich selbst, und es lächelt über seine eigene Furcht.

Es ist wahr, dass das Evangelium selbst von Belohnung, von Preis, von Krone spricht. Es gibt nur eine Wahrheit, aber die Wahrheit kann zwei Seiten haben. Es ist sehr wahr, dass der Glaube die Liebe, dass die Liebe den Gehorsam erzeugt, und einen Gehorsam, der nicht berechnet; aber es ist auch wahr, dass die Werke eines solchen Gehorsams gute Werke sind, dass solche Werke das Glück als eine notwendige Folge mit sich führen, dass Gott die Wiederherstellung des Menschen nur in der Absicht gewollt hat, hat wollen können, ihn glücklich zu machen, und dass in dieser Beziehung das Evangelium im Namen Gottes von Belohnung und Krone hat sprechen können. Wir finden also hier in derselben Wahrheit zwei sich nicht widersprechende, sondern in gegenseitiger Beziehung stehende Ideen: Der Glaube umsonst gegeben, und die Früchte des Glaubens belohnt; der Gläubige nicht für den Lohn arbeitend, aber Gott ihn behandelnd, als ob er ihm etwas schuldig wäre; die Seligkeit dem Gehorsam vorausgehend, weil das Kreuz, Mittel der Seligkeit, den Werken des Gläubigen vorausgegangen ist, und in einem andern Sinne, d. h. in der Ordnung der Zeiten, der Gehorsam der Seligkeit vorausgehend, weil der volle Genuss der dem Gläubigen versprochenen Güter für ihn erst anfängt, nachdem er sein Werk beendigt hat. Es ist hier also kein Widerspruch, sondern gegenseitiges Entsprechen zwischen den verschiedenen Aussprüchen des Evangeliums, und alle die Stellen, welche es über die Belohnungen des Gläubigen enthält, können nicht das große Prinzip erschüttern, das Lebensprinzip des Evangeliums: dass der Gehorsam die Frucht der Liebe ist, und dass der Glaube an die Seligkeit aus Gnaden die einzige Wurzel der Liebe ist.

Übrigens, was haben wir nötig, alle diese Ideen zu erschöpfen, wenn die Tatsachen eine so klare Sprache führen? Sucht unter den Menschen, welche sich zum Christentum bekennen, die, für welche das Christentum reell, lebendig, wirksam ist, die, welche es mit dem Evangelium ernst genommen haben, und welche dasselbe mit Treue in ihrem Leben anwenden: da ihre Werke offenkundig sind, lasst Euch von ihnen Rechenschaft über das Prinzip ihrer Werke geben; nicht ein einziger, der Euch nicht antworte: Ich gehorche, weil ich liebe, ich liebe, weil Gott mir vergeben hat.

Meine Brüder, wenn die gewöhnliche Moral, ich meine die, welche das Dogma der Versöhnung verwirft, im Stande wäre, dieselben Wirkungen hervor zu bringen, dieselben Werke, als die evangelische Moral, so würde diese nichts desto weniger einen entschiedenen Charakter von Überlegenheit haben; denn, wie ein moderner Schriftsteller scharfsinnig bemerkt hat, in der einen ist die Tugend nur das Mittel, in der andern ist sie der Zweck. In der einen dient man Gott als Mittel des Glücks, in der andern wird er für sich selbst angebetet. In der einen können wir uns nicht von gewinnsüchtigen Absichten losmachen, in der andern gehorchen wir nur einem edlen und reinen Antrieb. In der einen ist sklavische Furcht, in der andern ist kindliche Furcht, was gut ausgedrückt ist in diesem Worte von St. Paulus: „Dieweil wir nun solche Verheißungen haben …. so lasset uns fortfahren mit der Heiligung in der Furcht Gottes.“ In der einen ist Interesse und folglich Sklaverei; in der andern ist alles Liebe, das heißt, Freiheit.

Nach diesen Betrachtungen wird es Euch leicht sein, die Kritik zu würdigen, deren wir beim Anfange dieser Rede erwähnt haben. Ihr könnt beurteilen, ob das eine unmoralische Lehre ist, welche lehrt, dass alle unsere Bemühungen uns die Seligkeit nicht erwerben können, und dass nichts zu tun ist, ich sage nicht, um ihr zu entsprechen, sondern, um sie zu verdienen. Ihr wisst jetzt, dass diese Lehre die der Liebe ist, und der Liebe in doppeltem Sinne: einer barmherzigen Liebe von Seiten Gottes, einer dankbaren Liebe von Seiten des Menschen. Es ist kein abgeschlossener Handel, es ist ein freies Bündnis zwischen Gott, der uns zuerst geliebt hat, und uns, die wir ihn lieben eben dieser Liebe wegen. Wie ist uns die Pflicht weniger heilig, seitdem wir Den lieben, der sie uns auferlegt? Wie ist uns das Gesetz weniger bekannt, seitdem wir Den besser kennen, der es uns gibt? Wie! hassen wir die Sünde weniger, seitdem ihre Vergebung das reinste Blut der Welt gekostet hat? Wie! werden wir uns weniger verpflichtet fühlen, zu gehorchen, seitdem wir die ganze Unermesslichkeit der Liebe des Vaters kennen? Ist eine Lehre, welche den Ernst aller Pflichten, die Kraft aller Vorschriften, das Dringende aller Beweggründe verdoppelt, eine unmoralische; oder ist sie nicht vielmehr, wie wir beim Beginn gesagt haben, die beste, die einzige gute Moral?

Dass die Gnade Gottes auf Mutwillen gezogen werden kann, sind wir weit entfernt, leugnen zu wollen. Dass diese Beschimpfung der Majestät Gottes, der Majestät der göttlichen Liebe alle andern an Schändlichkeit übertrifft, das muss man auch eingestehen; und man ist bei dieser Veranlassung zu dem Bekenntnis genötigt, dass die höchste Offenbarung der Güte Gottes zu der höchsten Offenbarung der menschlichen Bosheit Gelegenheit gibt. Wenn Gott sich hätte vorschreiben sollen, für unser Wohl nur solche Mittel anzuwenden, die zu missbrauchen uns unmöglich gewesen wäre, so würden wir nicht so tief gefallen sein, wie alles es uns beweist, oder vielmehr, so würden wir überhaupt nicht gefallen sein. Die Wirkungen, welche wir beschrieben haben, sind von uns als natürliche, und gewiss sind sie es, aber nicht als an und für sich sichere dargestellt worden; der Wille Gottes, die Gnade seines Geistes sichert sie allein. Also, ja, manche haben die Gewährung der Seligkeit aus Gnaden missbraucht, manche werden sie missbrauchen; allein sie werden sie zu ihrem Nachtheil missbrauchen, und diejenigen, welche einen guten Gebrauch davon gemacht haben werden, werden es zu ihrem großen Vorteil getan haben. Die Letzteren werden gut gefolgert, gut geschlossen haben; die Ersteren zum Erbarmen schlecht; und, was jede Schwierigkeit beseitigt, gäbe es auch nur eine geringe Zahl von Menschen, welche die Gnade angenommen und zugleich richtig verstanden hätten, immer bleibt es dabei, dass die natürliche Moral Niemanden selig gemacht haben würde, weil sie Niemanden erneuen kann; und immer bleibt es dabei, dass die einzige Gabe, welche sich als wirksam zur Seligkeit gezeigt hat, diejenige ist, über welche wir soeben Rechenschaft gegeben haben. Was das Herz umwandelt, was zum wahren Leben geboren werden lässt, was allen Verbindlichkeiten ein heiliges Siegel aufdrückt und allen kleinsten Pflichten einen religiösen Charakter verleiht; endlich, was allein die Moral bis zur Region des Absoluten und der Vollkommenheit erhebt, das ist diese Gnadengabe, ist nur sie, kann nur sie sein. Wie entfernt, wie weit entfernt von der Wahrheit und der Gerechtigkeit sind also die, welche die von uns entwickelte Lehre als unmoralisch bezeichnen!

Diese Lehre, welche man uns im neunzehnten Jahrhunderte als ein schreiendes Paradox hinstellt, ist dieselbe, welche alle wahren Christen seit Jesus Christus bekannt haben, die Moral von St. Paulus und St. Johannes, die Moral von Fenelon und von Pascal, die Moral von Newton und von Oberlin, die christliche Moral. Man spricht Euch in Euren Tempeln von der Rechtfertigung durch den Glauben, und Ihr nehmt diesen Ausdruck an; nun denn! diese Moral ist nichts anderes, als die Rechtfertigung durch den Glauben, oder die Heilung der Seele durch das Vertrauen in die göttliche Barmherzigkeit; und bis wohin lässt sich nicht diese Lehre verfolgen? Schon unter dem alten Bunde lebten die Gläubigen unter den Juden von dem Glauben an die gnädige Barmherzigkeit des Herrn; von einer Generation zur andern aufsteigend, werdet Ihr sie Alle von dem Wasser des geistigen Felsen, welcher Christus ist, trinken sehen; Ihr seht Moses die Schmach Christi den Götzen Ägyptens vorziehen; Ihr seht dieses göttliche Versprechen seinen tröstenden und reinen Schimmer auf den traurigen Pfad unserer ersten Eltern werfen, als sie die kühlen Schatten des Paradieses verlassen. Es ist diese Moral, auf welche Gott während viertausend Jahren die kranke und abgefallene Menschheit vorbereitete; es ist diese Moral, deren majestätische, seit langer Zeit im Verborgenen vorbereitete Grundlagen der Tod Christi ins Licht gestellt hat; es ist die Moral der Zukunft, es ist die Moral der Menschheit, die keine andere ertragen kann.

O, wenn unter Euch, meine teuren Zuhörer, Jemand ist, den ähnliche Vorurteile, wie die, welche uns den Stoff zu dieser Rede gegeben haben, noch fern vom Evangelium halten, o möge er, wir beschwören ihn, dies System des Evangeliums näher prüfen, und möge er sich, nachdem er die Schönheit, die Angemessenheit und die Harmonie desselben bewundert hat, fragen, ob Menschen es haben erfinden können? möge er untersuchen, ob dort nicht Besseres ist, als ein System, ob nicht dort eine ungeheure und göttliche Tatsache, die größte der ganzen Weltgeschichte ist; möge das Kreuz für ihn eine Realität, Jesus Christus ein Heiland, das Evangelium eine authentische Botschaft des himmlischen Vaters werden; möge er diese Moral des Glaubens und der Liebe annehmen, die allein Gottes würdig, allen unsern Bedürfnissen entsprechend, allein uns zu erneuern fähig ist!

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