Vinet, Alexandre - Der Namen-Christ, angeklagt durch seine Gedanken.

Vinet, Alexandre - Der Namen-Christ, angeklagt durch seine Gedanken.

Römer 11,15
Dazu auch die Gedanken, die sie verklagen oder entschuldigen.

Es gibt, meine Brüder, zwei sehr verschiedene Arten, das Christentum zu empfangen und auszuüben, und diese beiden Arten können durch zwei ganz einfache Ausdrücke bezeichnet werden: für die Einen ist das Christentum Alles; für die Andern ist es Etwas. Die Einen haben es empfangen als eine unumschränkte Macht, der Alles unterworfen sein soll; sie haben ihm in ihrer Seele einen Thron errichtet; sie haben ihr Leben in seine Gewalt gegeben. An Jesus Christus glauben, ihn lieben und ihm dienen, ist für sie das Eine, was Not tut, des Menschen Ein und Alles. Sie haben Jesus Christus zum Mittelpunkt aller ihrer Gedanken, zur Stütze ihres ganzen Lebens, zur Richtschnur aller ihrer Handlungen, zum Leiter aller ihrer Gefühle erwählt. Das sind die entschiedenen und vollständigen Christen. Für die Andern ist das Christentum bloß Etwas; seine äußere Vortrefflichkeit, die Autorität der Jahrhunderte, die Macht des Beispiels haben sie unter seine Banner hingezogen; sie befinden sich sogar, bis zu einem gewissen Grade, gerne darunter; sie möchten nicht den Titel eines Christen ablegen; gesteht man denselben ihnen nicht zu, so sind sie aufgeregt und empört darüber; allein das Christentum teilt ihr Herz nur mit andern Dingen, welche sie nicht weniger schätzen; sie haben nichts ausgetrieben, um es zu empfangen; ihre andern Interessen haben ihm nur ein wenig Platz gemacht, und der bessere Teil derselben ist vor der Tür ihres Herzens geblieben. Ein wenig Furcht vor dem Tode ein wenig Ehrfurcht für die Heiligkeit Gottes, ein wenig Vertrauen in seine Barmherzigkeit, ein wenig Zuneigung für Jesus Christus haben sich, so zu sagen, in die Zwischenräume hineingeschlichen, welche eine schon so sehr angefüllte Seele frei ließ. Und sich selbst Dank wissend, dass sie in dieser Weise Alles zugestanden haben, zufrieden, diese große Angelegenheit so gut geregelt zu sehen, fangen sie wieder an, ungefähr so zu leben, wie sie bisher gelebt haben, und gehen sie ruhig dem Gott entgegen, der will, dass wir ihn von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit allen unseren Kräften und von ganzem Gemüte lieben.

Ihr wisst, meine Brüder, wie zahlreich diese Ehrenmitglieder der christlichen Kirche, diese bloßen Liebhaber des Christentums sind. Ihr wisst gleichmäßig, wie groß ihre Täuschung, wie traurig ihr Irrtum ist, und dass der eifrige Gott, dessen Gebote sie wie wucherische Forderungen behandelt haben, von denen es erlaubt ist, etwas abzudingen, diese Religion der Herablassung, dieses geizige und schmutzige Christentum als nichtig erklären, und solche vermeintliche Diener, die ihm niemals angehörten, weit von sich werfen wird.

Dass diese Christen nicht Christen sind, das also haben wir nicht nötig, Euch zu beweisen. Unser Zweck für heute ist, dies Geständnis aus ihrem eigenen Mund zu ziehen, indem wir sie sich selbst gegenüber stellen; mit andern Worten, unser Zweck ist, zu beweisen, dass ihre eigenen Gedanken sie anklagen.

Die Worte, welche uns als Text dienen, finden, nach der Absicht von St. Paulus, eine Anwendung auf die Heiden, oder im Allgemeinen auf alle Menschen, insoweit sie auf ihre bloße natürliche Erkenntnis beschränkt sind. Das Gesetz, sagt der Apostel, ist ihren Herzen eingeprägt, jeder von ihnen kann es in seinem Innern lesen, so dass er, wenn er will, ohne die Hilfe irgend einer Offenbarung, sich selbst anklagen oder entschuldigen kann.

Auch geschah es nicht, um den Menschen das Gesetz zu geben, dass Christus in die Welt gekommen, dass Christus am Kreuz gestorben ist. Dies Gesetz hatten sie schon; und was würden die Erläuterungen, welche er demselben hinzugefügt, die Überlegenheit seiner Belehrung und die Schönheit seines Lebens anders getan haben, als die Menschen mehr über ihren Sündenzustand aufzuklären, ihnen noch mehr die Möglichkeit einer Entschuldigung zu nehmen, als sie zu töten, nach dem kräftigen Ausdruck von St. Paulus, welcher mit Recht dafür hält, dass das dazwischen tretende Gesetz den Tod und nicht das Leben mit sich bringt? Das Gesetz, welches immerwährend auf dem Richterstuhl unsers Herzens thront, um uns anzuklagen oder uns zu entschuldigen, würde aus den Händen von Jesus Christus nur ein schärferes Schwert, nur eine feinere Waagschale empfangen haben.

Allein wie dem auch sei (denn diese Frage gehört nicht zu unserm Gegenstande), es bleibt gewiss, dass der natürliche Mensch, da das Gesetz in seinem Innern geschrieben steht, in dem Fall ist, sich selbst zu verdammen. Nun, dies ist nicht weniger wahr für die Klasse von Christen, welche wir bezeichnet haben. „Die Gedanken ihres Herzens verklagen sie gleichmäßig.“ Ja, sobald sie, unter dem Namen von Christen, der Welt angehören und für die Welt leben, so, sage ich, schließen die Prinzipien, welche sie sich zur Ehre machen, in den verschiedenen Beziehungen des Lebens zu bekennen, die Verdammung ihres vermeintlichen Christentums in sich ferner, wenn sie auf ihre Gottesverehrung dieselben allgemeinen Grundsätze anwenden, die sie bei allen übrigen Dingen anwenden, so, sage ich, werden sie gezwungen sein, zuzugestehen, dass ihre Religion nicht eine Huldigung, sondern eine Beleidigung für den Gott ist, welchem sie zu dienen meinen. Um diese Wahrheit anschaulicher zu machen, lasst uns zunächst einige Fragen an uns richten.

Wenn das Herz eine unschuldige und rechtmäßige Neigung empfindet, ist es da nicht allgemein anerkannt, dass es schön ist, sich derselben zu überlassen? Wenn der Gegenstand, welcher sie uns einflößt, unserer Achtung eben so würdig ist, wie unserer Liebe, ist es da nicht schön, sich für ihn zu begeistern? und wird in einem solchen Falle die Übertreibung nicht viel eher verziehen, als die Lauheit?

Wenn wir von einem unsers Gleichen irgend eine Wohltat empfangen haben, ist es da nicht allgemein angenommen, dass unsere Erkenntlichkeit im Verhältnis zur Wohltat stehen soll? Ist es nicht schön, diese Erkenntlichkeit da nicht zu genau abzumessen? Soll sie da nicht, wo möglich, den geleisteten Dienst übersteigen? Und soll sie da nicht gern jede Gelegenheit ergreifen, sich durch Taten zu offenbaren?

Endlich, wenn wir Jemand als unserer Zuneigung und unserer Achtung würdig befunden haben, ist es da nicht allgemein anerkannt, dass wir die Gefühle, welche dies Wesen uns einflößt, uns vor der Welt zur Ehre gereichen lassen? Ist es da nicht schön, diese Zuneigung und diese Ehrfurcht Jedermann zu zeigen, und, wenn wir können, Jedermann zu vermögen, sie mit uns zu teilen? Und müssen wir nicht, selbst da und besonders da, wo dies Wesen für die Andern ein Gegenstand der Abneigung und der Verachtung wäre, uns als seine Freunde bekennen, und es durch dieses öffentliche Kundgeben unserer Anhänglichkeit verteidigen?

Drei Fragen, meine Brüder, deren Beantwortung nicht zweifelhaft ist. Ja, das sind allgemein angenommene Grundsätze, nicht bloß angenommen von den geistigen Menschen, sondern auch von den Weltkindern; nicht bloß von Christen, sondern auch von Heiden; nicht bloß von einer Klasse der Gesellschaft, sondern von allen ohne Ausnahme. Das sind Gedanken, welche Jedermann eingesteht, worin Jedermann seine Ehre sucht, und deren Nichtvorhandensein eine moralische Gesunkenheit voraussetzen ließe, in welche Niemand gefallen zu sein denkt. Ich nehme diese Gedanken, deren Wahrheit, da sie allgemein zugestanden wird, also auch von den Namen-Christen zugestanden werden muss, welche den Gegenstand dieser Rede bilden, und ich sage diesen Namen-Christen, dass jene Gedanken ihre Verdammung in sich schließen.

Ein Gegenstand hat durch seine schönen Eigenschaften ihr Herz gewonnen. Sie lieben ihn. Glaubt nur nicht, dass sie sich gegen ein so süßes Gefühl zu verteidigen suchen. Sie finden es rechtmäßig, unschuldig und selbst schön, sich demselben zu überlassen. Wenn sie etwas fürchten, so ist es das, nicht genug zu lieben. Sie freuen sich über ihr reges Gefühl und würden gegen sich selbst zürnen, wollte es erkalten. Die Übertreibung macht sie eben nicht besorgt; nur zu glücklich ist, denken sie, wer so übertreiben kann! Man kann zu sehr genießen, zu viel tun, zu viel kennen; man kann nicht wohl zu viel lieben. Diese vermeintliche Übertreibung ist die Seele aller großen Handlungen, die Triebfeder eines jeden edlen Lebens; die Begeisterung für das, was groß und gut ist, ist der edelste Zustand, welchen die Seele kennen kann, und in welchem sie sich für gewöhnlich zu erhalten wissen müsste; der Fanatismus selbst hat seine Große; und sei es, dass man sich für das Vaterland, für die Wissenschaft oder für die Schönheiten der Natur und der Künste entflammt, man ehrt durch diesen Aufschwung die menschliche Natur, welche nur zu leicht zu den gewöhnlichen Dingen und den materiellen Interessen zurücksinkt.

Ganz durchdrungen von diesen Gedanken, nach Liebe und Bewunderung dürstend, stellt man Euch vor dies vollendete Muster von alledem, was je Bewunderung und Liebe verdiente. Zurück, weit zurück bleiben dahinter die erhabensten Fiktionen! Es ist die erhabenste Wirklichkeit! Zurück, weit zurück bleiben dahinter alle Weisen, alle Helden, alle Propheten, alle Menschen! Es ist ein Gott, und, o Tiefe! es ist ein Gott-Märtyrer! Habt Ihr den geduldigen Menschen bewundert? Es ist die Geduld selbst. Habt Ihr den reinen Menschen verehrt? Es ist die Reinheit selbst. Habt Ihr den liebenden Menschen geliebt? Wohlan! es ist die Liebe selbst. Habt Ihr den Reden der Weisheit ein begieriges Ohr geliehen? Nie hat ein Mensch geredet, wie dieser Mensch! Die ganze Philosophie der Alten, die ganze Wissenschaft der neuern Zeit beugen sich vor dieser fleischgewordenen Weisheit, welche dem Genie Gedanken des Kindes und dem Kind Gedanken des Genies gibt. Wie oft habt Ihr nicht, in Euren Gedanken mit einem Ideal menschlicher Vollkommenheit beschäftigt, die Verwirklichung desselben unter den Menschen gesucht? Wie oft seid Ihr nicht getäuscht worden! Immer verriet sich der Mensch an irgend einer Stelle. Bald verdunkelte ein Laster die guten Eigenschaften; bald wurden diese guten Eigenschaften selbst dadurch, dass sie die Grenzen überschritten, zu Lastern. Selbst in diesen Fiktionen, wo sich die Einbildungskraft des Menschen frei entfaltet, ist es Euch nicht gegeben, vollkommene Charaktere darzustellen, sei es, dass einer Art von gutem Geschmack diese Verfälschung widerstrebt, oder sei es, dass in der Tat ein unvollkommenes und beschränktes Wesen nur so beschränkte und unvollkommene Wesen, wie es selbst ist, mit Erfolg schildern kann. Allein der göttliche Held des Evangeliums ist vollendet in jedem Punkt. Keine Andeutung von Sünde, keine Tugend, welche usurpatorisch auf das Gebiet einer andern Tugend vordränge. Es ist mit seinem Charakter, wie mit seinem Werk: die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit haben sich darin umarmt; die Stärke und die Sanftmut haben sich ausgesöhnt; die Herrschaft und die Demut haben vereint geglänzt; mit einem Worte, alle Elemente, aus denen die Idee der Vollkommenheit besteht, haben sich in der herrlichsten Harmonie unter einander verbunden. Was bedarf es denn noch mehr, um Euer Herz zu gewinnen? Werdet Ihr noch das Recht haben, irgend etwas zu bewundern, wenn Ihr Jesus nicht bewundert? Werdet Ihr nicht über alle Maßen ungerecht sein, wenn es etwas auf der Welt gibt, das ihr ebenso wie ihn liebtet und bewundertet? Denn Ihr könnt es nicht leugnen. Das Problem ist gelöst, Ihr habt endlich den Wunderbaren, wie ihn die Schrift mit Recht nennt, gefunden; und wenn Ihr ihn nicht mehr bewundert, als alle übrigen Wesen zusammengenommen, so wird man gezwungen sein, zu schließen, dass entweder dieser behauptete Durst nach dem Guten und nach dem Schönen nur eine reine Heuchelei war, oder dass Euer ungebildeter Geschmack nicht fähig ist, zu unterscheiden, was wirklich gut und schön ist, oder dass Eure Eitelkeit ihre Rechnung besser dabei findet, die Unvollkommenheit zu bewundern, weil die Unvollkommenheit Euch nicht demütigt. Nun! und doch ist es so. Nicht, dass es Euch etwas kostete, zuzugestehen, dass Jesus Christus das vollkommenste Wesen und sogar das einzige vollkommene Wesen sei, welches unter den Menschen gelebt hat. Aber wie kalt ist dieses Gefühl im Vergleich zu dem, welches Ihr oft für die Kreaturen hegt! Was sage ich! Dieses so reine und so veredelnde Gefühl, Ihr fürchtet es als ein gefährliches Gefühl; Ihr scheint darauf dieselbe moralische Klugheitsregel anzuwenden, welche uns vorschreibt, allen unseren fleischlichen, durch ihre Natur unbegrenzten Leidenschaften, welche die ganze Seele zu verschlingen im Stande sind, zu misstrauen! Ihr behandelt dies Gefühl mit der Strenge, welche die weltlichen Begierden verlangen, die unsere Seele bekriegen! Und während Ihr den zerstörenden Fluten, denen Ihr auf allen Seiten Schranken setzen solltet, einen freien Lauf lasst, engt Ihr mit Eurer ganzen Kraft diesen Strom der Liebe ein, welcher, wenn er die Seele durchströmte, und, wäre es möglich, darin überströmte, daselbst nie etwas anderes, als Fruchtbarkeit, Fülle und Leben verbreiten würde! Und Ihr seid Christen! und was selbst bei den Heiden, denen das Evangelium bekannt wäre, Ungerechtigkeit sein würde, Ihr erlaubt es Euch als Christen! Man sieht es den Ungläubigen nach, dass sie ihre Seele an geschaffene und unvollkommene Gegenstände vergeuden, dass sie sündhaften Menschen, was sage ich? menschlichen Erfindungen, Werken der Kunst einen an Wahnsinn grenzenden Enthusiasmus widmen; die Seele will angefüllt sein, und außerhalb der Eingebungen der Weisheit von oben ist sie vielleicht nicht frei zu wählen; aber wie viel Christen schenken (man sieht es alle Tage) einem Menschen, einer Lehre, einem Buche, einer Statue viel mehr Interesse und Bewunderung, als ihnen Jesus Christus einflößt. Dass sie sogar fürchten, zu viel Zuneigung, zu viel Eifer, zu viel Enthusiasmus für Den zu haben, dem sie nur Gerechtigkeit wiederfahren lassen würden, wenn sie ihn mit allen Kräften ihrer Seele liebten, das ist gewiss der höchste Grad der Inkonsequenz und der Verirrung!

Aber der Fanatismus, werdet Ihr sagen, ist nicht der Fanatismus ein naher Nachbar des Gefühls, das man von uns verlangt? Das heißt den Fanatismus schlecht kennen; unter welcher Form er sich auch zeige, niemals ist er aus der Liebe entstanden. Die Liebe Jesu, das heißt, die Liebe der verwirklichten Wahrheit und Tugend, kann Euch nur zur Wahrheit und zur Tugend führen. Trauet der Einbildungskraft, dem eignen Willen und dem Stolz nicht: das sind die Quellen des Fanatismus; aber liebet ohne Furcht; so lange Ihr Euch darauf beschränken werdet, zu lieben, Jesus Christus zu lieben, werdet Ihr nichts dem Geiste Jesu Christi Zuwiderlaufendes tun, und werdet Ihr nicht fanatischer sein, als Jesus Christus es selbst gewesen ist.

Erster Punkt, meine Brüder, in welchem die Namen-Christen durch ihre eignen Gedanken, d. h. durch ihre Prinzipien, verdammt werden. lasst uns sehen, ob ihre Verdammung nicht aus irgend einem andern ihrer Gedanken hervorgeht.

Sie legen ein großes Gewicht auf die Erkenntlichkeit, und mit Recht; denn, wenn auch die Erkenntlichkeit, für sich allein genommen, nicht gerade eine Tugend ist, so ist sie wenigstens das uneigennützigste Gefühl, welches der Mensch empfinden kann. Die menschliche Moral, so sehr sie auch schon von den Menschen verstümmelt ist, kann noch manche Verluste erleiden, bevor der Erkenntlichkeit ihr Ansehen genommen wird. Sie ist vielleicht dasjenige von allen Gefühlen, auf dessen Ruhm man am wenigsten verzichtet. Alles Andere kann eine Entschuldigung finden, die erwiesene Undankbarkeit findet keine. Hiermit sage ich nicht, dass alle Menschen erkenntlich sind; ich spreche nicht von den Gewohnheiten der Gesellschaft, sondern von ihren Grundsätzen, von Grundsätzen, welchen die Namen-Christen wie alle übrigen Menschen huldigen. Alle machen aus der Dankbarkeit eine heilige Pflicht; Alle wollen, dass sie sich durch Taten beweise; Alle billigen es, dass sie über die geleisteten Dienste hinausgehe.

Hier wende ich mich wieder an die Namen-Christen und sage ihnen: Hier ist eine schöne Gelegenheit, Eure Prinzipien anzuwenden: eine große Wohltat ist Euch erwiesen worden. Sie geht über Euren Körper hinaus, sie trifft Eure Seele; sie geht über dies Leben hinaus, sie umfasst die Ewigkeit; höher als Eure Gedanken überragt sie sie weit mehr, als die Himmel die Erde überragen. Diese Wohltat ist die Seligkeit; und wenn eine an sich selbst unendliche Wohltat irgend einem Umstand einen neuen Wert verdanken kann, so blickt auf den Wohltäter: es ist der, den Ihr beleidigt habt; blickt auf die Bedingung der Wohltat: es ist der Tod des Gerechten; blickt auf diesen Tod: es war ein freiwilliger. Die ganze Ordnung der Dinge scheint umgestoßen zu sein, damit Ihr gerettet würdet; und wenn der Ewige Euretwegen neue Himmel um Euch her ausgebreitet, oder Welten zu Tausenden vernichtet, oder allen Gesetzen der Natur Gewalt angetan hätte, so würde er für Euch unendlich viel weniger getan haben, als indem er das kleine Kind von Bethlehem in die Welt sandte. Wenn Ihr nicht an die Wirklichkeit dieses großen Werkes der Barmherzigkeit glaubt, so reden wir nicht mehr davon; die Kreatur kehre zu der Kreatur zurück, welcher sie für beschränkte Wohltaten eine beschränkte Dankbarkeit darbringen mag. Aber wenn Ihr daran glaubt! wenn Ihr daran glaubt, so ist es, nach Euren Grundsätzen selbst, klar, dass Ihr Euch selbst nicht mehr angehört, dass Ihr es nicht mehr seid, die leben sollen, sondern Christus, der in Euch leben soll, und dass Ihr das, was Ihr noch im Fleisch lebt, in dem Glauben an den Sohn Gottes lebt, der Euch geliebt hat. Niemand wird sich wundern, wenn Ihr ausruft: Wo sind diese Banden, dass ich sie trage? Wo ist dieses Kreuz, dass ich es auf mich nehme? Wo sind diese Mühseligkeiten, dass ich mit Freuden unter ihrer ruhmwürdigen Last erliege? Ich habe nur zwei Arme, einen Kopf, ein Herz: ach! in diesem beschränkten Kreise von Fähigkeiten ist meine Liebe eingeengt, meine Dankbarkeit gefangen; meine Lage steht nicht im Verhältnisse zu meinen Gefühlen; kaum würde der Verstand und die Flügel der Engel dem Drang meiner Dankbarkeit und der Erfüllung meiner Wünsche genügen! - Allein diese Sprache, meine Brüder, gleicht zu sehr der Ironie; lassen wir sie; und mögen die Werke dieser Christen zu ihren Gunsten sprechen.

Ach! meine Brüder, was werden bei diesem Ausrufe die Namen-Christen antworten, wenn schon die wirklichen Christen sich mehr oder weniger durch ihre Gedanken angeklagt fühlen, und wenn, nur zu oft, das einzige Zeichen von Erkenntlichkeit, welches sie eingestehen, darin besteht, dass sie tief über ihren Undank seufzen! Und doch, wer wollte leugnen, dass unter ihnen Hingebung und Erkenntlichkeit zu finden sind? Aber wenn das Leben der heiligsten Menschen noch betrübende Lücken darbietet, was wird es mit dem Leben der Namen-Christen sein? Welche Gleichgültigkeit! welche Mattigkeit! welche Untätigkeit! Wo sind, die Gewalt tun, welche allein, hat Jesus Christus gesagt, das Himmelreich an sich reißen? Als der Herr sich in dem Haus des Lazarus aufhielt, zog er die demütig zu seinen Füßen sitzende und seine Worte begierig auffassende Maria der geschäftigen Martha vor, welche sich viel zu tun machte, um ihn gut aufzunehmen. Ach! wenn, in Ermangelung der Marien, in Ermangelung dieser so seltenen Herzen, welche die Tiefe ihres innern Lebens für Augenblick ganz dem Treiben der Welt entzieht, wir wenigstens viele dieser Martha's hätten, welche gehen, welche kommen, welche für den Dienst des Herrn wirken! Namen-Christen, wir verlangen von Euch nicht ein Herz, worin der Gedanke Gottes unaufhörlich wohne, und welches in der Beschauung der göttlichen Dinge seinen höchsten Genuss finde. Aber zeigt uns wenigstens Eure Werke, aus Liebe zu Jesus Christus, aus Eifer für seinen Ruhm getane Werke. Zeigt uns, worin Eure Gerechtigkeit die Gerechtigkeit derjenigen übertrifft, welche ihn nicht aufgenommen haben. Ihr seid berufen, er selbst hat es gesagt, außerordentliche Taten zu vollbringen; der Christ hat nicht eine Natur, der er folgen, sondern eine Natur, die er bezähmen soll; er hat nicht zu tun, was der Welt gefällt, sondern, in manchen Fällen, auch das, was ihr missfällt; er hat nicht seine Pflichten zu erfüllen, sondern darüber hinaus zu gehen; er hat nicht gewisse Grenzen zu erreichen, sondern alle Grenzen zu überschreiten. Aber wenn der Kreis, in welchem er sich einschließt, so eng, der Geist, in welchem er handelt, so irdisch ist, wenn die Sittenregeln, welche er hinstellt, eben so gewöhnlich sind, als die der Menschen, welche nicht denselben Glauben wie er haben; wenn man diesen Christen nicht an der ganzen Art und Weise seines Lebens, an seinem Siegel, von dem natürlichen Menschen unterscheiden kann, so frage ich, wo ist seine Erkenntlichkeit? Wird es, um seiner in der weltlichen Menge gewahr zu werden, genügen, dass er die Kirchen besucht, dass er kommuniziert, dass er, mit einem Wort, die Anstalten der Kirche benutzt? Ohne zu untersuchen, in welchem Sinne er diese Dinge tut, sagen wir, dass sie wenig für ihn beweisen. Es handelt sich um Erkenntlichkeit; ist sie bei der Beobachtung noch geehrter Gebräuche, bei der Benutzung einiger äußeren Gnadenbezeugungen Gottes vorhanden? Von seiner Hand Wohltaten annehmen, aus denen man übrigens keine Früchte zu ziehen sucht, ist das Erkenntlichkeit? Zum Beweise seines Christentums dergleichen Tatsachen anführen, heißt das nicht, in die unheilvollen Irrtümer verfallen, welche unser Herr den Pharisäern vorwarf, und sich unter dieselbe Verdammung begeben, welche er über sie aussprach, als seine menschenfreundliche Stimme sie mit den schrecklichen Namen von Heuchlern und von Otterngezücht traf?

Allein anstatt vieler verschiedener Beweise von Erkenntlichkeit, lasst uns nur einen, meine Brüder, einen ganz besonderen fordern; auch hier werden wir den Namen-Christen zeigen, dass ihre Gedanken sie anklagen,

Wir haben es gesagt: eine Liebe, über die man errötet, ist nicht eine wirkliche Liebe; entweder müssen wir unserer Zuneigung entsagen, oder sie frei bekennen, und sie besonders da bekennen, wenn die Person, für die wir sie empfinden, in der Welt verkannt wird. Wir sind es nicht, die diese Grundsätze erfinden, es ist nicht das Christentum, welches sie auf die Erde gebracht hat; wir erkennen diese Ehre der Welt selbst zu, und als allgemein zugestandene Grundsätze gehören sie auch den Namen-Christen an.

Werden sie, in Bezug auf diesen letzten Punkt, durch ihre Gedanken angeklagt oder entschuldigt? Welche Frage! wird man sagen; der Name selbst, den sie tragen und den sie annehmen, ist die entschiedenste Antwort darauf; da sie sich Christen nennen, so erröten sie nicht über Jesus Christus.

Meine Brüder, es gibt in der Welt einen zweifachen Jesus Christus: einen geehrten und angesehenen Jesus Christus und einen gedemütigten und verspeieten Jesus Christus, wie einst im Prätorium. Der erstere ist der Begründer einer Kirche, welche, wie der Weinstock des Propheten, ihre weiten und fruchttragenden Zweige über alle Teile des Erdbaus ausgebreitet hat, der Begründer einer Zivilisation, welche die lügenhafte Zivilisation des Altertums weit hinter sich gelassen hat, der Gründer endlich einer Moral, welche selbst den Feinden des Christentums unwillkürliche Huldigungen entreißt. Diesen von der Welt anerkannten, von der Philosophie angenommenen Jesus Christus zu bekennen, darum handelt es sich nicht. Der andere, meine Brüder, ist das seit Gründung der Welt aus Liebe zu den Kindern Adams geopferte Lamm; der ist es, dessen Fleisch man essen und dessen Blut man trinken muss, um das Leben zu haben; der ist es, vor dem wir alle unsere Gerechtigkeit ablegen müssen, um bekleidet erfunden zu werden; der ist es, dem man nur folgen kann, indem man wie Simon von Cyrene die Last seines Kreuzes mit ihm teilt; das ist der Gott der Unmündigen, der Demütigen und der Kinder. Dieser Jesus Christus, meine Brüder, ist der Teil des Christen, diesen zu bekennen, darum handelt es sich, weil dieser unser Wohltäter ist und weil dieser Feinde hat. Sagt, oder lasset sagen, dass Ihr Christen seid; geht in die Kirchen, kommuniziert selbst; alles dies lehrt uns noch nicht, welchem von jenen beiden Jesus Ihr angehört, und wenn Ihr Euch nicht deutlicher erklärt, wird man glauben, Ihr seid für den ersteren, eine Meinung, welche heut zu Tage Niemanden kompromittieren kann. Allein bekennt zur Zeit und außer der Zeit, Jesus Christus, der Erlöser, das Lamm Gottes, welches die Sünden der Welt hinwegnimmt, und welches die Eurigen hinweggenommen hat; bekennet, dass Ihr aus Gnaden selig geworden seid, durch das Mittel des Glaubens; bekennet, was auf dasselbe hinauskommt, alle praktischen Konsequenzen, welche aus jenem Bekenntnisse hervorgehen; führt das Christentum ganz lebendig in Euer Leben ein, und Ihr werdet sehen, ob es nichts kostet, Jesus Christus zu bekennen. Dann werdet Ihr ihn wirklich bekannt haben; dann nur werden Euch Eure Gedanken nicht anklagen.

Wenn die Pflicht in dieser Weise charakterisiert wird, meine teuren Zuhörer, so ist es kaum nötig, zu untersuchen, ob sie erfüllt wird oder nicht. Erfüllt, meine Brüder! aber das will sagen, dass die ganze Gesellschaft, die ganze Christenheit, so nennt sie sich zum wenigsten, unaufhörlich von dem Namen Jesus Christus wiederhallt; das will sagen, dass die Erinnerung an seine Wohltaten die sichtbare oder verborgene Grundlage aller Unterhaltungen ist, die wirkungskräftige, bei allen Unternehmungen gegenwärtige, Idee, der Punkt, wovon Alles ausgeht, das Ziel, worauf alles gerichtet ist; das will sagen, dass von allen Nachrichten seine so sehr interessiere, als die Nachricht von dem Reiche Gottes, dass von allen Projekten seines die Gedanken so lebhaft beschäftige, als die, welche sich auf die Ausbreitung seines Reiches beziehen, dass von allen Interessen keines dem Interesse seines Ruhmes den Rang abzulaufen wage. Welche Bewegung, meine Brüder, welch heiliger Eifer, welche ausgedehnten Maßregeln, welche ausgebreitete Übereinstimmung, um die Macht des Heißgeliebten zu befestigen, sie wieder aufzurichten, wo sie erschüttert ist, um sie einzuführen, wo sie noch nicht hingedrungen ist! Welches Getöse, in dem sich jedes andere Geräusch verliert! welcher Name, gegen den alle andere Namen verschwinden! welches Schweigen aller Interessen und jedes Lebens vor diesem glänzenden und feierlichen, dem Herrn durch diese Menge dargebrachten, Zeugnisse, durch diese Menge, deren Glieder sämtlich bekannt haben, dass sie ihre Ewigkeit nur der Liebe verdanken, mit der Christus sie geliebt hat! Allein wenn es ein Schweigen gibt, meine Brüder, wisset Ihr, wer schweigt? Es ist der Glaube, die Freude und die Liebe! Dieser Glaube hat nichts zu erklären, diese Freude nichts zu besiegen, diese Liebe nichts zu segnen! Und wenn ein plötzlich auf die Erde gekommener Engel, der nicht wüsste, in welcher Weise wir leben, dieselbe durchzöge, um die Wirkungen, das Echo der großen Begebenheit, die ihn selig gemacht hat, zu beobachten, er könnte sich, wenn er nicht gerade des Sonntags in unsere Kirchen träte, einbilden, dass er sich unterwegs verirrt, dass dieses nicht der Erdball wäre, oder dass der Gott-Mensch auf irgend einen andern Planeten niedergestiegen sei, um dort, fern von den Blicken seines Vaters, die Schmach, die Todesqualen und den Tod zu erdulden!

Ich bin bereit, zuzugestehen, dass der Name Jesu so heilig ist, dass er nicht anders, als mit einem Gefühle von Ehrfurcht und Liebe ausgesprochen werden sollte, ein Gefühl, welches nicht in jedem Augenblick lebendig genug ist, als dass dieser schöne Name in jedem Augenblicke unseren Lippen auf die gebührende Weise entströmen kann. Ich bin bereit, zuzugestehen, dass, durch eine gerechte und ernste Strafe, der indiskrete gebrauch gewisser Worte auf eine unheilbringende Weise auf die Ideen zurückwirft, welche sie ausdrücken, und dass der Missbrauch der religiösen Sprache eine unanständige Vertraulichkeit bekundet, welche in unseren Beziehungen zu Gott seine Stelle finden soll. Ich gebe zu, dass alle innern und ernsten Gefühle, wie gewisse Pflanzen, mehr Schatten als Sonne verlangen, und, um mich eines oft wiederholten Ausdruckes zu bedienen, dass das christliche Gefühl seine Scham hat. Aber bedenket wohl, dass es zwei Arten von Scham gibt, und hütet Euch, sie zu verwechseln; alle beide gründen sich auf die Ehrfurcht, doch die eine auf die religiöse und die andere auf die menschliche Ehrfurcht. Und welches ist der Christ, ach! welches ist selbst der wahre Gläubige, der nicht unter seinen Erinnerungen die irgend eines treulosen Schweigens zählte, wo er hätte reden sollen, und die irgend einer feigen Verstellung, wo die Zeit eine strenge Freimütigkeit befahl! Auf wie viele Namen-Christen übt nicht die bloße Gegenwart eines Spotters, O, unwürdige Herrschaft! einen solchen Einfluss, dass ihre Lippen sich schließen, und dass die gläubigen Worte in ihre Brust zurückkehren, nicht aus Furcht vor der Profanierung, wie man es behauptet, sondern aus Furcht vor dem Profanierer? Und würde der, welcher in einem solchen Falle die Pein, die Verlegenheit, oder die ängstlichen Andeutungen, oder die dunkle Sprache und die kurzgefassten und errötenden Bekenntnisse dieser Namen-Christen beobachtete, würde der nicht versucht sein zu glauben, dass ihre Religion eine armselige Ketzerei, eine Laune der Fantasie, eine wunderliche Liebhaberei, eine Schwachheit ist, worüber sie erröten, ohne sich davon heilen zu können, eine Gedanken-Unanständigkeit, welche der gesellige Anstand in die geheimen Klubs der Eingeweihten zurückdrängt und deren lautwerden im Schoße einer gebildeten Gesellschaft er verbietet?

Allein das Bekenntnis, welches wir fordern, dies Geständnis, dies Zeugnis, besteht es denn wesentlich in Worten? Ist man nur Christ unter der Verpflichtung, sich in christliche Dogmatik einzulassen, und gibt es nicht tausend andere Arten, die besser sind als das Reden, den andern zu sagen: Ich bin Christ? Ist man, die wenigen Gelegenheiten ausgenommen, wo man berufen ist, Rechenschaft über seinen Glauben zu geben, und welche meistenteils nur einige Worte erfordern, ist man denn so oft berufen, selbst nur autorisiert, von Religion zu sprechen? Können selbst unter den Gläubigen die rein religiösen Unterhaltungen ohne Nachteil häufig und anhaltend sein? Aber die Gelegenheit, auf eine andere Art von Religion zu reden, bietet sich alle Tage. Man muss sich darin nicht täuschen: das Leben des Christen ist eine besondere Sprache, denn es ist ein besonderes Leben; es kann sich nicht gut an irgend einem Orte zeigen, ohne dahin den Wohlgeruch des Evangeliums mit sich zu führen, und sollte er alle seine Jahre hinbringen, ohne durch eine einzige Phrase die Gefühle zu erläutern, welche ihn dem Herrn verbinden, zweifelt nicht daran, sein Leben würde ihn verraten. Es würde immer in seinen Lebensregeln, in der Wahl seines Umgangs und seiner Vergnügungen, in dem, was er sagt, und in dem, was er nicht sagt, in seinen Urteilen und in seinem Schweigen, in seinen Weigerungen und in seinen Zugeständnissen, in seiner Zurückhaltung und in seinem Sichingeben, in dem allgemeinen Ausdruck seines Wesens, endlich bis in Einzelheiten hin, welche sich kaum vorhersehen oder nennen lassen, es würde in alle dem immer ein offenes Bekennen des Christentums und eben dadurch ein Beitritt zu seinem Herrn und ein Beweis der Dankbarkeit gegen ihn liegen. Nun, meine Brüder, selbst dieses stillschweigende, indirekte Zeugnis, selbst dieses zuweilen negative Bekenntnis, hat Jesus Christus Mühe, von dem Namen-Christen zu erlangen, weil es im Grunde nicht weniger verständlich ist, als das andere. Diese Art von Zeugnis, so vorteilhaft in sich, weil es, bei aller seiner Freimütigkeit, weder verletzend noch herausfordernd ist, vorteilhaft noch, weil es authentischer wie jedes andere ist, und endlich vorteilhaft, weil es über das ganze Leben wie eine gleichmäßige Farbe verbreitet ist, auch dieses Zeugnis wird verweigert; das Leben schweigt wie die Lippen; man lässt seinen Glauben nicht in den Taten durchschimmern; man verbirgt ihn sorgfältig; ach! was sage ich? verbirgt man wirklich etwas? Können wir wohl Glauben ein Gefühl nennen, welches, im Gegensatz zu allen andern Neigungen der Seele, statt die Gelegenheit zu suchen, sich zu zeigen, allen seinen Fleiß darauf verwendet, sich zu verstecken, und ist es nicht klar, dass man nur die Glaubensmeinungen so gut versteckt, die man nicht hat? Und die besondere Welt dieser vervielfachten Zeugnisse, welche der Welt Jesus Christus empfehlen und sie zu ihm hinführen sollten, wird beschränkt auf die mutigen und herzlichen Glaubensbekenntnisse einer kleinen Anzahl lebendiger Christen, welche aber ihrerseits, gedrängt durch die allgemeine Dunkelheit, ihr Licht leuchten zu lassen, und durch dieses große Schweigen, ihre Stimmen hören zu lassen, nur zu natürlicher Weise ihrem Lichte die flammenden Strahlen des Blitzes und ihrer Stimme den gefürchteten Ton des Donners geben. Liebevolle und menschenfreundliche Propheten, aber deren Wort, wenn man sich so ausdrücken kann, durch alle die Stimmen, welche fehlen, es zu unterstützen, angeschwellt, mit einer heiligen Rauheit in das Weltschweigen hineintönt, und, die zarten Gefühle, welche sie im Herzen tragen und welche sie zu reden getrieben haben, verleumdend, oft eine Huldigung der Dankbarkeit und einen Ruf des Mitleids in Drohungen und Bannflüche umwandelt!

Alles, was wir dargelegt haben, meine Brüder, begründet den Satz, dass die Namen-Christen mit den Weltmännern gemeinschaftlich gewisse allgemeine Grundsätze festhalten; dass sie etwas darin suchen, ihnen in den Dingen der Welt treu zu bleiben, aber dass sie, in Bezug auf das Christentum, diesen nämlichen Grundsätzen ganz ruhig untreu werden, so dass wir von ihnen mit St. Paulus sagen können, dass ihre eigenen Gedanken sie anklagen und sie verdammen.

Ich bitte sie jetzt dringend, sich einfach zu fragen: ist das Gesagte wahr oder ist es falsch? und nichts Anderes in Betracht zu ziehen. Wenig ist daran gelegen, woher ihnen diese Wahrheit kommt, wenn es nur Wahrheit ist. Wenn der Prediger einer persönlichen Autorität bedürfte, um sie ihnen zu sagen, so wäre es nicht an mir, zu reden. Die Pfeile, mit denen ich ihr Herz habe verwunden können, sind auf das meinige zurückgefallen; und wenn das, was ich erklärt habe, sie demütigt, so bin ich ihrer Verwirrung nicht fremd. Aber was haben wir Anderes zu tun, sie und ich, als das Haupt vor der Wahrheit zu beugen, und von ihr, nach dem, was wir sein können, das Wort des Friedens oder der Strenge zu empfangen! Hören wir gemeinschaftlich die Rute des Wortes; und um Frucht daraus zu ziehen, leihen wir das Ohr einer letzten Belehrung, welche sich in wenige Worte zusammenfassen lässt.

Wir haben den Menschen, in Bezug auf das Christentum, äußerst inkonsequent gefunden. Er ist es weniger, viel weniger in den andern Dingen. Woher kommt diese sonderbare Erscheinung?

Ich, für mein Teil, weiß keine andere Erklärung dafür, als diese: Es geschieht, weil es natürlich ist, für seine Freunde Teilnahme zu zeigen, geleistete Dienste anzuerkennen, stolz auf eine Wahl zu sein, die das Herz getan hat; allein weil es nicht natürlich ist, Christ zu sein. Christ zu sein, in dem unbestimmten und allgemeinen Sinn, von dem wir gesprochen haben, ist natürlich; aber konsequent, ernstlich Christ zu sein, ist nicht natürlich. Wie aber ist es denn mit den Menschen, welche ernstlich Christen werden, wenn dies nicht natürlich ist? Es geschieht durch eine übernatürliche Kraft, welche sich verschleiert, welche sich am häufigsten in natürlichen Mitteln verbirgt, welche durch dieselben Kanäle in die Seele fließt als unsere gewöhnlichen Gedanken, aber die deshalb nicht weniger übernatürlich ist in ihrem Ursprung und in ihrem Prinzip. In dem geistigen und wahren Sinne ist es gewiss, dass Niemand sagen kann, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist, als durch den heiligen Geist. Es ist Gott, der durch seinen Geist so viele Menschen davon überzeugt hat, die weder durch das Herz noch durch den Geist geneigter waren, als andere es zu glauben. Es ist Gott, der für den Menschen, in der Mitte des irdischen Glücks oder Unglücks, dieses unbekannte Bedürfnis nach dem Himmel herbeiführt, diesen Durst nach Vollkommenheit und Harmonie, diese edlen und heiligen Angstgefühle eines Herzens, dem Gott noch fehlte, diesen Anfang von Zärtlichkeit für einen Erlöser, der ihm bis dahin nur eine kalte Bewunderung eingeflößt hatte, endlich diese so wahre Ansicht der Welt und des Lebens, welche als Mittel- und als Stützpunkt des erschütterten Weltalls die in einem höchsten Gott vereinigte Liebe und Heiligkeit verlangt. Aber wer könnte alle die Wege zählen, die zu dem himmlischen Königreiche führen? Wer wollte den Seelen eine einzige Reise-Route nach der Stadt des Friedens vorschreiben? Die Güte Gottes ist reich an Ratschlägen und mannichfaltig in Mitteln. Niemals werden wir alle die Netze kennen, welche diese väterliche Güte und stellt; niemals werden wir die Unendlichkeit dieser Liebe ermessen. O Güte, welche alle geschaffenen Wesen umfasst und fest umschließt; o Liebe! übernehmt ihr es, an die Liebe glauben zu machen! zwingt, durch die edlen Mittel, welche euch verherrlichen und uns ehren, die menschliche Seele, ihre Freiheit unter euer wohltuendes Joch zu beugen! Überzeugt den Geist durch das Herz, das Herz durch den Geist! Lasst die ganze Schönheit eures Werkes vor denen erglänzen, welche nur noch die erdrückende Größe und die geheimnisvolle Dunkelheit desselben kennen! Wandelt in wahre Christen um, sowohl diese Namen-Christen, wie diese ungläubigen Geister, wie diese ungewissen Herzen, wie alle diese unsterblichen Kreaturen, für die die Hingebung des Erstgebornen mächtig bei euch seit den ersten Tagen der Welt spricht.

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