Vinet, Alexandre - Der Glaube auf Autorität.
Joh. IV,42.
„Und sprachen zum Weib: Wir glauben nun fort nicht um deiner Rede willen; wir haben selber gehört und erkannt, dass dieser ist wahrlich Christus, der Welt Heiland.“
Dieses Wort der Samaritaner, meine Brüder, ist uns oft aufgefallen als eine einfache und lebendige Darstellung der beiden Perioden, durch welche der Glaube der meisten Christen hindurchgehen muss. Die meisten haben angefangen, an Jesus Christus zu glauben, weil man ihnen von ihm gesprochen hat, und später haben sie geglaubt, weil Jesus Christus zu ihnen gesprochen hat. Wir können unter den Menschen zwei Arten religiösen Glaubens bemerken: die eine, vermöge Autorität, Tradition, Gewohnheit; die andere, vermöge unmittelbarer Überzeugung und Erfahrung; und bald findet sich die erstere oder die letztere allein bei einem Individuum vor, bald vereinigen und vermischen sich diese beiden Glaubensquellen. Wir unternehmen es heute, die eine und die andere zu charakterisieren, ihre gegenseitige Wichtigkeit abzuschätzen, die Beziehungen, in welchen sie zu einander stehen, zu bezeichnen. Mit zwei Worten, der Vergleich zwischen dem Glauben auf Autorität und dem unmittelbaren Glauben soll der Gegenstand dieser Rede sein. Dieser Gegenstand kann, auf den ersten Blick, als geeigneter für einen Lehrsaal, wie für eine Kirche erscheinen, und vielleicht macht Ihr Euch eher auf eine Abhandlung, als auf eine Predigt gefasst; allein wenn die Erbauung oder, mit anderen Worten, die Unterweisung der Seele, der Zweck und das Kennzeichen der Reden sein soll, welche man auf die Kanzel bringt, so wird Euch dieser Gegenstand nur durch die Art, in welcher ich ihn behandle, als nicht an seinem Platz erscheinen können; könnte ich ihn mit der ganzen Einfachheit behandeln, deren er fähig ist; ihm nichts nehmen von der geistigen Würze, die ihm eigen ist, und etwas Anderes in Euren Ohren zurücklassen, als das leere Geklirr der Unterscheidungen und Schlussfolgerungen der Schule! Übrigens ist der Gegenstand, welchen ich Eurer Aufmerksamkeit vorschlage, zarter Natur; die gegenwärtigen Umstände geben ihm ein unmittelbares Interesse. Wir bedürfen also, ich, um ihn Euch vorzutragen, Ihr, um ihn für Eure Erbauung zu verwenden, eines besonderen Beistandes des Geistes Gottes. Lasst ihn uns, meine Brüder, von ganzem Herzen darum bitten.
Der Glaube auf Autorität ist der Glaube, den wir gewissen Tatsachen auf das Zeugnis von Personen schenken, die wir für aufrichtig und gut unterrichtet halten. Es liegt darin, an und für sich, nichts Unvernünftiges; die Unvernunft würde im Gegenteil darin bestehen, keinen Gebrauch von diesem Mittel der Belehrung machen zu wollen; eine solche, bis auf das Äußerste getriebene, Prätention würde das ganze Leben paralysieren1). Man kann sogar annehmen, dass die göttliche Vorsehung, indem sie uns die unmittelbare Kenntnis vieler Tatsachen verweigerte, die zu kennen jedoch für uns wichtig ist, uns durch dieses Bedürfnis an einander hat binden wollen, wie wir durch so viele andere Bedürfnisse an einander gebunden sind; und gewiss gibt es wenige erhabenere Bedürfnisse, als das zu erkennen, und wenige edlere Bande, als das Band des gegenseitigen Vertrauens. Daher, die wechselseitige Notwendigkeit wahr zu sein; daher, die Heiligkeit des menschlichen Wortes und einer der größten Vorzüge unsers Daseins. Der Glaube auf Autorität ruht auf zwei Grundlagen, welche ihn in unseren Augen ehren müssen: dem Glauben, den wir in die Vernunft, und dem Glauben, den wir in die Moralität Anderer setzen. Allein wenn ein solches das Prinzip ist, lasst uns die Anwendung desselben sehen. In gewissen Fällen, und besonders in denen, welche sich unmittelbar auf unser Interesse beziehen, ist diese Anwendung richtig; in vielen anderen, in der Mehrzahl vielleicht, ist sie es nicht. Wenn es sich um eine spekulative Meinung handelt, so wird der Beitritt der Mehrzahl durch das lange Bestehen dieser Meinung, durch die Zahl derer, die sie verteidigen, zuweilen (sonderbarer Gegensatz!) durch die Neuheit derselben, durch die Vereinzelung ihrer Anhänger bestimmt; in vielen Fällen, durch die Namen derer, die an der Spitze stehen, durch den Lärm, welchen eine solche Meinung in der Welt macht, durch die Kühnheit, mit welcher sie sich geltend macht; dann auch wieder durch ihre Dunkelheit und durch die geringe Sorge, welche sie zu tragen scheint, sich weiter fortzupflanzen. Also, je nach unserem Charakter, bestimmen die verschiedenartigsten, die entgegengesetztesten Umstände abwechselnd unsere Wahl, und ein einziger gemeinschaftlicher Zug vereinigt alle diese verschiedenen Fälle: dieser besteht in der Vernachlässigung der wahren Quellen der Überzeugung und der wahren Bedingungen eines Zeugnisses; in dem Vorzug, welchen man bloßen Anzeichen, bloßen Vermutungen vor positiven Beweisen gibt; denn ich stelle nicht in Abrede, dass abwechselnd in dem langen Bestehen einer Meinung, in der Freimütigkeit derer, welche sie bekennen, in ihrer Bescheidenheit, ihrer Uneigennützigkeit nicht etwas liege, was den Geist günstig dafür stimmen, seine Aufmerksamkeit fesseln und ihm das Verlangen einflößen kann, weiter zu gehen und näher zu betrachten; allein bei bloßen Anzeichen stehen bleiben, sich nur an die ersten Eindrücke halten, das heißt ein in sich rechtmäßiges Mittel der Erkenntnis falsch anwenden; und Niemand unter Euch, meine Brüder, wird leugnen, dass sich nicht eine Menge von sogenannter individueller Überzeugungen auf die so eben von mir angegebene Art bildeten.
Verfälscht in ihrem Ursprung, sind die deshalb nicht immer weniger fest und weniger stark. Für immer erstaunenswerte Sache! Der Mensch, welcher so viel Mühe hat, zu glauben, und bei dem das bloße Wort glauben den Gedanken an ein Opfer und an eine Erniedrigung erweckt, der Mensch, welcher den entschiedensten Beweisen widersteht, sogar dem Zeugnis der inneren Gewissheit und des Instinktes, der Mensch, nachdem er seinen Glauben der Gewissheit verweigert, gibt ihn hin, wirft ihn weg an leere Vermutungen; er gefällt sich, vermöge einer Art verdorbenen Geschmacks, zu glauben, was er nicht geprüft hat; er glaubt es sogar um so mehr; er verliert sich mit einer Art von Wollust in einem Raum ohne Schranken; ungläubig, wo er glauben sollte, ist er begeistert, wo der Beweis fehlt, zeigt er sich des Fanatismus fähiger, als der Überzeugung. Und wenn es sich findet, dass er gut begründete Glaubensvorstellungen und zugleich Meinungen besitzt, die es nicht sind, so werdet ihr ihn geizig in Bezug auf die ersteren, verschwenderisch in Bezug auf die letzteren sehen. Das Absurde gefällt ihm, weil er es für das Übernatürliche und das Göttliche nimmt; aber zum Ersatz hält er das Göttliche für absurd. Ein und derselbe Mensch vereinigt oft den hartnäckigen Skeptiker und den fanatischen Blinden und Tauben in sich. Diese voreiligen und gewagten Glaubensmeinungen verbinden sich so genau mit der Seele, dass sie nicht mehr davon zu trennen sind; es entsteht eine Geistesbefangenheit, eine fixe Idee, ein ernster Wahn, den nichts irre macht, den die Einwürfe empören, den der Widerstand verstärkt, den die Zeit verhärtet, dem alles zum Beweis und zur Bestätigung dient. Die Fabeln des Altertums geben uns das Bild eines solchen Zustandes in jenem Unglücklichen, der in dem Reiche der Schatten Jahrhunderte hindurch damit beschäftigt ist, eine Wolke zu verfolgen. Die Aufopferung fehlt diesen erborgten Überzeugungen nicht: je weniger sie wert sind, desto mehr kosten sie; sie opfern ihrem imaginären Gegenstand die angeborenen Überzeugungen, die unwiderstehlichsten Gefühle der menschlichen Natur, die teuersten Interessen des Herzens und des Lebens, die unverletzlichsten Verpflichtungen, die heiligsten Gesetze der Gesellschaft, die Erinnerungen und die Hoffnungen, die Gegenwart und die Zukunft, das Leben selbst, welches sie mehr wie einmal für eine Idee hingeben zu können wünschten, die ihnen tausend Leben wert zu sein scheint.
Ich habe nicht nötig zu sagen, dass das Christentum einen Glauben solcher Natur mit Schauder zurückstößt; dass, in dieser Art geglaubt, es sich nicht wirklich geglaubt erachtet, und dass es eben so gerne und vielleicht lieber den Unglauben mag, als einen solchen Beitritt. Aber, meine Brüder, wir müssen weiter gehen. Ich sehe einen vernünftigeren Glauben, eine besser, jedoch immer auf dem Weg des Zeugnisses, erlangte Gewissheit voraus. Dieser Glaube genügt auch noch nicht, er ist auch noch nicht der wahre. Mögt Ihr an die Religion glauben, weil Eure Väter daran geglaubt haben, weil man um Euch herum daran glaubt, weil die Verfassung des Landes, weil der Staats-Haushalt daran glaubt (ärmliche Beweise allerdings), oder mögt Ihr daran glauben, weil Euch die Wissenschaft die Beweise der Authentizität der Schrift entwickelt hat, oder weil die Kirche, in der Ihr geboren seid, Euch in ununterbrochenem Lauf von dem Fuß des Kreuzes herzufließen und Euch unaufhörlich die Wasser der Quelle selbst herbeizuführen scheint, ich sage, dass wenn, bei allen diesen Annahmen, dieser Glaube etwas anderes ist, als die Vorbereitung zu einem mehr persönlichen Glauben, wenn Eure Überzeugung nicht andere Grundlagen erlangt, wenn Ihr nicht damit endigt, das auf das innere Zeugnis zu glauben, was Ihr angefangen habt, auf das Zeugnis Anderer zu glauben, so vereinigt Ihr, bei der rechtmäßigsten, der festesten und, in mancher Hinsicht, der wirksamsten Überzeugung, nicht die Bedingungen des wirklichen Glaubens in Euch.
Man muss bei der religiösen Überzeugung den Akt an und für sich und sein Objekt unterscheiden. Der Akt ist, in der günstigsten Voraussetzung, nichts anderes, als eine vernünftige Unterwerfung unter gut gestellte Beweise; und auf Dinge der Moral und der Religion angewendet, setzt er einen gewissen Eifer der Vernunft, eine gewisse Redlichkeit der Absicht, einen gewissen Ernst der Seele voraus. Man gibt sich nicht diesen Untersuchungen hin, man fährt darin nicht fort, man verfolgt sie nicht bis zu einem Resultat, ohne sich mehr oder weniger in jener so eben bezeichneten Gemütsrichtung zu befinden, und jene Gemütsrichtung ist allerdings schon eine erste Segnung. Sie würde die erste und die letzte zu gleicher Zeit, sie würde Alles sein, wenn es sich für den Glaubenden nur darum handelte, seine Unterwerfung unter Offenbarungen Gottes irgend einer Art zu beweisen, und auf das Zeugnis der Vernunft Dinge zuzugestehen, welche die Vernunft übersteigen. Allein dem ist nicht so. Indem uns Gott Dinge zu glauben gab, hat er nicht bloß unseren Gehorsam oder, besser gesagt, unsere Vernunft dadurch üben wollen, sondern er hat uns mit gewissen Tatsachen in Berührung setzen wollen, die bestimmt sind, und umzugestalten, unser ganzes Wesen zu erneuen. Er hat in unserem Herzen, durch die Betrachtung dieser Tatsachen, gewisse Gefühle erzeugen und Wurzel fassen lassen wollen, durch welche unser ganzes Leben umgewandelt werden soll. Durch eine bewunderungswürdige Vorsehung sind die durch das Evangelium offenbarten Tatsachen zugleich außer uns und in uns, zugleich äußere und moralische, göttliche und menschliche. Wir werden selig aus Gnaden (da ist Gott), allein durch das Mittel des Glaubens (da sind wir selbst); dieselbe Tatsache erfüllt sich zweimal ganz und gar: ganz und gar auf Golgatha, ganz und gar in unserem Herzen. Wir sind Mitarbeiter Gottes in dem Werk unserer Seligkeit: er gibt die Substanz und wir die Arbeit, oder vielmehr, er gibt Alles ohne Rückhalt; allein er führt seine Absicht zugleich durch sich und durch uns aus. Mit einem Wort, es gibt eine Wahrheit außer uns, allein es ist notwendig, dass sie Wahrheit in uns werde, dass unser Herz sich damit verbinde, sie sich einverleibe, sie in sich und sich in sie umwandle. Es kann aber dasselbe durch diese Wahrheit nur nach der Natur dieser Wahrheit umgestaltet werden. Es wird nicht erneuert durch das nackte Glauben, sondern durch den Gegenstand des Glaubens. Was sie ist, wird es. Das ist es, was, in der Religion, glauben heißt.
Und wie könnte es anders damit sein? Wie könnte der Zweck der Religion in der bloßen Unterwerfung des Geistes bestehen? Wie könnte sich ein Prinzip der Wiedergeburt in dem befinden, was nicht die Tiefen der Seele erreicht, in dem, was sie nur oberflächlich berührt? Bedenkt wohl, dass, bei dieser Annahme, die dem Christentum fremdesten Dogmen, die willkürlichsten, die gleichgültigsten Dogmen, vorausgesetzt, dass sie nicht entschieden unmoralisch wären, den Zweck der Religion erfüllen würden, und dass, wenn es sich nur um diese intellektuelle Unterwerfung handelte, Gott uns mit bedeutend geringeren Kosten selig machen konnte. Allein er hat unserem Geist und unserem Herzen eine Religion geben wollen; eine Religion, die eine Wahrheit unserer inneren Existenz, ein Zustand unserer Seele, ein Teil unseres Lebens werden könnte. Der Gegenstand des Glaubens war daher nicht gleichgültig, und folglich sollte der Glaube auf Autorität nur dazu dienen, einen Glauben in uns hineinzuleiten, den ich unmittelbar, persönlich nenne, und den ich übernatürlich nennen würde, wäre hier der geeignete Ort, es zu tun.
Allein das menschliche Prinzip, auf welchem der Glaube auf Autorität beruht, hält sich nicht leicht in seinen Grenzen. Die Menschen mögen es gerne, dass man für sie glaubt, denn in dieser Art kann man mit Recht den Glauben der meisten unter ihnen bezeichnen; sie haben ihn nicht aus der ersten Hand, er gehört ihnen nicht; sie haben nicht den Mut, an die Wahrheit zu glauben; sie glauben an die, welche dieselbe glauben. Es genügt ihnen nicht, dass man ihnen die Quellen des Glaubens angegeben hat: sie wollen, dass man den Gegenstand desselben feststelle. Eine Autorität, sie sei regelmäßig oder unregelmäßig, bildet sich unter der Leitung dieser Schwachheit, und ich glaube mich richtig auszudrücken, wenn ich sage Schwachheit; denn in jeder Sphäre sind es die Kleinen, welche die Größe der Großen machen, und die Kraft von einigen ist nur das Resultat und, so zu sagen, die Summe der Schwachheiten einer größeren Anzahl. Die Autorität erzeugt sich nicht selbst, sie wird erzeugt, und was man auch von ihren usurpatorischen2) Instinkten reden mag, ihre erste Begründung war keine Usurpation. Unter verschiedenen Formen, Ansprüchen oder Vorwänden wird eine Autorität gebildet, welche, indem sie den Sinn des offenbarten Wortes bestimmt, dadurch selbst den Gegenstand des Glaubens feststellt. Sie macht nicht immer den Anspruch, ihn unbedingt festzustellen, ihn den Gläubigen aufzudrängen; allein diese unbedingte Herrschaft, welche sie sich nicht anmaßen würde, man drängt sie ihr auf; man zwingt sie, zu befehlen und vorzuschreiben; man verlangt von ihr nicht Aufklärung, sondern Gesetze. Sie widersteht nicht lange; wenn es für die Einen süß ist, zu gehorchen, so ist es nicht weniger süß für die Andern, zu befehlen; sie verwandelt die ganze, von den schwachen Seelen aufgegebene, Unabhängigkeit in Gewalt für sie, und bald geht ihre Macht und ihr Einfluss viel weiter, als man es gewünscht und vorhergesehen hat. Die Wünsche der Schwachheit haben den Ehrgeiz zum Mitschuldigen.
Der Gegenstand des Glaubens, werdet Ihr sagen, ist deshalb noch nicht verändert. Ich glaube, dass dies ein Irrtum, ein großer Irrtum ist; denn ich sehe, dass überall, wo die religiöse Autorität sich eine feste Grundlage und, ich könnte sagen, eine rationelle Existenz hat geben wollen, da hat sie sich für inspiriert und folglich für unfehlbar erklärt, und also durch diese Tatsache anerkannt, dass ein Körper oder eine Ordnung, oder ein Mensch sich, als Haupt einer Lehre, nur unter der Bedingung in seiner Stellung behaupten kann, dass er die Wahrheit individualisiert, das heißt, dass er ihr mehr oder weniger seinen eigenen Charakter aufdrückt. Allein ich nehme an, dass der Gegenstand des Glaubens ganz und rein bleibe. Was hilft es, wenn der Glaubende sich nicht davon nährt? Was hilft es, wenn er seine Mandatarien3) beauftragt hat, an seiner Stelle daran zu glauben? Was hilft es, wenn es die Kirche ist, die daran glaubt, und nicht ihre Glieder? Was hilft es, wenn mein ganz negativer Glaube nur eine Verschmelzung, ein Aufgehen meiner selbst in allen ist? Dies ist es aber, was nur zu oft geschieht, sei es in Folge jener Art von Trägheit des Herzens, von der wir gesprochen, sei es in Folge dieses, jeder Gewalt natürlichen, Streben, ihre Befugnisse weiter auszudehnen und zu überschreiten. Selbst unwillkürlich hält die Autorität den Glauben bei sich zurück und verhindert sein Fortschreiten. Man glaubt weniger an die religiöse Wahrheit, als an die Person oder den Körper, welcher der Aufbewahrer derselben geworden ist. Umsonst werdet Ihr sagen: Indem wir den Gegenstand des Glaubens bestimmten, haben wir ihn nicht verborgen, haben wir ihn nicht der Betrachtung entzogen; Jeder kann sich damit beschäftigen und davon nähren. Hütet Euch, Zugeständnisse zu machen, die Ihr nicht bestätigen könnt. Es ist in dem, was wir den Gegenstand des Glaubens nennen, in der Lehre des Evangeliums, eine Kraft enthalten, welche diejenigen, die sie ernstlich prüfen, umwandelt; es geht daraus eine vollständige, mit ihren Beweisen, ihren Ansprüchen, mit allen ihren Vorgängen, wie mit allen ihren Folgen, versehene Religion hervor, welche Eurer entbehren kann; die mit dem Herzen betrachtete Religion beweist sich selbst, legt sich selbst aus; sobald sie diese Kraft einmal entwickelt hat, gibt es keine Rückkehr; das heißt, sobald man einmal frei geworden ist, kehrt man nicht wieder in die Knechtschaft zurück. Wenn der Gläubige sich dann nicht immer beeilt, das Joch abzuschütteln, welches er getragen hat, so geschieht dies, weil er einmal nicht die Notwendigkeit dazu fühlt und weil andererseits ihn nichts dazu anreizt; allein ohne das Gefühl der Freiheit zu haben, ist er dennoch frei; gleich wie der Sklave, dem man leise und ohne dass er es gewahr geworden, die Kette abgenommen hat, sich noch Sklave glaubt, aber der, bei seiner ersten Bewegung, entdeckt, dass er es nicht mehr ist. Auch wird die Autorität überall, wo sie Herrin ist und es bleiben will, die Unabhängigkeit des Studiums der Religion auf möglichst enge Grenzen beschränken, sie wird ihm die göttlichen Dokumente entziehen, oder sie mit Dokumenten von seiner Hand umgeben, welche, wenn man so sagen darf, die Blicke abstumpfen und gewisse Wahrheiten verschleiern werden, solche Wahrheiten, die, vermöge ihrer Natur, weiter in die Seele eindringen, und dort das Gefühl und das Verlangen der Unabhängigkeit lebhafter wecken. Sieht sich die Autorität bedroht, steht sie ihre Umwallung durchbrochen, so wendet sie sich ganz und gar gegen die Bresche; sie vernachlässigt die inneren und, im eigentlichen Sinne, religiösen Wahrheiten, deren Aufbewahrerin sie ist, und hält sich an die äußeren Dogmen, das heißt, an die, welche ihr Recht, zu lehren und vorzuschreiben, in sich begreifen; und bald besteht in der Unterwerfung unter die Autorität in ihren Augen die ganze Religion, in der Notwendigkeit der Autorität ihre ganze Philosophie, in dem Beweis der Autorität ihre ganze Theologie; und der Mensch, unaufhörlich von dem Hauptsächlichen durch das Nebensächliche abgeleitet, bringt sein Leben damit hin, ein Haus zu bauen, das er niemals bewohnen wird. In allen Verhältnissen wird es die Autorität nicht gerne sehen, dass die Religion ihre Angelegenheiten selbst besorge, ihre Sache selbst führe und ihre innere Gewissheit entfalte. Ihrem ersten Auftreten treu bleibend, würde sie gerne, wenn sie könnte, alle Dinge als schwerer zu glauben erscheinen lassen, wie sie es von Natur sind; sie wird ein Verdienst daraus machen, dass man dem beistimmt, was zurückstößt; sie wird von zwei entgegengesetzten Notwendigkeiten gedrängt: von der, das religiöse Leben anzuregen, welches notwendiger Weise ein inneres Leben ist, und von der, die Tatkraft desselben in gewissen Grenzen zurückzuhalten; denn es ist klar, dass der in Sehen verwandelte Glaube die Autorität in dem Herzen des Gläubigen entthront, nicht immer in formeller Art, aber doch im Prinzip und in der Wirklichkeit. Derjenige, welcher auf diese Art glaubt, hat, was man auch darüber sagen, und was er auch selbst darüber denken mag, vermöge jener Tatsache aufgehört, von der Autorität abzuhängen.
Der in Sehen verwandelte Glaube! Wenn ich diese Worte ausspreche, vergesse ich nicht die durch Jesus Christus über diejenigen ausgesprochene Segnung, welche nicht sehen und doch glauben, noch die Erklärungen von St. Paulus, dass wir hier auf Erden nicht im Schauen, sondern im Glauben wandeln, und dass in jener Welt der Glaube in Sehen verwandelt sein wird, was zwischen dem Glauben und dem Sehen einen direkten Gegensatz voraussetzt; allein der Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Allerdings ist der wiedergeborenen Seele das Sehen einer Ordnung von Dingen, welche mit der in ihr wiederhergestellten moralischen Ordnung übereinstimmend ist, für eine andere Welt vorbehalten, und hierin besteht ja ein Teil ihrer Prüfung hienieden; allerdings werden ihr alsdann auch viele Geheimnisse der Vorsehung enthüllt werden, und in diesem Sinne wird sie nur dann erst sehen. Alleine ist deshalb nicht weniger wahr, dass schon hienieden das Sehen der ideale Charakter des Glaubens ist; dass alles, was diesen Charakter nicht erreicht, streng genommen, nicht der Glaube ist; dass der Glaube, der nicht Sehen ist, eine Chimäre ist, und dass, in einem moralischen und geistigen Sinn, man sehen, betasten und schmecken muss, um zu glauben. Der Glaube ist, nach dem Ausdruck von St. Paulus, die lebendige Vorstellung, oder, um besser die ganze Kraft seiner Ausdrücke wiederzugeben, die Substanz von dem, was man hofft. Das Evangelium ist für uns nur eine Wahrheit, wenn es eine Realität für uns ist, wenn es, schlafende Kräfte in uns weckend, gefühlte Lücken ausfüllend, tausend Anfänge vollendend, tausend Rätsel lösend, unserem Dasein endlich einen Sinn gibt.
Erinnert Ihr Euch der Gebräuche der Gastfreundschaft im Altertume? Bevor man sich von dem Fremden trennte, zerbrach der Vater der Familie ein Siegel von Ton, auf welchem sich gewisse Zeichen befanden, und gab die eine der Hälften seinem Gast, während er die andere für sich behielt; nach Jahren erkannten sich jene beiden, wieder zusammengebrachten und von Neuem verbundenen Teile, so zu sagen, wieder, bewirkten die Wiedererkennung derer, welche sie sich darreichten, und, ältere Beziehungen verbürgend, bildeten sie deren neue. Eben so verbindet sich mit den, in dem Buche unserer Seele begonnenen Linien die göttliche Ergänzung derselben von Neuem; eben so entdeckt unsere Seele nicht die Wahrheit, sondern erkennt sie dieselbe wieder; eben so schließt sie mit Gewissheit, dass ein, für den Zufall und für die Berechnung uns mögliches, Zusammentreffen das Wert und das Geheimnis Gottes ist, und nur dann geschieht es, dass wir wirklich glauben. Sagen wir es noch einmal: Das Evangelium ist geglaubt, sobald es für uns aus der Stellung der äußern Wahrheit in die Stellung der inneren Wahrheit, und, wenn ich es zu sagen wage, des Instinktes übergegangen ist; sobald es uns kaum möglich ist, seine Offenbarung von den Offenbarungen unseres Gewissens zu unterscheiden; sobald es in uns eine Gewissens-Tatsache geworden ist. Und diese Kennzeichen sind so weit entfernt, es in die geringste Verbindung mit dem Fanatismus zu setzen, dass im Gegenteil gerade diese Kennzeichen es davon unterscheiden und davon entfernen. Der Fanatismus ist der vortrefflichen Logik des Evangeliums ganz fremd; er kann weder Andern noch sich selbst jene innersten Erfahrungen, jene unverwerfliche Bestätigung der. Tatsachen durch die Tatsachen, anführen; der Fanatiker ist blind; er glaubt, weil er nicht steht; der Christ glaubt, weil er gesehen hat.
Das ist der Punkt, wohin man gelangen muss, meine Brüder, sei es, dass man durch den Glauben auf Autorität hindurchgegangen, sei es, dass man, durch eine besondere Vergünstigung, dieses Noviziates4) überhoben worden ist. Dieser Dispens5) ist mehreren bewilligt. Das Evangelium, mit dem sie unvermutet zusammentreffen, hat ihnen Alles gesagt, hat ihnen Alles gelehrt; es ist für sie die erste und die letzte Autorität gewesen. Kommt nach diesem ein Kirchenverband, oder ein Leiter der Meinung, und führt ihnen keine Autorität an, so können sie antworten, wie man einem Diener antwortet, der den Auftrag seines Herrn zu spät ausrichtet: „Du musstest früher kommen; inzwischen ist dein Herr selbst gekommen und hat Alles gesagt; ich kann durch dich jetzt nichts mehr erfahren.“ Die Antwort würde logisch sein; doch wird sie selten gegeben; man hat das Bedürfnis, sich einer Gemeinde anzuschließen; man nimmt sie mit ihren Kennzeichen und selbst mit ihren Prätentionen6) an, sich wenig darum kümmernd, dass diese Prätentionen den abstrakten Begriff der Freiheit verletzen, vorausgesetzt, dass sie nicht das Leben, welches man in sich trägt, kompromittieren. Bei diesem Anschein von Unterordnung bleibt man nichts desto weniger frei, und steht man in der Wirklichkeit nur unter Gott. Andere, meine Brüder, und ihre Zahl ist größer, gehen durch den Glauben auf Autorität hindurch, um bei dem Glauben auf Erfahrung anzugelangen, und sie gelangen mit mehr oder weniger Schnelligkeit und Glück dabei an, je nach dem Charakter der Autorität, welche sie beherrscht. In gewissen Fällen können sie sich nur mit der Wahrheit verbinden, indem sie sich von der Autorität trennen; in anderen führt sie die Autorität selbst zur Wahrheit; am häufigsten endlich sind sie ans Ziel gebracht, ohne dass sie es merken, obgleich die Ortsveränderung wirklich stattgefunden hat; doch die Ufer, wo sie landen, unterscheiden sich so wenig von denen, welche sie verlassen haben, dass nichts sie daran erinnert, wenigstens während langer Zeit, dass sie den Ort gewechselt haben. Sie fahren fort zu ehren, was sie immer geehrt haben; zu gehorchen, ohne vorauszusehen, dass ein Augenblick kommen kann, wo der Gehorsam nicht mehr möglich sein wird; innerlich frei, was liegt ihnen da an einer äußeren Freiheit? Worin stört sie eine Autorität, welche sich bis hierher nicht zwischen sie und ihren Herrn gestellt hat?. Was nützt eine Rechtsverwahrung und eine Unabhängigkeits-Erklärung?
Mit ernsteren und direkteren Interessen beschäftiget, kommt ihnen nicht einmal der Gedanke an einen solchen Schritt. lebende Tempel, an welche der Baumeister die letzte Hand gelegt, seiner Blicke, die alle Teile seines Werkes umfassen und durchdringen, gewiss und dadurch befriedigt, denken sie nicht daran, das in Zukunft unnötige Gerüst einzureißen, welches zu ihrem Bau gedient hat. Sei es, dass sie seiner schonen, um es für die Dienste zu ehren, welche es ihnen geleistet, sei es, dass es ihnen nicht in den Sinn kommt, seiner nicht mehr zu bedürfen, sie lassen es um sich fortbestehen, und bewahren es sogar mit Liebe.
Das Alleinstehen ist jedoch weder der natürliche Zustand des Menschen, noch des Christen. In jedem Sinn und von allen Sphären kann man sagen: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Der Glaube erwärmt sich durch die Berührung mit einem anderen Glauben; und indem sich der Christ von dem Glauben auf Autorität zu der persönlichen und auf Erfahrung begründeten Überzeugung erhebt, befindet er sich in Verbindung mit allen denen, welche sich mit ihm dazu erhoben haben. Eine Autorität folgt der anderen: es ist die Autorität des Beispiels und der Liebe; nennen wir sie besser: es ist der göttliche Geist, der aus all dem vereinigten Glauben ein heiliges Feuer bildet, das er unaufhörlich anfacht. Jene Christen sind Menschen, sie haben ihre Leiden, sie fühlen sie, sie vereinigen sie alle in ein Ganzes; sie trösten sich, sie ermutigen und sie stärken sich in der Einheit; innerhalb des allgemeinen Bandes, welches sie als Brüder aller Kinder Adams umschlingt, schließen sie unter sich ein engeres und besonderes Bruderbündnis. So entsteht die allgemeine oder katholische Kirche, Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit, vereinigt unter einem einzigen Haupt, und stark durch eine unüberwindliche Einigkeit, weil seine äußere Gewalt der Vermittler derselben gewesen ist. Zu den Füßen Christi sitzend, und ihn allein hörend, sagt sie zu der ganzen sichtbaren Kirche, wie ehedem die Samariter zu jenem Weib: „Wir glauben nun fort nicht um deiner Rede Willen; wir haben selber gehört und erkannt, dass dieser ist wahrlich Christus, der Welt Heiland.“ Oder auch, wie der heilige Mann Hiob: „Ich hatte von dir reden gehört mit meinen Ohren; nun aber hat dich mein Auge gesehen.“ Und diese Stimme, meine Brüder, ist hier nur deshalb die Stimme von Allen, weil sie zunächst der Gedanke, das Gefühl, die Erfahrung jedes Einzelnen ist.
Folgern wir jedoch nicht aus dem Vorhergehenden, dass die Autorität in dem Reich der geistigen Dinge durchaus keine rechtmäßige Stelle finde, und meinen wir nicht, ihr jede Wirksamkeit zu entziehen. Zunächst würde unser Unternehmen ein vergebliches sein. Die Autorität hat ihre Wurzeln in unserer Natur und in der allgemeinen Bestimmung des menschlichen Geistes. Eben so wie wir in Bezug auf das Zeitliche gesellig geboren werden, eben so werden wir in Bezug auf das Geistige glaubend geboren. Wir finden, bei unserem Eintritt in die Welt, eben so gut eine Oberherrschaft für unsere Gedanken, wie eine Oberherrschaft für unsere Freiheit. Wir finden Glaubensvorstellungen vor, wie wir unseren Stand vorfinden. Wir müssen, bis dass es besser wird, einstweilen die Ordnung der Dinge und der Ideen annehmen, inmitten welcher wir zu leben anfangen. Die erste, und lange Zeit die einzige, Autorität für uns ist die unserer Eltern; sie geben uns ihre Moral, ihre Religion, wie sie uns unsere Nahrung geben. Unsere innere Freiheit, die Persönlichkeit unseres Gedankens, entwickelt sich nur langsam; und, über den Kreis der Familie hinaus, findet sie einen anderen Kreis, der, wenn auch weiter, nicht weniger fest geschlossen ist. Die Gesellschaft ist eine andere Familie, wo gewisse erbliche oder konventionelle Meinungen der Bildung - unserer eigenen zuvorkommen, und sich lange Zeit dem Aufschwung unserer Individualität widersetzen. Man hat nur zu viel Grund und Gelegenheit gehabt, die Herrschaft zu beklagen, welche die Nachahmung, die eine Verwandlung Aller in jedem Einzelnen ist, und die Gewohnheit, die uns an uns selbst bindet und unsere Gegenwart despotisch an unsere Vergangenheit kettet, auf die innere Freiheit ausüben; und man kann den Hang, welcher uns abwechselnd, oder selbst gleichzeitig, zu einer wilden Freiheit oder einer blinden Unterwerfung hinzieht, als ob der Mensch sich nie zu rechter Zeit zu unterwerfen noch frei zu machen wüsste, ich sage, man kann diesen Hang nur als ein Symptom7) des Verfalles ansehen. Allein, nach Allem, muss man sich doch fragen, was aus den individuellen Leidenschaften und Einbildungen entstehen würde, wenn der neugeborene Geist nicht in ganz fertige Meinungen, gleichsam wie in eine ruhige und bequeme Wiege, niedergelegt würde. Man fragt sich, ob der Glaube an die Autorität nicht das notwendige Noviziat jedes Verstandes und jedes Gewissens ist, und ob die menschliche Freiheit, um sich als solche zu erweisen, nicht nötig hat, den Zusammenstoß mit jenen massenhaften Meinungen und den Widerstand jener Macht des Beispiels zu erfahren, welche abwechselnd, und mit einer Art von Gleichgültigkeit, das Gute und das Schlechte, den Irrtum und die Wahrheit aufdringen. Man fragt sich, ob die Individuen, ich meine die Menschen, so wie sie die Sünde gemacht hat, nicht, vorausgesetzt sie stießen auf keinen solchen Widerstand, Alles zusammengenommen, schlechter, und sich selbst und Andern verderblicher sein würden, als sie es unter der ungerechten Herrschaft einer Autorität sind, welche am Ende doch einige ihrer Eingebungen in der Sorge für das allgemeine Wohl hat schöpfen müssen.
Große Fragen, welche wir nur eben andeuten. In einem christlichen Land lebend, wollen wir lieber der Autorität das Wort reden, indem wir Euer Glück rühmen, Ihr, die Ihr bei Eurer Geburt eine von den Ausströmungen der Wahrheit ganz geschwängerte Atmosphäre eingeatmet habt; die Ihr mit der Muttermilch die Ehrfurcht und vielleicht die Liebe für die evangelische Offenbarung eingesogen; Ihr, die Ihr überall in den Einrichtungen und in den Sitten deutlichen Spuren davon begegnet seid; Ihr, denen das Wort Gottes bei dem Beginn Eures Weges geöffnet war; Ihr besonders, die Ihr das Christentum in dem ganzen Leben Eurer Eltern verwirklicht und eben dadurch bewiesen gesehen habt. Allein hütet Euch, indem Ihr bei diesem ersten Vorzug stehen bleibt, ihn zu einem vergeblichen zu machen. Macht nicht aus einem Mittel ein Hindernis, und aus einer Segnung ein Unglück. Nehmt nicht den Vorhof für das Heiligtum. Der Glaube, meine Brüder, ist ein Leben, und in diesem auferlegten Glauben habt Ihr nicht das Leben. Rechnet darauf, dass Ihr nur das Leben und folglich die Seligkeit (denn dies sind zwei Namen für dieselbe Sache) haben werdet, wenn Euer Herz die Wahrheit aufgenommen hat, wie es den Schmerz und die Freude aufnimmt; wenn sie nicht mehr ein bloßer Eindruck ist, den Ihr durch irgend ein Organ empfangt, sondern ein Organ selbst Eures moralischen Wesens; wenn sie den Standpunkt für Eure Urteile, und den allgemeinen Antrieb für Eure Handlungen bildet; wenn, auf den höchsten Punkt Eures Daseins gestellt, sie auf den ganzen Abhang drückt, und so den Lauf Eures Daseins bestimmt, gleich wie eine durch den Himmel gespeiste Quelle auf die ihr unmittelbar entströmenden Fluten drückt, und durch diese auf alle andere, bis zum letzten Ziel, welches sie erreichen sollen. So lange Ihr nicht das Bewusstsein von einem solchen Glauben habt, so sagt nicht, dass Ihr glaubt, so sagt nicht, dass Ihr Christen seid; schickt Euch zu neuen Fortschritten an, oder vielmehr, erhebt Euch von dem bequemen Sitz, auf welchem Ihr ruht, und geht; geht und sucht die Wahrheit auf; wohl Euch, dass man Euch den Weg dazu gezeigt hat; wohl Euch, dass Ihr sicher seid, sie zu besitzen, wenn Ihr es wirklich wollt!
Eine Ermahnung zur Freiheit erscheint in dem Jahrhundert, worin wir leben, auf den ersten Blick als etwas Sonderbares. Wenige, sollte man meinen, bedürfen derselben und werden erwarten, dass man eine solche an sie richte. Dennoch glaube ich, dass, wenn die Freiheiten, nach denen man mit so viel Eifer und sogar Heftigkeit streben sieht, sich von vorn herein umgeben von den Dornen der Verpflichtungen zeigten, wir nicht so viele finden würden, welche ihnen nachjagen. Die Freiheit, welche den Gegenstand dieser Rede bildet, kündigt sich gleich als eine Verpflichtung und eine Verantwortlichkeit an. Die Tätigkeit, die Anstrengung und die Beschwerlichkeit sind die ersten Kennzeichen, welche bei ihr hervortreten; sie schließt die größten Unterwerfungen in sich; sie ist, unter dem Namen der Freiheit, die höchste Knechtschaft. Die Unterwerfung unter die Autorität, in Bezug auf die Religion, verbirgt im Gegenteil, unter dem Namen des Gehorsams, eine zu reelle Freiheit; es ist freilich eine sehr traurige Freiheit, die Freiheit, durch sich selbst nicht zu sehen, nicht zu wählen, nicht vorzuschreiten, die Freiheit, schwach und arm zu bleiben, die Freiheit, über den Schätzen der Seele nicht zu wachen; allein wenn man Völker für die Sklaverei hat kämpfen, sich für den Despotismus hat aufopfern sehen, kann man erstaunen, wenn man Individuen Opfer bringen sieht, um eine Freiheit von sich zu entfernen, welche ihnen deren größere auferlegen würde? Es ist nicht schön, meine Brüder, allein es ist vielleicht bequem, Jemanden zu haben, der für uns alle Beschwerden der Freiheit übernimmt, und uns, gegen Beobachtung einiger Formen und Gebräuche, von der großen Angelegenheit der Wiedergeburt entbindet. Vervielfacht jene Formen und Gebräuche, es nutzt nichts: alle zusammen wiegen weniger, als die Notwendigkeit, heilig zu sein. Sage ich jedoch, dass die Freiheit, welche man zurückstößt, nicht beneidenswert, dass sie nicht die Freiheit ist? Gott bewahre! wer sie gekostet hat, weiß im Gegenteil, dass sie die einzige Sache auf der Welt ist, welche den Namen der Freiheit verdient; ich sage nur, dass, so vortrefflich und herrlich diese Freiheit ist, sie mehreren als eine Sklaverei erscheint; was sie verhindert, sich ihrer zu bemächtigen, wenn sie ihnen dargeboten wird, oder sich ihrer zu bedienen, wenn sie sich derselben bemächtigt haben.
Das ist es, was der Anblick des Einflusses der Autorität mich zu denen sagen lässt, welche diesen Einfluss erfahren haben. Dies hier ist es, was ich zu denen sage, die ihn ausüben:
Ihr wollt Euren Kindern, Euren Schülern, Eurer Gemeinde, Euren Lesern (denn ich umfasse mit ein und demselben Blick alle Arten von Autorität), Ihr wollt ihnen die Wahrheit, das heißt, das Leben geben. Ich setze es voraus; denn wenn ich es nicht voraussetzte, würde ich Euch nichts zu sagen haben. Man hat Euch geraten, und Ihr ratet Euch selbst, Euch all Eurer Mittel zu bedienen. Wenn man nur an die denkt, welche aus Eurer Autorität selbst hervorgehen, so sage ich vielmehr: Bedient Euch nicht aller Eurer Mittel. Bedient Euch nicht Eures ganzen Übergewichts; hütet Euch, die natürliche Wirkung desselben zu vermehren, den Druck desselben zu verstärken. Leitet viel mehr, als Ihr befehlt; sucht lieber einzuflößen, als aufzuerlegen. Lehnt, bei passender Gelegenheit, einen Teil der Macht ab, die man Euch überträgt, und wisst die Freiheit zur Achtung ihrer selbst zurückzurufen. Diese Freiheit ist der Anteil Gottes, und, um Gott etwas zu tun übrig zu lassen, darum müsst Ihr nicht Alles tun wollen. Die Hauptsache für Euch besteht darin, dass Ihr auf die Quelle hinweist, und das Verlangen danach, vor allem durch Euer Beispiel, erweckt. Eure nächste Aufgabe ist, zu unterrichten, aber wie Menschen, die zu Menschen reden, niemals vergessend, dass auf dem Gebiet des Unterrichts, eben so wie auf jedem anderen, man nichts so gut weiß, als was man durch sich selbst gelernt hat. Zügelt die Verirrungen mit der Autorität des Wortes, allein mit seiner Sanftmut; bringt den Charakter und die Lage eines Jeden in Anschlag; gesteht die Notwendigkeit eines progressiven und langsamen Ganges zu; setzt gerne die Aufrichtigkeit in dem Irrtum voraus, oder, wenn Ihr an der Wurzel des Irrtums die Leidenschaft und die Sünde wahrnehmt, führt den Irrenden sanft dahin, sich selbst das Prinzip seiner Täuschung zu entdecken. Wisst, zu rechter Zeit, bald Euch zu zeigen, bald zu verschwinden; zeigt Euch, um der Finsternis das Feld streitig zu machen; seid noch schneller bereit zu verschwinden, um Gott das Feld zu räumen. Vertraut auf ihn, misstraut Euch selbst. Fürchtet, indem Ihr die Form auferlegt, bevor Ihr den Sinn davon begreiflich gemacht habt, indem Ihr die Ketzerei an die geringste Sprach-Ungenauigkeit knüpft, indem Ihr die Artikel vermehrt, die Schattierungen verstärkt, indem Ihr zu viel auf den systematischen Zusammenhang gebt, indem Ihr dem Gefühl die Freiheit verweigert, sich selbst seine Form zu schaffen, indem Ihr zu früh alle Konsequenzen eines kaum angenommenen Prinzips verlangt; fürchtet ganz besonders, indem Ihr Eure Autorität zu sehr zur Schau tragt, Euren Zweck zu verfehlen, und, anstatt des Glaubens, den Ihr erzeugen wolltet, die entgegengesetzte Gemütsrichtung, unter der doppelten Form des Unglaubens im eigentlichen Sinn und des toten Glaubens, angeregt und unterhalten zu haben. Ihr wollt herrschen, um die Herrschaft Gottes auszubreiten, nun gut, aber wollt über Lebende herrschen, und nicht über Tote. Vergesst nicht, dass die schlecht benutzte Autorität unglücklichere und nachhaltigere Wirkungen hat, als das Nichtvorhandensein jeglicher Autorität.
Ihr, die Ihr Christen bilden wollt, seid ohne Zweifel Christen; Eure Autorität stützt sich also auf die des Evangeliums: nun, was lehrt Euch das Evangelium? Es hat sich über die Frage durch Tatsachen und durch Worte ausgesprochen. Durch Tatsachen, weil Jesus Christus und seine Apostel, vor Allem für die Interessen der Freiheit bemüht, sich eifersüchtig gezeigt haben, über die Geister nur durch die innere Kraft der Wahrheit zu herrschen; indem sie die ihnen geltenden Blicke und Huldigungen stets auf sie verwiesen; weil sie sich sparsam bewiesen haben mit den Zeichen der Macht, durch welche sie so leicht die Überzeugung hätten unterjochen können; indem sie den Glauben weit mehr für ihre Worte, wie für ihre Wunder forderten, und zuweilen sogar in dem Unglauben ihrer Zuhörer einen Grund fanden, nicht die Wunder zu vervielfachen, sondern sie zu unterlassen. Durch ihre Worte; denn in welch anderem Sinn würde unser Herr gesagt haben: „Glaubt dem, was ich sage, wo nicht, so glaubt mir doch um der Werke willen“? Stellte er dadurch nicht den Glauben auf Autorität in die zweite Reihe? In welch anderer Absicht würde er den Christen verboten haben, Jemanden hienieden ihren Meister oder ihren Vater zu nennen? Warum würde St. Paulus die Behauptung, dass er über den Glauben seiner Brüder herrsche, mit solcher Kraft zurückgewiesen haben? Geschah es nicht, weil der Heiland und seine Apostel der Wahrheit die Kraft und das Recht zuerkannten, sich selbst zu erweisen, sich selbst ihre eigene Autorität zu sein? Ich bezeichne hier nur eine geringe Anzahl von Tatsachen und von Stellen, allein ich wage zu behaupten, dass man im Evangelium eine große Anzahl finden wird, welche sie bestätigen, und nicht eine, welche sie widerlege. Dieser Zug in der Handlungsweise des Meisters und der Jünger verdient mehr Aufmerksamkeit, als ihm vielleicht zu Teil geworden ist, und empfiehlt sich dem Studium derer, welche unterrichten, und derer, welche unterrichtet werden.
Wie viel bleibt noch hinzuzufügen! wie umfassend ist der Gegenstand, meine Brüder! und wie fühle ich immer mehr, je weiter ich ihn verfolge, wie wichtig er ist, und wie sehr er in unmittelbarer Beziehung zu den Verhältnissen der gegenwärtigen Zeit steht! Es scheint mir, dass ich ihn weniger behandelt habe, als dass ich nur die Hauptpunkte habe hervortreten lassen. Dieses Wenige wird, unter dem Beistand Gottes, nicht ohne Nutzen sein. Gilt es für Nichts, ein gefährliches Vertrauen zu zerstören, und mit den wahren Kennzeichen des Glaubens die wahren Bedingungen des Lebens zu bestimmen? Gilt es für Nichts, in einer Seele, in einer einzigen, einen Drang nach Freiheit zu erwecken? Gilt es für Nichts, eine Masche dieses Netzes, in welches wir Alle eingeschlossen sind, zu zerreißen oder zu erweitern, dessen zuweilen grobes, doch häufiger feines und unsichtbares Geflecht uns ohne unser Vorwissen gefangen hält, und in welches, wäre es in volle Wahrheit getaucht, wir uns nicht selbst begeben würden, weil es für die Seele außerhalb der Freiheit keine Wahrheit gibt, weil die Freiheit der Anfang der Wahrheit ist?
Möchte diese Überzeugung in dem Herzen einiger von denen, die uns hören, aufgenommen worden sein, und sie, nach ihren verschiedenen Bedürfnissen, segnen; die Einen, indem sie sie sowohl die Freude, als die Verpflichtungen einer schon vollendeten Befreiung besser fühlen, die Anderen, indem sie sie diese Befreiung wünschen und verfolgen lässt!