Tholuck, August - Glaubens-, Gewissens- und Gelegenheitspredigten – Spr. 8,14-21
Da steht ihr akademischen Genossen, wenn ihr anders seid, was ihr seyn sollt, am Anfange dieses neuen Lebensabschnittes wieder als muthige Wettläufer: die Schranken sind geöffnet und eure Jünglingsbrust hebt sich, denn ihr sollt einen neuen Lauf thun. Zum Kampfesherold hat Gott mich für euch angestellt und eine Loosung soll ich heut euch zurufen. Ihr Weisheitsjünger, so höret denn durch meinen Mund eine himmlische Heroldsstimme, eine Lockstimme, ob ihr sie zu Herzen nehmen wollt. Es ist die süße Lockung mit welcher die himmlische Weisheit euch auffordert, sie selbst zu suchen, und den hohen Lohn euch vorhält, den sie austheilt.
Sprüchwörter 8, 14-21.
Mein ist beides Rath und That; Ich habe Verstand und Macht. Durch mich regieren die Könige und die Rathsherrn setzen das Recht. Durch mich herrschen die Fürsten, und alle Regenten auf Erden, Ich liebe, die mich lieben; und die mich frühe suchen, finden mich. Reichthum und Ehre ist bei mir, wahrhaftiges Gut und Gerechtigkeit. Meine Frucht ist besser denn Gold und feines Gold, und mein Einkommen besser, denn auserlesenes Silber. Ich wandle auf dem rechten Wege, auf der Straße des Rechts, daß ich wohl berathe, die mich lieben, und ihre Schätze voll mache.
„Ich liebe, die mich lieben und die mich frühe suchen, finden mich.“ Diese Worte sind es, die ich euch besonders an's Herz legen möchte. Höret, was diese Stimme euch sagt in Bezug auf die sogenannte irdische Weisheit, das Wissen, welches zu erlangen für diese nächsten Jahre eure Aufgabe ist. Höret dann, was sie euch sagt in Bezug auf die himmlische selbst, ständige Weisheit, welche zu erlangen eure Aufgabe ist für Zeit und Ewigkeit.
Wie wahr ist das Wort: „Ich liebe, die mich lieben und die mich frühe suchen finden mich“ - in Bezug auf die sogenannte irdische Weisheit.
Des Wissens Räthsel kann nur Lieb' zu mir entsiegeln
Und soll sie brünstig seyn, muß Jugend sie beflügeln.
Laßt mich zuerst fragen: wißt ihr auch, wer hier zu euch spricht? Die Weisheit ist es, aber die menschliche nicht, die aus der Endlichkeit geboren und die mit der Endlichkeit wieder untergehen wird, die Weisheit ist es, die Gottes ewiges einiges Kind, die er bei sich gehabt im Anfang seiner Wege, die seine Werkmeisterin gewesen, als er die Welt geschaffen, die Johannes uns gedeutet hat, wo er schreibt: „Am Anfange war das Wort und das Wort war bei Gott und durch dasselbe sind alle Dinge gemacht, die gemacht sind“ diese Weisheit ist es, die euch einladet und zuruft: „ich liebe, die mich lieben.“
Ahnet ihr, wie groß die Wahrheit, die hiemit ausgesprochen ist? Kann nur Liebe zur himmlischen Weisheit des Wissens Räthsel entsiegeln, so haltet das zuerst fest, ihr Genossen aller Facultäten: der Religion bedürft ihr, wenn ihr der Weisheit Räthsel lösen wollt. Nicht bloß Theologie, nein, alle Wissenschaft will mit Religion getrieben seyn. Ist es gleich wahr, daß von jener himmlischen Weisheit in diesem Buche, welches die Kirche den Händen von, uns Theologen anvertraut hat, ihr heiligster Schatz niedergelegt worden, so sind die Schätze göttlicher Weisheit doch darin nicht allein beschlossen, sondern sie sind ausgestreut, so weit der Boden menschlichen Wissens geht. Ist diese Weisheit bei Gott gewesen „am Anfange seiner Wege, da er die Wolken droben befestigt, da er die Brunnen befestigte in der Tiefe, da er den Grund der Erde legte. ist sie da schon die Kunst- Und Werkmeisterin gewesen, so ist diese Weisheit auch der Welt-Gedanke. Gottes Weisheit ist der Welt-Gedanke, aus dem die Welt selbst geworden: in Natur und Geschichte, wo Gedanke ist, ist es verhüllter Gedanke Gottes. Sei es das Geheimniß des Wunderbaues des menschlichen Leibes, seien es die Geheimnisse und Kräfte aller andern Kreatur, die Geheimnisse der allergeringsten Kräutlein der Erde, liegt nicht in allen Gedanke Gottes? Wer dem verborgenen Walten in den Geschicken der Völker, in den Geschicken einzelner Familien und Menschen nachgeht, wer der Mannichfaltigkeit der Sprachen nachforscht, die dem menschlichen Geiste zum Kleide für seine Gedanken gegeben sind, der bewegt sich in Gedanken Gottes. Ihr Naturkundigen und Aerzte also, ihr Sprach- und Geschichtsforscher nicht mit menschlichen Gedanken habt ihr es zu thun, sondern mit Gedanken Gottes; euch Allen gilt es: ziehet eure Schuhe aus, auch ihr betretet heiliges Land! Wiederum, wenn unser Text sagt: durch mich regieren die Könige und die Rathsherrn setzen das Recht. ist hienach nicht auch das Recht mit seinen unantastbaren Ordnungen göttlicher Gedanke? Ihr Juristen, gilt's also nicht auch von eurem Studium: ziehet die Schuhe aus, denn hier ist heiliges Land? Sind es nun göttliche Gedanken, mit denen ihr in eurem Studium zu thun habt, gehört nicht also auch Religion, gehört nicht Liebe Gottes dazu, um in euren nur sogenannten irdischen Wissenschaften die Wahrheit zu erkennen?
O ihr Jünglinge, daß ich euch recht zu durchdringen vermöchte mit dem großen Privilegium, das euch als Jünglingen gegeben ist! Auch schon vermöge eurer Altersstufe ist es euch leicht gemacht an eine Gotteswelt zu glauben, die noch hinter der sichtbaren steht, zu glauben an göttliche Gedanken in Natur- und Menschengeschichte überall ausgestreut, die von euch noch erobert werden können; zu glauben an die Ideale von Wahrheit, Freundschaft, Tugend; und weil ihr noch daran glauben könnt, könnt ihr euch noch begeistern, noch lieben; und weil ihr euch für die Weisheit, die ihr erforschen sollt, noch begeistern, weil ihr sie lieben könnt, heißt es von euch vor Allen: die mich frühe suchen, finden mich. Aber wir Alten - die allein nehme ich ans, die Christus zu einer geistigen Jugend neu geboren hat - wir Alten aber, sag' ich, wie hat das Alltagsleben und der Staub der Heerstraße, wie haben die getäuschten Hoffnungen und Erwartungen des Lebens die Meisten von uns so kalt und begeisterungslos gemacht! Die Meisten von uns glauben nicht mehr Von Herzen an Ideale, glauben an keine verborgene Gotteswelt, die hinter der sichtbaren steht, glauben nicht an einen Weltgedanken Gottes, den in fortschreitender demüthiger Forschung der Menschengeist erobern kann, und die daran nicht glauben, die können sich auch für die Wissenschaft nicht begeistern, die kennen den anbetenden Jubel nicht, Denn Ein Schleier nach dem andern fällt. O, wie ist diese ungläubige Männerwelt in der gegenwärtigen Periode so öde und so kalt geworden! An die Telegraphen von Drall) glauben sie noch, aber an keine Telegraphen des Gedankens; an das, was sie tasten, messen und wägen können, glauben sie noch, aber an keine Gottesgedanken in der Welt, zu denen der Flug der Liebe trägt.
Aber o Jüngling, auch dein Glaube an Ideale, deine Liebe und Begeisterung wird schwinden, wenn sie eben keinen andern Grund gehabt hat, als die Schwungkraft jugendlicher Phantasie, wenn der Glaube an die selbstständige Weisheit fehlt, die in Christo Mensch geworden. Wie dieser Glaube nachwärmt und brennt bis in den Tag hinein, wo die grauen Flocken den Scheitel decken, und die Pulse zu stocken anfangen - sehet es an dem Jünger der Liebe, der fast hundertjährig noch mit der Begeisterung der Jugend schreiben kann: Das da von Anfang war, das wir gehört haben, das wir gesehen haben mit unsern Augen, das wir beschauet und unsere Hände betastet haben, vom Worte des Lebens schreiben wir euch. “ - Und damit nun der Glaube und die Liebe, mit der ihr der Wissenschaft euch hingeben sollt, einen Grund habe, der da bleibe, auch nachdem das Jugendfeuer ausgebrannt ist, so öffnet eure Ohren und Herzen, wenn die himmlische selbstständige Weisheit euch einladet: ich liebe, die mich lieben und die mich frühe suchen, finden mich.
Sehet wie dieser Zuruf noch viel mehr Wahrheit hat in Bezug auf die ewige, selbstständige Wahrheit, die in Christo Mensch geworden.
Ich wiederhole es: in der rechten geistigen Jugendfrische grünen und blühen diejenigen nur bis in die Ewigkeit hinüber, die Christus neu geboren hat. Werdet ihr früh schon alt, stumpft sich der Glaube ab an Ideale und ewige Ideen: ihr selbst seid schuld, im Glauben an Christum liegt ewige Jugendfülle.
Wie manchen für hohe Ideale, für große Gottesgedanken entbrannten Jugendgenossen habe ich einst besessen und als ich sie im späteren Leben wiederfand, wie waren die Ideale zerronnen, und ich sah sie an der Tretmühle des alltäglichen Berufs arbeiten - öde und begeisterungslos wie alle Andern, an der Wahrheit verzweifelnd. Ach, das tausendfache kalte Nein, das dem fröhlichen Ja unseres Jünglingsglaubens in der Würklichkeit entgegentritt, es kann sich nur frisch erhalten bis in's Alter hinein, wenn es auf den König der Wahrheit sich gründet, der in die Welt hineingerufen: Himmel und Erde werden vergehn, aber meine Worte werden nicht vergehn. Der gesammte Christenglaube, ist er nicht die Ueberzeugung von einer verhüllten Gotteswelt, mit welcher so Vieles, was wir in Natur- und Menschenleben mit Augen sehen und mit Händen greifen, im schneidendsten Widerspruch steht? Und doch glauben wir als Christen fort, glauben fort und können wohl sterben über diesem Glauben. So lange also der Glaube an die himmlische Wahrheit fest und frisch bleibt in deiner Brust, so lange auch der Glaube, daß es ewige Gottesgedanken giebt, die durch alles, was zeitlich ist, sich hindurchziehn, so lange der Wissensdurst und die Forschbegierde.
Ist aber schon bei irdischer Weisheit gewiß: Des Wissens Räthsel kann die Liebe nur entsiegeln, wie viel offenbarer wird dies, wo es sich um das Wissen von der selbstständigen und in Christo Mensch gewordenen Weisheit handelt. Hier vor allem gilt's: ich liebe, die mich lieben. Das Geheimniß Gottes ist bei denen, die ihn lieben und fürchten. Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist. Zu allem Erkennen der Wissenschaft gehört nur eine intellektuelle Liebe, eine Liebe der Bewunderung, der Begeisterung: zur Erkenntniß der selbstständigen Weisheit, zumal der Mensch gewordenen, gehört eine Liebe, wie eine Persönlichkeit sie zur andern hat, eine persönliche Liebe, eine Gemeinschaft der Geister. Denn nicht eine Idee, die, ohne für sich selbst zu seyn und von sich selbst zu wissen, bloß von uns gewußt würde, ist jene ewige Weisheit, von der der Evangelist schreibt: Am Anfange war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. - Eine Persönlichkeit ist sie und als Persönlichkeit ist sie erschienen, als das Wort Fleisch ward, und es hat unter uns gewohnt und - die Seinigen haben seine Herrlichkeit gesehen, als des Eingebornen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. Gerade das ist's ja, worüber die Seinigen so frohlocken, daß sie gesehen mit ihren Augen und mit ihren Händen betastet haben das Wort des Lebens. Dies Geheimniß im Glauben zu ergreifen reicht also auch keine bloße Begeisterung für ewige Gedanken aus, keine bloße Jugendbegeisterung für Wissen und Wissenschaft. Hier mußt du fühlen und glauben können, daß der Gott, den du in deinen Gebeten anrufst, kein bloßer Gedanke, sondern ein lebendiges, persönliches Du, und daß der Gottes- und Menschensohn, zu dem du betende Hände erhebst, keine bloße Idee in deinem eigenen Geiste, sondern daß dies eben das. große Geheimniß der Gottseligkeit„ ist, daß der Ewige, Unsichtbare als Fleisch gewordener vor dir steht. Das mußt du glauben, damit du ihn lieben könnest, wie ein Freund den andern liebt. Zu dieser Erkenntniß zu gelangen, ihr Jünglinge, reicht's also auch nicht aus, die Jugendbegeisterung für das Wissen mitzubringen. Mit Kraft und Ungestüm meinst du mich zu ergründen, Gieb kindlich dich mir hin, die Liebe wild mich finden.
Nicht unruhiges Arbeiten und Schaffen, sondern vielmehr stilleseyn und sich hingeben, nicht Anstrengung des Denkens, sondern vielmehr Aufgeben des eigenen Willens muß hier den Grund legen, denn nur nachdem dieser Grund gelegt ist, läßt auf demselben sich auch die Einsicht der Wissenschaft aufbauen. Wer das Reich Gottes nicht annimmt als ein Kind' hat der Heiland gesprochen. Wo nun aber in ein liebendes Herz die selbstständige Weisheit ihren Einzug gehalten, wie wird auch die geringste Christenseele dadurch geadelt, wie wird sie mit Idealen erfüllt und über das Gemeine erhoben! Nehmt den an die gemeinste Tagesarbeit geketteten Christen. Wenn unter der Tretmühle des einförmigen Tagewerkes allen Andern der Aufschwung zu den Dingen, die droben sind, vergeht, feiert die Christenseele einen Tag um den andern ihr Weihnachten und ihr Ostern, während sie wandeln auf Erden, leben sie im Himmel und kriegen, die Aermsten, was ihnen gefällt. Während die Gedanken der Andern nur an die vier Pfähle gebannt sind, zieht ihr Geist mit Christi Sendboten in alle Welttheile; die Niederlagen, welche das Christenthum erleidet, sind ihre Niederlagen, die Siege der Kirche ihre Siege. Während der Blick der Andern nur geheftet ist auf die Plage des gegenwärtigen Tages, schaut ihr Auge zurück in die tausendjährige Geschichte göttlicher Gnadenthaten, pflegt ihr Geist den Umgang mit Patriarchen, Märtyrern, Aposteln, schweift ihr Blick hinaus in Ewigkeiten, wo die Gnadenthaten sich vollenden werden, die hier in der Zeit begonnen haben. Ja ein lebendiger Christenglaube, das ist die Lebenspoesie, welche die gemeinste Seele adelt und einem Menschenleben unvergängliche Jugend giebt.
O selig Licht, o unverrücktes Leben,
Wenn Jesus eine Seele liebt,
Die ihm in Lieb sich hingegeben
Und die er nun auch wiederliebt.
Nun, ihr Jünglinge, habt ihr aber auch in Bezug auf dies Trachten nach dieser selbstständigen himmlischen Weisheit jenes Wort zu Herzen zu nehmen, dessen Wahrheit wir für das Trachten nach der zeitlichen Weisheit erkannt haben: „und die mich frühe suchen, finden mich.“ Auch hier nämlich gilt, wie bei der zeitlichen Weisheit:
Soll Liebe brünstig seyn, muß Jugend sie beflügeln.
O ihr Jungen, welches Geschlechts und Standes ihr seid, jetzt dieweil es noch frühe bei euch ist, dieweil der Thau noch auf der Knospe steht, müßt ihr den Anfang machen die selbstständige. Weisheit zu suchen: jetzt ist die Zeit, wo ihr noch begeisterungsfähig seid für einen hohen Gegenstand der Liebe, wo ihr Aufopferung und Hingabe noch nicht für einen schwärmischen Traum haltet, wo ihr noch nicht grübelt und berechnet, sondern liebet und genießet. Jetzt ist der, Arm noch elastisch, der sich ausstrecken kann nach oben, und die Brust noch weit, eine ganze Welt des Glaubens darin aufzunehmen. Seid ihr einmal lahm oder trocken geworden wie die Andern, die keiner Begeisterung mehr fähig sind, die auch an die reichste Tafel nur hinzutreten, nicht um zu genießen, sondern um zu kritisiren - o wie schwer wird es euch dann werden! Sehet euch nur um, wie so sehr spärlich sind die Beispiele gründlicher Bekehrung in vorgeschrittenem Alter! Muß nicht also würklich auch in dieser Hinsicht die Jugend ein Privilegium haben? bedenket nämlich nur, wie viele Riegel dann schon das Leben vorgeschoben hat! Wie wird nicht bloß leiblich, sondern auch geistig, wo die Elasticität der Jugend gewichen ist, die Bewegung dem Menschen schwer, wie fehlt das frische und muthige Zugreifen. Ist der Mensch ohne Glauben in den Abschnitt des männlichen Alters hineingetreten, hat er ohne Glauben sich seinen Beruf erkoren, ohne Glauben sich seine Freunde gewählt, ohne Glauben die Gefährtin seines Lebens - sind das nicht ebenso viele Riegel, die sich vorschieben? Wiederum, wenn ihr jetzt den Glauben ergriffen habt und ihr euren Beruf erwählet im Glauben, euren Freundeskreis gestaltet im Glauben, die Gehülfin eures Lebens erwählt im Glauben: müssen die Riegel der Andern, müssen die nicht ebenso viele Gnadensiegel und Gnadenflüge. l für euch werden? Was den Andern zur Hemmung wurde, wird das für euch nicht zum Hilfsmittel werden? O nehmt ihr es denn nicht zu Herzen, wie diese drei Jahre mit dem, was ihr darin erlebt, bei den Meisten das Loos werfen über ihr ganzes Leben? -
O Vater der Erbarmung, laß auf diese deine Jugend deinen himmlischen Thau fallen, dieweil sie noch jung ist! laß sie den Segen ihrer Jugendjahre, aber auch deren Verantwortlichkeit erkennen. Gieb ihnen geöffnete Ohren, wenn auch ihnen die himmlische Weisheit zuruft: „Ich liebe die mich lieben, und die mich frühe suchen, finden mich!“ Amen.