Spitta, Carl Johann Philipp - Ich schlafe, aber mein Herz wacht.

Spitta, Carl Johann Philipp - Ich schlafe, aber mein Herz wacht.

Kann man auch zugleich wachen und doch schlafen, oder schlafen und doch wachen? Wenn du zwar frühe aufstehest, und hernach lange sitzest, und issest dein Brot mit Sorgen; ja arbeitest mit Kopf und Händen Tag -und Nacht für deines Leibes Nothdurft und Nahrung, oder für deinen zeitlichen Wohlstand und Reichthum; bekümmerst dich aber weder um den Schaden noch um das Heil deiner Seele, machst dir gar keine Gedanken über das, was du vor Gott bist und sein sollst, oder machst dir eitle und vergebliche Gedanken darüber, die nach dem Worte Gottes nicht wahr sind: so bist du ein Mensch, der leiblich wacht und geistlich schläft. Höre, ich habe Gottes Wort an dich! „Wache auf, der du schläfest, und stehe auf von den Todten, so wird dich Christus erleuchten“ (Ephes. 5, 14.). Laß dein Herz aufwachen, wie jener Israeliten Herz aufwachte durch das Wort von dem gekreuzigten Herrn und Christ, daß sie zu Petro und den andern Aposteln sprachen: „Ihr Männer, lieben Brüder, was sollen wir thun?“ Laß dein Herz aufwachen, wie Sauls Herz aufwachte, daß er mit Zittern und Jagen sprach: „Herr, was willst du, das ich thun soll?“ Laß dein Herz aufwachen, wie das Herz jenes Kerkermeisters aufwachte, daß er zu den gefangenen Aposteln sprach: „Lieben Herrn, was soll ich thun, daß ich selig werde?“ Auf die Frage deines erwachten Herzens wird dir geantwortet werden. Der Herr hat dafür gesorgt, daß dir Antwort auf deine Frage, Licht in deiner Finsterniß, Rath in deiner Verlegenheit, Trost in deiner Traurigkeit, Hülfe in deiner Noth werde. Mit der Frage im Herzen: „was soll ich thun, daß ich selig werde?“ lies sein Evangelium, höre die Predigt desselben, und bete zu ihm. Er wird dir geben, was dein Herz wünschet. Wohl dir, du Hast es gut, wenn du nicht mehr geistlich schläfst und unter den geistlich Todten liegst. - Aber wer ist ein solcher, der, obschon er schläft, doch wacht; wie die Braut spricht, Hohes Lied Sal. 5, 1: „Ich schlafe, aber mein Herz wacht!?“ Wenn die Liebe Gottes ausgegossen ist in unser Herz durch den heiligen Geist, die Liebe nämlich, daß Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, und Christus für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren; wenn das Herz durch gläubige Aneignung in Erfahrung und Genuß dieser Liebe steht; wenn das Herz von dem gewonnen, eingenommen und hingenommen ist, der uns geliebet und sich selbst für uns dar gegeben hat dann wacht der Mensch auch für den Freund der Seele. Er ist von ganzem Herzen an ihm, sowohl im leiblichen Wachen als im leiblichen Schlafen. Er verrichtet sein zeitliches Geschäft; aber sein Herz wacht und erinnert ihn, daß er es thue, nach des Herrn Wohlgefallen. Er muß als ein treuer Arbeiter oft alle Kräfte seiner Seele oder seines Leibes auf seine Arbeit richten, er kann oft nicht dazwischen hinein gottselige Gedanken hegen, und bei seinen Betrachtungen verweilen; aber sein Herz wacht, und sobald er von der Arbeit zur Ruhe, von der Zerstreuung äußerlicher Thätigkeit wieder zu sich selbst kommt, so kommt er wieder zum Herrn, da wo sein Herz ist. Er schläft, aber gleichwohl heißt es: „Von Herzen begehre ich dein des Nachts, dazu mit meinem Geist wache ich frühe zu dir“ (Jes. 26, 9.). Hast du ein zu dem Herrn gerichtetes wachendes Herz? Bete darum mit mir, daß wir nicht schlafen wie die anderen, deren Herz noch nicht aufgewacht ist, die Christus noch nicht erleuchtet und mit Licht, Liebe und Leben erfüllet hat. Denn die Leuchte des Herrn ist des Menschen Odem, die gehet durch's ganze Herz (Spr. Sal. 20, 27.). Ja, er gebe es uns, mit bräutlich liebendem Herzen so zu ihm zu stehen, daß wir sagen können: „Ich schlafe, aber mein Herz wacht. Da ist die Stimme meines Freundes, der anklopft!“

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