Scriver, Christian - Gottholds zufällige Andachten. - 18. Ein Baum ohne Zaun.
Unfern davon wurden sie eines Apfelbaums gewahr, der in einem wüsten Garten stand, und obwohl seine Zweige voll schöner Früchte hingen, so hatten sie doch nicht Frieden, zeitig zu werden, sondern wurden von den Jungen abgeschüttelt und verderbt, maßen denn der Steine und Knittel eine gute Anzahl unter dem Baume lagen. Immer schade, sprach Gotthold, um den edlen Stamm! Ich wollte ihn mit Geld in meinen Garten hineinlaufen; aber das sind die Früchte des Krieges, welcher allen Zaun und Schutz hinwegnimmt und manchen fruchttragenden Baum zum Raub setzt. Sonst, fuhr er fort, sehe ich an diesem Baum ein eigentliches Bild der Wittwen und Waisen; das sind die Leute, die in der Welt viel Trutz und wenig Schutz erfahren müssen; sind sie schon voller Früchte, haben sie von Gütern und Mitteln durch Gottes Segen und der Verstorbenen Fleiß etwas behalten, so gehts ihnen doch wie diesem Baum, welchen schüttelt, wer vorübergeht. Ursache zu ihnen darf man nicht lange suchen, die Knittel liegen unterm Baum; weil sie Wittwen und Waisen sind, müssen sie leiden, was der Welt beliebt. Darum eine Wittwe auch in hebräischer Sprache den Namen hat von Binden und Schweigen, daß ihr gleichsam die Hände gebunden sind, und daß sie viel Unrecht leiden, dazu schweigen und ihr Leid in sich fressen muß. Mein Gott! nimm mich nicht hinweg in der Hälfte meiner Tage, damit nicht mein Weib eine Wittwe, und meine Kinder Waisen, und also in den Orden der Elenden und Trostlosen versetzt werden! Oder, so es dir anders beliebt, so sei du meines Weibes Mann und meiner Kinder Vater!