Schopf, Otto - Vorwort zum Buch "Die Zerrissenheit des Gottesvolkes"
Als biblisch-theologische Arbeit eines wohlbekannten Verfassers bedarf dieses Buch wahrlich keiner Vorrede eines weniger bekannten. Es wird aber dieses Zeugnis bei vielen nicht nur freudigen Beifall finden, sondern bei anderen auch wohl Widerspruch. Darum soll es als Zeugnis zweier Zeugen hinausgehen. Der Verfasser wünschte es, und noch mehr war es dem Schreiber dieser Zeilen selbst ein Bedürfnis, an die Seite seines in 20 jähriger Geistes - und Arbeitsgemeinschaft mit ihm stehenden Bruders und Freundes zu treten. Die Erfahrung hat gelehrt, daß eine Äußerung zu dem vorliegenden Gegenstand dem, der sie wagt, manchen wehtuenden Vorwurf einzutragen pflegt. Da wollte ich nun gerne mein herzliches und dankbares Einverständnis mit dem Geist und Inhalt dieses Buches hier aussprechen. Und dann möchte auch ich es den Brüdern gegenüber, mit denen sich dieses Buch hauptsächlich beschäftigt, schon hier aussprechen: Wir haben unsere Brüder wenigstens so lieb und achten sie so hoch, daß wir bereit sind, etwas von ihnen und um ihretwillen zu tragen. Und wir können und wollen die Hoffnung noch nicht aufgeben, daß manche von ihnen es doch empfinden: Hier redet nicht das böse Gewissen und die Streitsucht, sondern die besorgte Liebe eines im Heiligen Geiste ruhigen Gewissens.
Oft haben der Verfasser und ich es in den letzten Jahren besprochen, wie zu unseren Brüdern einmal so geredet werden müsse, daß sowohl die Art als auch der Inhalt der Rede es unmöglich mache, dieselbe als aus einem hochmütigen, unbrüderlichen Geiste kommend, von vornherein zurückzuweisen. Es erscheint uns als eine geistliche und brüderliche Pflicht, unseren Brüdern dieses offene Wort zu sagen. Die Brüder haben uns und unsere Kreise wert genug geachtet, um in einer starken, immer noch anschwellenden Literatur und in zahllosen Einzelbemühungen mit ihren Forderungen und Begründungen an uns heranzutreten. So ziemt es sich, daß auch wir sie wert genug achten, ihnen einmal in ernster, freundlicher und möglichst gründlicher Darstellung zu antworten.
Es sollte ja eigentlich einer zu ihnen reden, der, wie Paulus in bezug auf den Pharisäismus und Luther in bezug auf den Katholizismus, einmal selbst auf dem Boden der „Versammlung“ als eifriger Anhänger gestanden hat, und der als ihr Glied im eigenen Leben in bezug auf Lehre und Praxis ihren Irrtum und ihre Gefahren durchkostet hat, der mit brennender Liebe und sorgfältigster Anerkennung jeden Körnleins von Wahrheit, das sie besitzen, zu ihnen redete als einer, der im eigenen Leben das in sich überwunden hat, was man gemeinhin „Darbysmus“ nennt. Es hat ja einmal einer geschrieben, der verschiedene Stadien dieser Stellung durchlaufen hat, aber er schien manchen nicht genug Liebe zu besitzen und auch seinen früheren Standpunkt nicht überwunden zu haben.
Es hätte der Verfasser gerne noch die geschichtliche Entwicklung der „Versammlung“ besonders auf englischem Boden eingehender berücksichtigt. Dadurch wäre die Eigenart der „Versammlung“ in Erkenntnis und Praxis noch besser beleuchtet und verständlicher geworden. Aber es war im Rahmen einer kurzen Schrift, wie der gegenwärtigen, die Erfüllung dieses und noch anderer Wünsche nicht wohl möglich. Aber das, was am nötigsten und am dringendsten erwünscht war, das ist, dem Herrn sei Dank, im vorliegenden Buch in wohltuendster Weise geschehen: An der Grundlage der Position der „Versammlung“ und einigen besonders oft zur Diskussion kommenden Punkten ist gezeigt, warum wir und so viele Brüder anderer Kreise um des Herrn und der Schrift, um der Brüder und der Welt willen, um des Gewissens und der Wahrheit und der Liebe willen, den Brüdern in gewissen Punkten nicht zustimmen können. Es ist gezeigt und mit reichem und klaren Schriftbeweis begründet worden, warum wir der mit großer Entschiedenheit ausgesprochenen Forderung, in der „Versammlung“ „unseren Platz einzunehmen“, nicht folgen können.
Es ist dies in einer Weise gezeigt und dargelegt worden, die es, wie wir hoffen, die Brüder wird erkennen lassen, wie auch wir daran festhalten, daß sie als unsere Brüder doch zu uns gehören und wir zu ihnen. Sie sind unsere Brüder, mit demselben Blut erkauft und mit demselben Geist getauft, in ihrer Schwachheit von demselben Herrn getragen, wie wir in der unseren, in ihrer Treue von ihm gesegnet und unverdient von ihm besonders benützt, wenn es seiner souveränen Gnade gefällt, und darum sind sie uns lieb und teuer. O, daß es unseren Brüdern gefiele, auf das zu hören, was ihnen hier einer im Namen vieler sagt, und daß das Zeugnis dazu diente, uns alle der Wahrheit und damit Jesu und so auch einander näher zu bringen!
Und nun noch eins: Der Verfasser hat nicht beabsichtigt, nur an die Brüder der „Versammlung“ sein Wort zu richten. Wer sich selbst kennt und wer sich ins Licht der Schrift stellt, der wird innewerden: Das, was der Verfasser unter Anerkennung alles vorhandenen Guten im Schmerz der Liebe zunächst bei der „Versammlung“ maßvoll rügt, und was andere maßlos und verständnislos an der „Versammlung“ tadelten, das macht nicht an der Grenze der „Versammlung“ Halt. Uns allen liegt es nahe und uns allen wäre es nach unserer Natur bequem, wenn wir mit Formeln, Worten und Maßregeln das erreichen könnten, was in Wirklichkeit nur unter Darangabe des eigenen Lebens und in der Glut der Liebe Jesu erreicht werden kann. Wenn wir alle nicht acht haben auf uns selbst, werden wir das, was wir an der „Versammlung“ tadeln, in anderer Form bei uns selbst finden. Jedem, dem wir widersprechen, sind wir eine Beweisführung nicht nur in Worten schuldig, sondern in der Tat und in der Kraft. Wollen wir aber diesen Beweis erbringen, dann werden wir nicht hoch einherfahren, sondern demütig und klein und schwach in Christo, seine überschwengliche Kraft offenbaren. Denn Gott widerstehet den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade.
Wenn aber Fernstehende diese Schrift lesen, so sei es ihnen nochmals ausdrücklich gesagt: Wir Brüder stehen uns einander nicht als Feinde gegenüber, auch wenn wir in brüderlichem Ernst unter uns erörtern, was unseres gemeinsamen himmlischen Vaters Wille und was unseres gemeinsamen Meisters Sinn sei. Das, worin Kinder Gottes noch je und dann verschiedener Meinung sind, hängt zum großen Teil damit zusammen, daß wir da und dort noch Unerkanntes oder Unüberwundenes aus der Welt an uns haben. Aber im Unterschied von der Welt, die das Ihre lieb hat, wissen wir uns mit unseren Brüdern, mit denen sich dieses Buch beschäftigt, darin eins, daß sie und wir begehren, alles, was wir noch von der Welt Art an uns haben, zu erkennen und auszuscheiden. Und sie, wie wir, bitten unsere Mitmenschen als Botschafter an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott! Und gerade, weil sie wie wir Glieder eines Leibes sind, so suchen wir Glieder einander zu dienen und uns zu fördern, und darum ist selbst unser Austragen von Meinungsverschiedenheiten im Grunde nur ein Ringen nach Einigkeit, ja ein Zeugnis unserer manchmal noch verborgenen, aber dennoch vorhandenen, jetzt nach Darstellung strebenden und einst sicher vollkommen sich offenbarenden Einheit in Christo Jesu.
Hamm, Januar 1913
Otto Schopf