Schlatter, Adolf - Der Hebräerbrief - Kap. 4, 14-5, 10 - Jesus und die Priester Israels.
Von den Engeln am Sinai zu Mose, von Mose zum ungläubigen und widerspenstigen Volk, unter dem er steht, vom ungehorsamen Volk zum Priestertum Aarons, so schreitet der Brief in einfachem wohlgeordnetem Gang voran. Eben dies sündige Wegstreben von Gott, das sich ihm nicht gehorsam erzeigen will und das Wort Gottes als Schwert und Richter wider sich hat, machte ein Priestertum für die Gemeinde notwendig. Darum steht Aaron neben Mose mit seinem priesterlichen Dienst. Er soll durch denselben die Sünde des Volks decken, und ihm ein Schutz gegen den rächenden Zorn Gottes sein und es in der Gnade und Gemeinschaft mit Gott erhalten trotz seines Sündigens.
Auch uns hat das Vorangehende gezeigt, dass und warum wir eines Priesters bedürfen. Wir stehen in derselben Lage, wie das Volk um Mose her. Auch uns ist das Ziel noch fern und der Lauf ist noch weit. Auch in uns ist dasselbe Menschenherz, mit seiner Unlust und Unwilligkeit, die Gott versucht. Auch über uns steht die richterliche Majestät und Schwertesschärfe des göttlichen Worts. Gerade am Wort Gottes wird die Kluft zwischen uns und Gott offenbar und unser Gegensatz und Widerstreit gegen ihn ans Licht gezogen. Aber auch uns fehlt der Priester nicht. Wir finden in Jesus nicht nur das, was Mose der früheren Gemeinde bot, sondern auch das, was ihr durch Aaron gegeben war, und wir finden dies in Jesus überschwänglich in vollendeter Kraft und Wirksamkeit. Erscheint uns in seinem Wort die unermessliche Majestät Gottes, so haben wir in ihm auch den vor Augen, der zwischen uns und Gott in die Mitte tritt als unser Weg zu Gott. Beugt uns das Wort vor Gottes Heiligkeit, so sehen wir in ihm auch den, der unsere Sünden um seines Todes willen bedeckt. Wir wissen zwar, dass wir vor Gott zu völliger Durchsichtigkeit aufgedeckt sind; wir wissen, dass sein Gericht in unser innerstes Denken und Trachten hineinreicht; wir wissen, dass wir ohnmächtig in die Macht seines richterlichen Wortes hingegeben sind und ganz und gar vom Spruch seines heiligen Mundes abhängen. Dennoch fliehen wir nicht von ihm weg, und fürchten uns nicht so vor ihm, dass wir ihn verlassen möchten. Denn wir haben einen großen Hohepriester und halten darum an unserm Bekenntnis fest und bleiben bei unserer Zusage, mit der wir uns ihm verbunden haben, V. 14.
Die Größe unsers Priesters zeigt sich darin, dass er durch die Himmel hindurchgegangen ist, V. 14. Wir lasen schon im ersten Kapitel, dass Christus auch über die Engel erhöht worden ist, die im Himmel sind. Das Erste, wozu uns der Brief angeleitet hat, war dies, dass wir hieran die Majestät und Gewalt seines königlichen und richterlichen Wortes ermessen. Allein Christi Erhöhung über die Engel begründet zugleich die Größe und Herrlichkeit seines Priestertums. Das macht den Priester, dass er gehen darf, wohin sonst niemand gehen kann noch darf. So ging der Priester ins heilige Zelt, während die Männer Israels draußen im Hofe stehen blieben. So ging der Hohepriester ins Allerheiligste, während die übrigen Priester den Vorhang desselben nicht heben durften. So geht Jesus nicht nur in den Himmel, sondern durch den Himmel hindurch, über ihn empor zu Gottes Thron. Für ihn gibt es keine Schranke, bei der er stille stehen müsste. Nirgends verwehrt ihm eine Warnungstafel den Zutritt; nirgends steht für ihn geschrieben: hier gehe kein Unheiliger hinein. Er tritt nicht nur zu den seligen Geistern und himmlischen Mächten, sondern noch höher empor, auch über die Schranke empor, die jene von Gott in der Ferne hält. Der räumliche Ausdruck stellt das innerliche Verhältnis Jesu zu Gott ins Licht. Er hat den ganzen Blick in Gottes Herz und den vollen Anteil an Gottes Macht und Herrlichkeit. Es gibt für ihn keine Entfernung mehr von Gott und keine Hülle, die ihm Gott teilweise verbärge. Für ihn ist der Zugang zu Gott ein vollkommener, und eben dies macht ihn für uns zum Priester. Darin hat er seine priesterliche Macht.
Je höher wir ihn emporsteigen sehen, umso wichtiger ist es, dass wir uns auch das andere Ende seiner Bahn gegenwärtig halten, welches zu uns herab in die Tiefe herniedersteigt. Verlieren wir ihn etwa damit, dass wir ihn höher oben suchen müssen, als die höchste Kreatur, auch über denen, die im Himmel leben? Ist er damit der Gemeinschaft mit uns entrückt und über das Mitgefühl mit uns emporgehoben? Er wäre nicht mehr unser Priester, wenn ihm dadurch unsere Schwachheit fremd, unleidlich und widerwärtig geworden wäre. Priester ist er dadurch, dass er wie Gott so auch uns nahe steht. Aber sieh die Spannweite der Liebe und des Lebens Jesu! Nichts scheidet ihn von Gott, aber auch uns entfremdet ihn nicht einmal unsere Schwachheit. Ob auch sein Auge von Gottes Herrlichkeit erfüllt ist, so bleibt es doch offen für unsern Jammer, unsere Armut, ja auch für die Schwächlichkeit unsers guten Willens, der beständig der sündlichen Reizung unterliegt, und er hat für dieselbe nicht bloß den strafenden Blick des Zorns und Widerwillens, sondern den Blick des Mitleids. Das, was Gottes ist, ist ihm fasslich und zugänglich; unsere Schwachheit ist es ihm auch, so dass er an derselben Anteil nehmen und ein herzliches Interesse und Mitgefühl auf sie richten kann. Das ist das Wunder seines Lebens, dass er über alle Himmel hinaufreicht und hinab zu uns, zur vollen Gleichartigkeit mit uns, nicht nur in unser Leiden hinab, nein auch in unsern Kampf mit der Sünde hinein. Dass er selbst versucht worden ist in allem gleich wie wir, das ist das feste Band, das ihn mit uns verbunden hält, V. 15. Dadurch hat er sich für immer das Vermögen erworben, auch unsere Schwachheit zu verstehen und in barmherziger Freundlichkeit zu tragen. Darum vergisst und verachtet er ob des Himmels und seiner Kraft die Erde und ihre Schwachheit nicht.
Oder wollten wir unserm Brief antworten: „O ja, wir sind ohnehin dessen sicher, dass wir bei Gott für unsere Schwachheit ein geduldiges und barmherziges Verständnis finden; das garantiert uns schon Gottes Allwissenheit, Güte und Gerechtigkeit und wir werden hievon nicht erst dadurch überzeugt, dass Jesus sich uns gleichgestellt hat und wie wir versucht worden ist.“ Was weißt denn du von Gott? Hast du mit ihm geredet oder er mit dir? Bist du in den Himmel emporgestiegen und hast ihm in sein Angesicht geschaut? An Jesus werden wir dessen gewiss, wie Gott sich zu uns stellt. Allerdings stimmt das, was wir an Christo sehen, trefflich mit dem überein, was unser Geist von Gott weiß und hofft, so wie er nur irgendwie an ihn denkt. Aber unser Wünschen und Vermuten ist noch keine Gewissheit, sondern bedarf der Bestätigung und Bewährung an Gottes Werk. Durch Christus ist uns gezeigt, wie Gott an uns handelt. Durch den, der durch unsere Versuchung hindurchgegangen ist und in unserer Schwachheit stand, so weit als ein Reiner und Heiliger schwach werden kann, wird unserer Schwachheit ein barmherziges Urteil vor Gott zuteil. Nun wissen wir, dass ein mitleidiges Auge vom Throne Gottes her auf dieselbe schaut.
Er ist ohne Sünde versucht worden. Das ist das Einzige, was er nicht mit uns geteilt hat, noch teilen durfte, wollte er unser Priester sein. Wäre er auch darin uns gleich geworden und seine Versuchung ihm zum Fall geworden, so wäre er nicht mehr über alle Himmel emporgestiegen; denn die Sünde zieht in die Tiefe herab. So könnte er auch nicht mit uns mitfühlen in Barmherzigkeit; denn die Sünde löscht das Mitleiden aus und ist der Liebe Schwächung und Tod. So wäre er nimmermehr ein Priester für uns, der uns von unseren Sünden lösen und befreien kann. Darin, dass er wohl in der Versuchung, aber nicht in deren Ausgang und Ende uns gleich geworden ist, liegt freilich tiefe Beugung für uns. Aber gerade die Beugung vor dem Sündlosen und Reinen wird uns zur Aufrichtung. Seine Reinheit ist seine Ausrüstung zum vollkommenen Priestertum, und der Anschluss an ihn, den Reinen, wird uns zur Reinigung.
Im Blick auf ihn treten wir freudig vor Gottes Thron, V. 16. Der wahrhaftige Priester geht nicht darum an unserer statt zu Gott, damit wir selbst von ihm ferne bleiben. Das wäre des Priestertums gänzliches Gegenteil, und würde dasselbe verkehren in sein falsches Widerspiel. Es ist die pfäffische Art, zu sagen: ich gehe für dich zu Gott, da brauchst du nicht auch zu kommen, als wäre das Priestertum nur für den Priester da. Christus dagegen geht gerade dazu zu Gottes Thron, damit wir nicht ferne stehen müssen, und bei Gott nicht einen Thron des Gerichts, des Zorns und der Vergeltung finden, sondern durch ihn zu Gottes Thron herzutreten können als zu einem Gnadenthron. Indem Gott uns einen solchen Hohenpriester gab, hat er uns seinen Thron zum Gnadenthron gemacht. Wir kommen durch Glauben und Bitten, durch Hoffen und Lieben, dadurch dass sich unser Herz in Jesu Namen nach oben streckt. Und wir kommen um seinetwillen nicht vergebens. Erbarmung und Hilfe zu rechter Zeit, das ist die Antwort, die kraft des Priestertums Jesu zu uns von Gott herniedersteigt.
Sind wir mit unserm Hohenpriester nicht besser dran als Israel mit dem seinigen? Der Brief zählt nun auf, was alles nach dem Gesetz zum priesterlichen Amt erforderlich ist, 5, 1-4. Nichts von all dem fehlt Jesu und er hat noch mehr.
Ein Priester wird aus den Menschen genommen, V. 1. Das ist die erste Eigenschaft, die er haben muss. Er muss ein Mensch sein und zu denen gehören und mit denen leben, denen sein Amt zugutekommen soll. Sodann wird er für die Menschen eingesetzt, nicht Gottes wegen - nicht Gott bedarf des priesterlichen Werks auch nicht seinetwegen, zu seiner eignen Ehre und Erhöhung, sondern der Gemeinde wegen. Sein Amt ist ein Dienst, den Menschen getan, dessen Frucht und Ertrag diesen zufallen soll. Dieser Dienst hat aber darin seinen besonderen Charakter, dass er sich nicht wie jede natürliche Handreichung direkt auf den Menschen richtet, sondern sich nach oben wendet an Gott. Der Priester leistet mir Hilfe in meinem Verhältnis und Verkehr mit Gott. Er verschafft mir Gottes Gnade und Hilfe und greift für mich in den göttlichen Reichtum hinein, um für mich aus demselben diejenige Gabe zu holen, die ich wohl bedarf, jedoch nicht selbst erlangen kann. Was mich der Handreichung und Vermittlung des Priesters bedürftig macht, das sind meine Sünden. Sie stehen zwischen mir und Gott, und verwehren mir, selbst die Hand nach Gottes Gabe auszustrecken. Darum ist das Opfer die Hauptsache am priesterlichen Dienst.
Das ist ein Kerngedanke unsers Briefs, der öfter wiederkehrt. Ohne Opfer gibt es kein Priestertum. Wer opfert, der handelt priesterlich, und wie das Opfer, so ist der Priester. Mit unserm Sündigen raffen wir Gottes Gaben an uns und ziehen unsere Kräfte, die uns von ihm anvertraut sind, von ihm ab. Wir nehmen seinem Namen seine Ehre, seinem Gebot seine Gültigkeit, seiner Güte das Ziel, das sie in uns sucht. Wie sollen wir dies aufheben und heilen anders als durch das Opfer? Statt zu nehmen müssen wir lernen Gott zu geben, statt auf uns zu ziehen, was sein ist, ihm darzubieten, was unser ist. Dazu brauchen wir jedoch den Mittelsmann, der von Gott ermächtigt ist, vor ihn zu treten und ihm unsere Gabe darzubringen, und ermächtigt, um des Opfers willen in Gottes Namen zu vergeben und Gnade zu erzeigen. In der Hand des Sünders ist auch die Gabe sündig. Nur in des Priesters Hand ist das Opfer rein und wohlgefällig.
Soll uns der Priester gegen unsere Sünden mit seinem Opfer behilflich sein, so muss er Milde und Nachsicht üben können, V. 2. Wenn er jeder Sünde mit dem rächenden Zorn entgegenträte, so wäre er mir nicht zum Priester, sondern zum Richter und nicht für mich, sondern wider mich eingesetzt. Es schweben hierbei dem Briefe die Schranken vor, in denen sich das alttestamentliche Priestertum nach dem Gesetze halten musste. Es durfte nicht jegliche Sünde mit dem Opfer sühnen und jedem Übeltäter Hilfe bieten. Es gab hier eine Grenze, wo der Priester abtreten musste und der Altar dem Schuldigen verschlossen ward, wo das Werk des Richters begann und die Gemeinde den Bösen aus ihrer Mitte auszurotten hatte. Das geschah dann, wenn das Gebot mit bewusster frecher Empörung zerrissen worden war. Wenn aber Unwissenheit und Betörung die Sünde erzeugt hatten und mit reuiger Abwendung von derselben das Gebot als gültig und heilig geehrt wurde, da ging der Priester an sein versöhnendes Werk. Für die Blinden und Verirrten war er eingesetzt. Ihnen erwies Gott durch ihn Barmherzigkeit.
Der alttestamentliche Priester war zur Milde und Schonung wohl befähigt, da er ja in derselben Schwachheit stand wie die Gemeinde um ihn her, V. 3. Auch erinnerte ihn das Gesetz sehr nachdrücklich an dieselbe. Es ließ ihm nicht zu, dass er nur für die Gemeinde opfere, als wäre er selbst rein und heilig und nur das Volk sündig und seines Opfers bedürftig, sondern es verpflichtete ihn, ganz ebenso für sich selbst zu opfern wie für das Volk. Es ließ ihm keine Überhebung über die Gemeinde zu, als stünde er höher als sie, sondern stellte ihn in ihre Mitte als in derselben Sünde stehend und derselben Versöhnung bedürftig.
Aber noch eine weitere Eigenschaft gehört wesentlich zum Priestertum als dessen notwendige Grundlage. Solchen Dienst wählt und nimmt sich niemand selbst. Dazu bedarf es der Berufung durch Gott, V. 4. Priesterliche Macht wird allein von Gott empfangen als seine Gabe; nur er kann einen Menschen ermächtigen, in seinem Namen Gnade zu erzeigen und Hilfe darzureichen. Ein selbsterwähltes Priestertum ist Lüge und Trug, Überhebung über Gott, Zauberei und Götzentum. Solche göttliche Berufung hat Aaron in der Tat empfangen. Er ist durch Gottes Einsehung zum Priester geworden.
Also, mochte ein jüdischer Mann sagen, was fehlt uns denn? Es ist uns ja alles dargereicht, was wir bedürfen. Gott hat uns einen Priester gegeben, dessen Opfer unsere Sünde tilgt und dessen Segen ihren Fluch von uns nimmt.
Ist Jesus, fragt unser Brief hiergegen, durch eigene Wahl zum Hohenpriester geworden? Fehlt ihm Gottes Berufung und Einsehung? Ihr seht ihn in der Herrlichkeit als den auferstandenen und zu Gott erhöhten; fiel ihm denn diese Herrlichkeit durch den Griff seiner eignen Hand zu, ohne Gott, wider Gott? Nein! das war die Gabe des Gottes, der zu ihm sprach: du bist mein Sohn, V. 5. Der Sohn macht sich nicht selbst zum Sohn; der Vater macht ihn dazu, und des Vaters Wort hebt ihn in das Sohnesrecht und die Sohnesherrlichkeit empor, in der er unser Hoherpriester ist.
Dieses erste Schriftwort redet allerdings noch nicht direkt von Jesu Priestertum, wohl aber vom Grund und von der Wurzel desselben. Aus Jesu Sohnesstellung zu Gott stammt alles, was er als Priester für uns vermag und tut. Dazu fügt nun der Brief noch ein zweites Schriftwort, Ps. 110, 4, welches ihm bestimmt und ausdrücklich das Priestertum überträgt als Gottes. Auftrag und Stiftung, und zwar ewiglich, so wie es Melchisedek hat, V. 6.
Blicken wir auf Jesu Lebensgang. Wie deutlich tritt hier ans Licht, dass er nicht eigenwillig und eigenmächtig sein Amt an sich riss, sondern es aus Gottes Händen entgegennahm. Er hat nicht einmal, als ihm das Sterben nahe trat, zur Selbsthilfe gegriffen, sondern allein in Gott denjenigen gesucht, der ihn aus dem Tode erretten konnte.
Er hielt sich ans Bitten und wartete auf die Erhörung. Und gerade diese sorgsame Furcht, die nicht keck zufährt nach des eignen Willens Regung, sondern dem Verlangen des eignen Herzens die Schranke stellt: wenn es der Vater will! und es, so rein und recht es ist, dennoch im Zügel hält, bis der Vater geredet und der Vater geholfen hat, das wars, was ihm die Erhörung brachte. So machte er aus seinem Leiden eine Schule des Gehorsams, eine Übung der völligen Ergebung in Gott, und nur auf diesem Wege wurde er unser Priester in Herrlichkeit, V. 7 u. 8.
Und so fehlt ihm auch das höhere Gegenbild zu jener Schwachheit nicht, welche Aaron mit allen andern Gliedern der Gemeinde teilt, und zu jenen Opfern, die der Priester für sich selbst darbringt. Ärgert euch doch nicht, sagt uns der Brief, an Jesu Erniedrigung. Er hat sich allerdings euch völlig gleichgestellt. Auch er liegt vor Gott als der Bittende; auch seine Stimme wird zum lauten Ruf, der Gottes Ohr sucht und Hilfe begehrt; auch in sein Gebet mischen sich die Tränen. Er bittet nicht nur für euch, er bat auch für sich selbst. Das ist sein Opfer, das er Gott darbringt. Gehorsam gibt er ihm, seinen Willen lässt er ihm ganz und gar, und dieses innerlichste wahrhaftige Opfer bringt er nicht nur im Blick auf uns dar, sondern auch im Blick auf seine eigene Person, auf den Ausgang seines eignen Lebens. Es ist eben auch bei ihm wahr: aus den Menschen wird derjenige genommen, der Priester sein soll, einer, der ihre Schwachheit an sich selber trägt. Diese Zeichen seiner Schwäche und Niedrigkeit sind die Kennzeichen seines priesterlichen Werks, um deren willen ihr ein herzliches Vertrauen zu ihm fassen sollt.
Wir werden besonders an die Stunde in Gethsemane denken und an die Bitten am Kreuz, obwohl dieses Flehen und Bitten, diese sorgsame Zurückhaltung, diese Gehorsamsübung im Leiden nicht nur auf die letzten Stunden Jesu einzuschränken ist. Der Vorblick auf das Leiden, wie er schon längst in Jesu Seele lag, war auch schon Leiden, und jene Nächte des Gebets, von denen uns die Evangelien erzählen, und all jene sorgsame Zurückhaltung, die durch keinen Erfolg sich blenden ließ, nach keinem augenblicklichen Vorteil haschte, sondern sich geduldig schmähen, verkennen und anfechten ließ und ruhig mit ansah, wie die Dinge sich immer mehr und mehr dem Kreuz zuwandten; das alles gehört auch zur Gehorsamsschule und zum Gebetsopfer, von dem hier gesprochen wird.
Die Schwere dieses Weges bestand darin, dass in demselben ein Gegensatz zu seiner Sohnesstellung lag. Obgleich er der Sohn war, lernte er an seinem Leiden Gehorsam, V. 8. In der Bahn des Sohns liegt freilich nicht Ungehorsam, aber auch nicht eine solche Gehorsamsschule, sondern ein freies, volles Zusammenstimmen des väterlichen Willens mit dem seinigen, ein Verhalten des Vaters zu ihm, das ihm Macht und Raum gab, ohne Hemmung und Not dem Willen des Vaters zu dienen, ein Auftrag des Vaters, der ihm den Gehorsam zum Leben machte, nicht aber in den Tod ihn führte, zur Ehre, nicht aber zur Erniedrigung. Aber nicht einmal seinen Sohnesnamen macht er gegen die Entscheidung des Vaters geltend und er überlässt es dem Teufel zu folgern: weil du Sohn Gottes bist, so schaffe dir allewege Brot. Vielmehr zieht er aus seinem Sohnesnamen Trieb und Kraft zu einer Hingebung, die auch im Tode nur auf den Vater blickt und nur im Bitten die Errettung sucht.
Dieser neue Blick auf Jesu Leiden ergänzt und erklärt die erste Betrachtung desselben, welche das zweite Kapitel enthält. Dort war uns gezeigt, was Jesum zu uns zieht; hier, was ihn am Vater hält. Dort sahen wir im Leiden den Bruder, der mit seinen Brüdern alles teilt; hier den Sohn, der dem Vater alles übergibt. Dort hieß es: er hat Barmherzigkeit gelernt; hier: er hat Gehorsam gelernt. Nun ist ausgesprochen, warum er in allem versucht ward: er war in allem auf Gehorsam gewiesen. Nun ist uns gezeigt, worin sein Sieg bestand: er hat willig den Gehorsam als sein Ziel ergriffen, das er in tätiger Übung zu erreichen hatte. Nun kennen wir den Grund jener Macht, an der Tod und Teufel scheitern, und jenes priesterlichen Rechts, mit dem er unsere Sünden beseitigt: sein Gehorsam ist die Waffe, an der der Teufel fällt, und sein Gehorsam ist das Mittel, mit dem er Gottes Gnade uns aufgeschlossen hat. Seine Liebe zu uns und sein Gehorsam gegen den Vater, das sind die beiden Edelsteine, die Jesu Kreuzesbild schmücken. Sie sind untrennbar voneinander. In seiner Liebe zu uns ward er dem Vater gehorsam, und in seinem Gehorsam gegen den Vater ward er barmherzig gegen uns.
Er hat uns damit den Heilsweg geöffnet und gezeigt. Wir finden seine Gabe auf demselben Wege, auf dem er sie uns erworben hat. War er gehorsam, so kann auch uns nur Gehorsam helfen. Denn er, der gehorsam geworden ist, zieht nicht die Widerspenstigen zu sich. Ihm sollen wir gehorsam sein, wie er es dem Vater war, V. 9. Dann fällt uns die Frucht seines Gehorsams, der ihn in die Vollkommenheit erhob, dadurch zu, dass er uns eine ewige Errettung verschafft.
Weil er dies kann und soll, darum hat ihm Gott auch den Priesternamen gegeben, V. 10, und dies nicht nur so, dass er ihn Aaron gleichstellte, sondern so, dass sein Priestertum als von neuer und höherer Art beschrieben ist, da es nicht in Aaron, sondern in Melchisedek seinen Namen und sein Vorbild empfangen hat.