Schlatter, Adolf - Der Galaterbrief - Vorwort.

Schlatter, Adolf - Der Galaterbrief - Vorwort.

Neigung, zum Judentum überzugehen, hat niemand unter uns. Tut's denn not einen Brief zu lesen, der uns vom mosaischen Gesetz ablenkt und Christus dem Gesetz entgegenstellt? Die rituellen Dinge, die dabei in Frage kommen, sind Nebensache. Paulus hat die Frage unendlich tiefer gefasst, so tief, dass sein Wort uns allen unsern Weg beschreibt.

Warum sind wir eigentlich fromm? Man hat uns gesagt, dass wir hie und da an Gott denken müssen, und wir fühlen uns auch selbst dazu verpflichtet, Gott nicht völlig zu vergessen. Wir halten uns zur Kirche, weil es uns als unsere Christenpflicht erscheint und es sich nach unserer Meinung ziemt, Gott einige Ehre zu erzeigen. Die Bibel gilt uns als Gottes Wort, obgleich wir sie nicht kennen noch verstehen. Aber wir sagen, die Schriften der Apostel und Propheten müssen uns doch als heilig gelten und wir sind verpflichtet, hie und da in denselben zu lesen. Wir beten, weil wir's zu unserer Schuldigkeit rechnen, Gott einige Zeit zu widmen und bei Tisch oder sonst bei passender Gelegenheit ihm zu danken und unsere Bitten vor ihm auszusprechen. Und warum glauben wir? weil man doch annehmen muss, was in der Bibel steht und dem göttlichen Wort nicht widersprechen darf. Wir müssen, wir fühlen uns verpflichtet, die gute Sitte fordert es, es ist kirchlicher Brauch, es steht in der Bibel, es ist uns vorgeschrieben, man hat's uns gesagt - ist das alles? Wenn das alles ist, so kennen wir bloß das Gesetz! Eben hiervon redet der Galaterbrief.

Kann man denn überhaupt anders zu Gott stehen? anders zur Kirche und zur Bibel? anders beten, anders glauben? nicht nur weil man verpflichtet ist und muss? Darauf steht die Antwort im Galaterbrief.

All das ist ohne Zweifel unsere Pflicht und Schuldigkeit. Wir sind verpflichtet, Gottes zu gedenken, verpflichtet, zur Kirche Gottes uns zu halten, das Wort Gottes zu ehren, zu beten, zu glauben, fromm zu sein. Das ist alles echtes, heiliges Gesetz, nicht ein selbsterfundener Brauch. Auch Paulus spricht nicht von törichten Satzungen der Menschen, sondern von Gottes heiligem und giltigem Gesetz, aber er zeigt uns, dass wir etwas Höheres haben müssen und auch empfangen haben als nur Gottes Gebot: du musst!

Der Schaden an solcher Frömmigkeit ist der, dass wir zwar wohl mit unsern Lippen Gott ehren, aber unser Herz ihm ferne bleibt. Was ist ein Gottesdienst, ein Gebet, ein Glaube, den wir darum vollbringen, weil wir müssen, und nicht vollbrächten, müssten wir nicht? Unser Gottesdienst, unser Gebet, unser Glaube ist das nicht. Diese Dinge sind an uns, nicht in uns, von uns vollzogen, und doch nicht unser Eigentum. Wir haben eine doppelte Figur. Die eine legen wir an vor Gott, die andere sind wir selbst. Wen das schmerzt, wer das als Mangel an seiner Frömmigkeit empfindet, das sie wie ein von außen angezogenes Kleid an uns herumhängt, der lese den Galaterbrief. Dort ist uns eine bessere Weise gezeigt.

Niemand darf das Gesetz schelten. Rechtschaffene Sitte, guter Brauch, tüchtige Gewöhnung, lebendiges Pflichtgefühl sind unentbehrliche Stücke unseres Lebens, und je innerlicher das Gesetz in uns lebt, um so segensreicher wirkt es. Es lebt in uns, wenn ein zartes und wachsames Gefühl der Verpflichtung sich in uns regt und die Unruhe kräftig ist, wenn wir dasselbe ins Wanken bringen, und ein starker Antrieb von ihm ausgeht, der uns den Gehorsam unerlässlich macht. Es gehört auch zum Beruf der Kirche, dass sie das Gesetz unter uns erhalte, sowohl nach seinen äußeren Ordnungen, als nach seiner in das Herz hineinreichenden Macht. Der Durchgang durch das Gesetz ist in gewissem Maß der von Gott geordnete Weg für jedermann. Aber die eigentlichen Aufgaben der Kirche liegen über dem Gesetz und sind bei weitem noch nicht erreicht, auch wenn es mit der öffentlichen Frömmigkeit und Zucht aufs Beste unter uns bestellt wäre. An diese wahren Aufgaben der Kirche zu erinnern, ist das Amt des Galaterbriefs.

Man hört oft Klagen, dass unserem Volk in weiten Kreisen der Glaube verloren gegangen sei. Wäre es so, dann stände es bitterböse mit uns. Denn wenn ein Mensch Glaube empfangen hat, und wirft ihn wieder weg, so ist seine Lage höchst gefährlich. Aber von den Tausenden, welche die Kirche, das Evangelium und Christus auf die Seite legen, haben sicher viele nie gewusst, was Glaube ist. Sie haben dies schwerlich gehört, noch viel weniger erlebt. Was ihnen verloren ging, ist ein Stück Gesetz, ein Stück guter Sitte und Gewöhnung. Auch dies ist ein beträchtlicher und ernster Verlust. Dieser Gang der Dinge kann uns aber nicht befremden. Das hat ja Paulus aufs Bestimmteste gesagt, dass wir mit dem Gesetz noch nichts gewonnen haben, weil es die Übertretungen nicht verhindert, vielmehr in gewissem Sinne hervorbringt. Wie ist zu helfen? Auf dem Wege, auf den uns der Brief des Paulus stellt. Es gilt Glaube zu predigen, wie Paulus es uns vorgemacht hat.

Paulus ist nicht nur der Apostel der Galater gewesen, sondern er hat von Gott einen Beruf empfangen, der jede Zeit und auch uns umfasst. Er hat freilich sein Wort völlig den Leuten dienstbar gemacht, die er eben damals zu unterweisen hatte. Aber auch in dieser Herablassung zum besonderen Bedürfnis jener Gemeinden behält das göttliche Wort die Helligkeit und Fülle ewiger Wahrheit, die sofort auch für uns giltig ist. Es scheint mir unmöglich auszudenken, was alles in unserer Kirche, in unserem Volk, in unzähligen Lebensläufen anders würde, wenn wir uns entschließen könnten, den Apostel zu lesen und aufmerksam zu überdenken, was er sagt.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/s/schlatter_a/schlatter-galaterbrief/schlatter_galaterbrief_vorwort.txt · Zuletzt geändert:
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain