Rochat, Auguste - Das neue Leben als wesentliches Erforderniß des Reiches Gottes
„Jesus antwortete und sprach: Es sei denn, daß Jemand von neuem geboren werde, sonst Kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ (Joh. 3, 3.)
Große Uebel bedürfen großer Heilmittel. Dieser Grundsatz ist in Betreff der Seele eben so wahr, wie in Betreff des Leibes. Daher wendet das Evangelium, welches die tiefen Wunden unserer Seele heilen soll, hierzu Mittel an, wie sie die Größe des Uebels erfordert. Natürlich wird man die Nothwendigkeit solcher starken Heilmittel nur da anerkennen, wo man den ganzen Schaden gefühlt hat. Ist's deßhalb zu verwundern, wenn die Ausdrücke, deren der heilige Geist sich über unsre geistliche Genesung bedient, Denen, welche noch nicht die Tiefe des menschlichen Verderbens kennen, übertrieben erscheinen? Wenn die heilige Schrift von der Veränderung redet, die mit einem Menschen vorgehen muß, um ein Christ zu werden, so schreibt sie dieselbe der allmächtigen Kraft des heiligen Geistes zu; sie nennt diese Veränderung eine Umwandlung, die Erneuerung unseres Geistes, die Bildung einer neuem Kreatur, ein neues Leben, oder auch, um mit unserm Text zu reden, eine neue Geburt.
Diese Ausdrücke mißfallen vorerst gewöhnlich dem Menschen und stoßen ihn ab, weil sie ihn sein ganzes Elend fühlen lassen und zugleich die ganze Weite der neuen Laufbahn, die ihm das Evangelium eröffnet und vorzeichnet. Aber es ist unsere Pflicht, als Diener Christi diesem falschen Widerstreben nicht in etwa nachzugeben, sondern wir haben den Menschen das Evangelium darzubieten, wie es ist, und nicht, wie sie es wünschen.
Wenn wir uns den Menschen zu Gefallen mit allgemeinen hochtönigen Redensarten gegen die Untugenden oder Laster begnügten, oder wenn wir fürchteten, ihnen zu sagen, daß man durch den Geist Gottes umgewandelt und ein neuer Mensch werden muß: so würden wir nicht Christi Diener sein, sondern jenen falschen Propheten gleichen, denen Gott durch seinen Knecht Hesekiel vorwarf, das schlechte Gemäuer nur zu übertünchen, und die Wunden seines Volkes leichtfertig zu verbinden. Wir würden jenen Lehrern gleichen, von denen derselbe ferner spricht, daß sie allen Leuten Kissen machten unter die Arme und Pfühle (oder Hüllen) für die Häupter, den Großen und den Kleinen, um die Seelen zu fangen und zu verführen (Hes. 13, 1 - 18.). Wir würden dazu beitragen, den Sünder in seiner Unbußfertigkeit zu lassen und ihn zu verblenden; sein Verderben würde auf unser Haupt fallen, und wir würden uns selbst ewigen Schaden bereiten. Es ist daher eine heilige Pflicht für uns, Euch von einem Gegenstand zu reden, der, schlecht verstanden oder vernachlässigt, das ganze religiöse Gebäude, wie es sich der Mensch zu errichten sucht, über den Haufen wirft, so daß seine Arbeit verfehlt und verloren ist; eine heilige Pflicht zwingt uns, Euch mit dem Heiland zu sagen: „Es sei denn, daß Jemand von neuem geboren werde, sonst kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Wir betrachten also hiernach
Das neue Leben
als wesentliches Erforderniß des Reiches Gottes, und sehen
- wie dazu eine neue Geburt, als eine völlige Herzensumwandlung, nöthig ist; - an welchen Kennzeichen wir abnehmen können, ob wir davon Erfahrung gemacht haben.
I.
„Es sei denn, daß Jemand von neuem geboren werde,“ sagt der Heiland. Ihr werdet ohne Zweifel sogleich verstehen, daß diese Worte bildlich und in einem geistlichen Sinne zu nehmen sind. Wenn man nur in etwa die Schrift kennt, so weiß man, daß sie unter dem Namen „neue Geburt“ oder „Wiedergeburt“ die Erneuerung bezeichnet, welche das Evangelium durch den heiligen Geist in uns vollzieht, sobald er in unser Herz einkehrt. Im 1. Capitel seines Evangeliums sagt Johannes von Denen, die den Heiland aufgenommen haben und an seinen Namen glauben, daß sie nicht ans dem Geblüt, noch von dem Willen des Fleisches, oder von dem Willen des Menschen, sondern von Gott geboren sind (Joh. 1, 12. 13.). Derselbe Apostel wendet in seinem 1. Briefe denselben Ausdruck an, wenn er sagt: „Wer da glaubt, daß Jesus sei der Christ, der ist von Gott geboren“, oder: „Alles, was von Gott geboren ist, überwindet die Welt“ (1. Joh. 5, 1.4.). Paulus bedient sich derselben Sprache: „Ist Jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur“ (2. Cor. 5, 17.). Er sagt den Gläubigen, daß Gott sie errettet hat durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des heiligen Geistes (Tit. 3, 5.). Und der Apostel Petrus sagt ihnen ebenfalls: „Ihr seid wiedergeboren nicht aus vergänglichem, sondern aus unvergänglichem Samen, nämlich durch das Wort Gottes, das da ewiglich bleibet“ (1. Petri 1, 23.). Ebenso erinnert Jakobus die Christen daran, daß „Gott sie gezeugt hat nach seinem eignen Willen durch das Wort der Wahrheit“ (Jak. 1, 18.). Diese, so wie zahlreiche andere Stellen scheinen uns genügend, um zu beweisen, daß die Schrift sehr oft die Ausdrücke „neue Geburt“, „Wiedergeburt“ anwendet und damit die Umwandlung bezeichnet, die mit einem jeden Menschen vorgehen muß, damit er ein Christ werde und in das Reich Gottes eingehen könne. Diese Ausdrücke „neue Geburt“, „Wiedergeburt“ deuten ganz klar eine Veränderung an, die weit mehr als eine bloße Besserung ist; eine Veränderung, welche die ganze Seele beeinflusst und ein ganz neues Leben ihr mittheilt. Dasselbe erklärt auch die Schrift, wenn sie sagt, daß Der, welcher ein wahrer Christ wird, aus der Finsterniß zum Licht kommt, aus dem Tode zum Leben, aus der Gewalt des Satans in das Reich Gottes (Eph. 5, 8.; Apg. 16, 18.; 1. Joh. 3, 14.).
In der That, wenn wir den Menschen in seinem natürlichen Zustande betrachten, so sehen wir, daß er nicht anders ein Christ werden kann, als durch eine solche gänzliche Erneuerung, die seinen Geist erleuchtet, seine Neigungen ändert und seinem ganzen Leben eine andere Richtung gibt. In seinem natürlichen Zustande sieht der Mensch nicht, daß seine Seele das Theuerste ist, was er besitzt, und das, womit er sich vor allem Andern zu beschäftigen hätte. Er denkt höchstens an seinen Leib, oder wenn er an seine Seele denkt, so geschieht es nur, um sie an den sinnlichen Freuden Theil nehmen zu lassen und ihr mit dem reichen Manne im Evangelio zu sagen: „Liebe Seele, du hast nun Vorrath auf viele Jahre; habe nun Ruhe, iß, trink und habe guten Muth“ (Luk. 12, 19.). In seinem natürlichen Zustande erkennt der Mensch nicht, daß seine Seele geschaffen ist, um ihr Glück in Gott und in seiner Gemeinschaft zu finden, und wenn er es zuweilen mit dein Munde bekennt, so straft sein Herz ihn Lügen. Er fühlt nur Kälte und Gleichgültigkeit gegen Gott, wogegen er sich für die Dinge dieser Welt aufopfert. In seinem natürlichen Zustande fühlt der Mensch nicht, daß Alles zur Ehre Gottes und unter seiner Leitung geschehen muß. Er will seiner eigenen Ehre, nach seinem Willen und nach seinen Lüsten leben; anstatt Gott zu verehren, betet er sich selbst an; anstatt dem ewig zu preisenden Schöpfer zu dienen„ dient er dem Abgott der Eigenliebe. Wenn der Mensch sich in seinen selbsterwählten Gewohnheiten dem Willen Gottes widersetzt, und Gott ihn auffordert, seinem ungöttlichen Wesen zu entsagen, um nicht seinen Züchtigungen anheimzufallen, so klagt der Mensch ihn an als einen harten Herrn, als einen Feind seiner Freuden und seines Glückes. Wagt er es nicht immer, sich über Gott selbst zu beklagen, so beklagt er sich doch über Die, welche sein Wort verkündigen, und ist geneigt, sie als Menschen zu betrachten, welche übertreiben und Gott strenger schildern, als er ist. Was ihn betrifft, so macht er sich einen Gott nach seinem Bilde, einen Gott, der für den Sünder paßt, einen „lieben Gott“ ohne Gerechtigkeit und Heiligkeit. In seinem natürlichen Zustande richtet der Mensch fast alle seine Handlungen nur aufs gegenwärtige Leben. Er sieht nirgends Reales, als in dieser vergänglichen und trügerischen Welt. Das Leben scheint ihm unaufhörlich, und obgleich der Tod jeden Tag in seiner Nähe anklopft und seit beinahe 6000 Jahren unablässig seine Ernte hält, so ist der Mensch doch so verblendet, daß er kaum mehr an den Tod denkt, gerade als wenn er unsterblich wäre. Es scheint in der That, als wenn der Teufel zu allen Menschen, wie zu unsern Vorältern spräche: „Ihr werdet mit nichten des Todes sterben,“ und daß es ihm gelingt, sie mit dieser Lüge zu bethören. Ein letzter Zug, welcher den Menschen in seinem natürlichen Zustand schildert, und woran Du erkennen magst, ob Du noch in diesem Zustand bist, ist der, daß er sich in seinem eigenen Bilde, wie es ihm die heilige Schrift vorhält, nicht wiederkennt, und daß er, so unverständig, blind und entfernt von Gott er auch ist, dennoch diesen seinen Zustand läugnet und behauptet, weder das eine, noch das andere zu sein.
Derjenige, welcher in den Zügen, die ich so eben nach der Schrift entworfen habe, den Grund seines Herzens erkennt, hat schon einen Schritt zur Wiedergeburt gethan. Denn der erste Schritt, den man in dieser Richtung macht, ist der, anzuerkennen, daß man „arm, blind, elend und bloß ist.“ Der Mensch fängt an, einzusehen, daß er ein gefallenes, tief gesunkenes Wesen ist, daß „in ihm, das ist in seinem Fleische, nichts Gutes wohnet;“ daß sein Herz fortwährend widerstrebt, Gott zu lieben und seinen Willen zu thun. Er erkennt, daß er bis dahin nicht für Gott gelebt hat, daß bei vielen Handlungen, für welche die Welt ihm Lob spendete, nicht die Liebe zu Gott die Triebfeder war, sondern daß er von dem Wunsche getrieben wurde, bei den Menschen anerkannt zu sein, wegen seines guten Charakters gerühmt zu werden, als ein Mensch mit einem guten Herzen und einer edlen Seele zu gelten; von dem Wunsche, seine zeitlichen Interessen zu fördern, und sich vor den traurigen Folgen zu bewahren, die manche Uebertretungen schon auf dieser Erde begleiten. Er erkennt, daß es nur der fehlenden Gelegenheit zuzurechnen war, oder zuweilen von einer gewissen natürlichen Schlaffheit herrührte, daß er an besondern Ausschweifungen, die Andere sich vorzuwerfen haben, nicht Theil genommen hat. Er erkennt, daß er bei aller weltlichen Ehrbarkeit nicht den geringsten Eifer für die Ehre Gottes besaß; daß ihn die Ausbreitung seines Reiches wenig kümmerte; daß er die Lauheit und die Laster, die in der Welt herrschen, gleichgültig mit ansah; daß er sogar mit Dingen, die das Gesetz Gottes ganz bestimmt verdammt, und über die man viel lieber weinen möchte, seinen Scherz treiben konnte. Weit entfernt, seine Sünden auch fernerhin nur als verzeihliche Schwächen zu betrachten, fängt ein Solcher, bei dem das Licht des Evangeliums sich Bahn gebrochen, alsbald an, die Strafbarkeit und Abscheulichkeit derselben zu fühlen, weil er Gott erkennt, wie er ist, und wie das Evangelium ihn uns zeigt, als einen Gott, vor dessen Größe Alles zu Nichte wird; als einen Gott, in welchem eine erhabene Majestät sich offenbart; als einen Gott, „von dem, durch den und zu dem alle Dinge sind, und welchem gebührt das Lob, die Ehre, der Ruhm und die Kraft bis in die Ewigkeiten der Ewigkeiten.“ - Auch sieht Der, welcher so erleuchtet wird, Gott an als den Allerheiligsten, „dessen Augen zu rein sind, um das Böse ruhig anzusehen,“ vor dem selbst „die Bewohner der Himmel nicht rein sind“; welcher erklärt, daß ihm „alle Uebelthäter“ ein Gräuel sind, und „daß der Böse nicht wird vor ihm bleiben können.“ Mit einem Wort, Gott zeigt sich dem Menschen, der sich bekehrt, als einen Gott, „dessen Gerechtigkeit stehet wie die hohen Berge, und sein Recht wie die große Tiefe“ (Ps. 36, 7.), und der wegen seiner vollkommenen Heiligkeit den Strafbaren nicht für unschuldig halten kann, sondern ihn bestrafen muß nach dem Maß seiner Übertretungen.
In diesem Zustande und in Gegenwart eines für die Sünder so furchtbaren Gottes erkennt sich der Mensch als verloren und im elendesten Zustande befindlich. Er geht durch die Schrecken der Verdammniß und erkennt mit David, daß Gott gerecht erfunden würde, wenn er ihn verurtheile (Ps. 51, 6). Er sieht keine andere Hülfe mehr, als die Barmherzigkeit Gottes und schreit: „Gott sei mir gnädig nach deiner Güte, und tilge meine Sünden nach deiner, großen Barmherzigkeit!“ (Ps. 51. 3.) Wie lobt man dann den Gott des Evangeliums, welcher in Christo freie Vergebung anbietet nach dem Reichthum seiner Gnade allen Denen, die da glauben! Wie lobt man den Vater, der seines eigenen Sohnes nicht verschonet hat, und den Sohn, weil er Sünder so geliebt hat, daß er, der Gerechte, starb für die Ungerechten! Ist man dahin gekommen, so schwindet die Anmaßung, Gott seine eigene Gerechtigkeit und seine eigenen Verdienste anbieten zu wollen; der Stolz ist gebrochen, und man mag Gott nichts Anderes bringen, als das Verdienst seines Sohnes. Weit entfernt, Einwendungen gegen das Geheimniß des Evangeliums zu erheben, scheint uns dann nur das Eine unbegreiflich, daß Gott eine strafbare Welt noch also lieben konnte, daß er dafür seinen eingebornen Sohn gab, ja daß es ihm gefallen hat, elenden Geschöpfen, die seine Feinde waren und nur ewige Verdammniß verdienten, ein ewiges Heil zu bereiten.
Nun versteht Ihr's wohl: sobald das neue Leben in eine Seele gekommen ist, so nehmen Gedanken, Begierden und Wandel eine ganz andere Richtung. Von da an gewinnt der Himmel und das Zukünftige Realität, und das Gegenwärtige verliert an Werth. Man fühlt, daß unsere Lebenszeit vor Gott wie ein Nichts ist, und daß wir „unsre Jahre zubringen wie ein Geschwätz.“ Die „Zukunft des Herrn“ fängt an, eine wichtige Stelle in unsern Zukunftsgedanken einzunehmen: sie bestimmt je mehr und mehr unsere Wünsche, unsere Pläne, unsere Hoffnungen. Wir trachten nun nach dem, was droben ist, und das Trachten nach dem, was auf Erden ist, nimmt in demselben Maße ab. Wir lernen das Herzensgebet kennen und üben, lernen mit Assaph sagen: „Das ist meine Freude, daß ich mich nahe zu Gott halte.“ So entsteht statt des kalten Formengebets ein wahrer Herzensumgang mit Gott, wo die Seele ihm kindlich ihre täglichen Sünden bekennt und für jede Stunde, ja, jeden Augenblick seine Gnade begehrt, aber ihn auch dafür preisen kann, daß seine Güte jeden Morgen neu wird. Nun wird's eine süße Pflicht, Gott den Dienst und den Tag zu weihen, der ihm gebührt. Ja, man kann dann den Sabbath in Wahrheit den Ruhetag der Seele und ihre Lust und Wonne nennen. Dann sagt man nicht mehr, um seine Lauheit zu entschuldigen: „man könne nicht immer an Gott denken oder gar immer von ihm reden;“ denn das ist jetzt der höchste Genuß geworden. Statt mit den Kindern dieser Welt sich immerfort in leeren Unterhaltungen zu langweilen, spricht man gerne mit Denen, die den Herrn lieb haben, vom Worte Gottes; ja, man beschäftigt sich stets damit, wie die beiden Jünger auf dem Wege nach Emmaus, wie' der Kämmerer der Königin Kandace auf seinem Wagen, wie die Maria in Bethanien, während ihre Schwester Martha das Mahl bereitete, wie Isaak, als er aufs Feld ging, und wie David während der langen Nachtwachen.
Eine so völlige Veränderung in den Neigungen ruft auch eine solche im Wandel hervor. Nun beginnt jener Kampf gegen die Sünde, jener Kampf des Glaubens, der nur mit dem Tode aufhören wird; man fängt an, für Gott zu leben, sich selbst zu verläugnen und dem Herrn das Kreuz nachzutragen. Die schlechten Gewohnheiten müssen dann nach und nach an Kraft verlieren, und Alles, was zur christlichen Heiligung gehört, macht sich Eins nach dem Andern geltend und sucht sich in demselben Maße, wie man im Leben fortschreitet, zu vollenden. So lernt man „darreichen in der Mäßigkeit Geduld, in der Geduld Gottseligkeit, in der Gottseligkeit brüderliche Liebe, in der brüderlichen Liebe allgemeine Liebe“ (2. Petri 1, 6. 7.). „Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich, was wohl lautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem denket man nach“ (Phil. 4, 8.).
Eine solche Veränderung kann man wohl eine neue Geburt nennen. Der, bei dem sie vorgeht, ist nicht mehr „todt in Sünden und Uebertretungen,“ wie ein Leichnam unbeweglich daliegt mitten in seiner Verwesung; er hat in seinem Herzen ein neues Leben. Christus wohnt in ihm durch den Glauben und hat in ihm einen „neuen Menschen gebildet, der je mehr und mehr erneuert wird nach dem Ebenbild Deß, der ihn geschaffen hat.“ Nach außen sind die Lebenszeichen desselben ein Wandel und Reden, welche kundgeben, daß „er es nicht mehr ist, der da lebt, sondern Christus lebt in ihm.“ Ja, das ist ein neues Leben, von dem man früher keine Vorstellung hatte, das man sogar für eine Thorheit hielt. Ein neues Lebensprincip, der Geist Gottes selbst, beseelt dasselbe und richtet es einem ganz neuen Ziele entgegen, nämlich mit Leib und Geist den Gott zu verherrlichen, der uns erkauft hat. Man tritt in eine neue Welt von Gedanken und Gefühlen, wo sich die Dinge unter einem ganz andern Gesichtspunkte darstellen, so daß man sie ganz anders beurtheilt und gleichsam ein geistliches Kind wird, das von neuem lernt, zu denken, zu empfinden, zu urtheilen, zu reden und zu wandeln.
Das Gesagte genügt wohl, um einen allgemeinen Begriff von der Wiedergeburt zu geben. Um jedoch den Verirrungen und Täuschungen vorzubeugen, die ein so wichtiger Gegenstand mit sich führen kann, glauben wir nun noch in den Hauptzügen die gesegneten Folgen und Ergebnisse der Wiedergeburt näher zur Selbstprüfung vorlegen zu müssen, und so betrachten wir nun
II.
Die besonderen Kennzeichen des neuen Lebens.
1) Das erste Kennzeichen der Veränderung, welche die Wiedergeburt in uns hervorbringt, besteht darin, daß sie eine innerliche ist, d. h. sie hat ihren Sitz im Herzen und in den Neigungen.
„Aus dem Herzen bringt der Mensch hervor Gutes und Böses“ sagt der Heiland (Matth. 12, 35.). Das Herz, als die Quelle des Lebens, mit allem Fleiß zu behüten, dazu mahnt uns auch Salomo (Spr. 4, 24.), und bei Samuel heißt es: „Gott siehet das Herz an“ (1. Sam. 17, 7.). An unser Herz wendet sich Gott, wenn er sagt: „Gib mir, mein Sohn, dein Herz!“ oder: „Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen,“ oder: „Selig sind, die reines Herzens sind!“ Wenn das Herz nicht erneuert ist, so ist in den Augen Dessen, „der Herzen und Nieren prüft,“ noch nichts verändert. - Hieraus kannst Du schließen, welchen Werth gewisse Verbesserungen haben, die man häufig mit der Wiedergeburt verwechselt, die aber im Grunde nichts mit derselben gemein haben.
Zuweilen kommt es ja wohl vor, daß ein Mensch, der ein sehr leichtsinniges und unordentliches Leben geführt hat, sich in seinem äußerlichen Wandel bessert und denselben nach bestimmten Regeln einrichtet, oder selbst religiöse Versammlungen mit einer gewissen Ausdauer besucht. Wäre dies Alles die Wirkung einer Veränderung in den innersten Neigungen; hätte ein solcher sein Elend gefühlt, sich am Fuße des Kreuzes gedemüthigt, und wäre so durch die Wirkung des heiligen Geistes ein neues Leben in sein Herz gekommen, nun, so könnte man sagen: dieser Mensch ist wiedergeboren und hat Hoffnung, zum Reiche Gottes zu gelangen. Ist aber eine solche äußere Veränderung nur die Frucht menschlicher Berechnungen; hat der Mensch dabei nur seinen guten Ruf oder sonstige zeitliche Interessen im Auge, oder sucht er nur die Unruhe des Gewissens zu ertödten, die ein gar zu langes gottloses Leben erweckt, und bleibt dagegen das Herz immer dasselbe, kalt gegen Gott, gefesselt an die Welt, fremd dem geistlichen Leben, nun, so können die Menschen zwar von ihm sagen: er sei bekehrt, und er selbst kann es sich einbilden; aber vor Gott ist er noch nicht bekehrt; er ist noch nicht von neuem geboren und kann so das Reich Gottes noch nicht sehen.
Man kann in bloß äußerer Besserung selbst noch weiter gehen, ohne neu geboren zu sein. Da empfängt man vielleicht gewisse religiöse Ueberzeugungen, mit denen man sein äußeres Leben in Einklang zu bringen sucht, um sein Gewissen zu beruhigen und sich selbst zu beweisen, daß man ein Christ sei. Man ist vielleicht stark ergriffen von den Schrecken der Hölle und versucht Alles, um sich davon zu befreien; man hat eine Art von Hinneigung für das Evangelium gefühlt, eine gewisse Ueberzeugung von der Wahrheit empfangen, oder hat auch den sehnlichen Wunsch nach einem neuen Leben; man fühlt sich durch den Einfluß eines frommen und begabten Mannes angezogen, oder durch eine religiöse Umgebung in seiner Familie und in seiner Verwandtschaft; man hört gern christliche Gesänge und auch wohl gewisse gottesdienstliche Handlungen; man geht oft wohl gar mit den Christen und ist in vielen Dingen mit ihnen thätig; ja, man kann sogar, wie Judas und Demas, das Evangelium predigen, kann wie Simon, der Zauberer, sich zu einem Philippus halten und ihn bewundern; man kann sogar eine Erleuchtung im Verständniß haben und schmecken die Gabe Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt (Hebr. 6, 5.); man kann starke Rührungen haben, ja selbst in Entzückungen und Ekstasen kommen, nicht bloß das Evangelium und seine Prediger bewundern, sondern auch von christlichen Erfahrungen sprechen und scheinbar schon im voraus die Freuden des Himmels schmecken, und dennoch - unbekehrt sein und zurückfallen der Art, daß man nicht wieder erneuert werden kann zur Buße (Hebr. 6, 6.).
Mit einem Wort, man kann Alles haben, ausgenommen ein Einziges, das alleinige und wahre Zeichen der Wiedergeburt, nämlich ein Herz, gereinigt durch den Glauben, oder „den Glauben, der durch die Liebe thätig ist“ (Gal. 5, 6.). Es bleibt dabei: „Wer da lieb hat, der ist von Gott geboren und kennet Gott; wer aber nicht lieb hat, der kennet Gott nicht; denn Gott ist die Liebe“ (1. Joh. 4. 7. 8.).
2) Daraus, daß diese Veränderung eine innerliche und gründliche ist, und daß sie durch eine neue Geburt kommt, ergibt sich nun weiter, daß sie nicht durch menschliche Kraft bewirkt werden kann, sondern als ein ausschließliches Werk Gottes nur durch die Macht des heiligen Geistes zu Stande kommt. Im 1. Capitel seines Evangeliums erklärt der Apostel Johannes, daß die Gläubigen „nicht aus dem Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches, oder eines Mannes, sondern aus Gott geboren sind“ (Joh. 1, 13.). Der Apostel Jakobus spricht zu den Gläubigen, „daß Gott sie gezeuget habe nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit“ (Jak. 1, 18.). In dem Brief an Titus sagt der Apostel Paulus, daß „Gott uns selig macht nach seiner Barmherzigkeit, durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des heiligen Geistes“ (Tit. 3, 5.). In der Unterhaltung mit Nicodemus, welcher unser Text entnommen, ist, erklärt ihm der Herr, woher die Wiedergeburt komme, indem er sagt: „Wahrlich“ wahrlich, ich sage dir: So Jemand nicht geboren wird aus dem Wasser und Geist, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch, und was vom Geist geboren wird, das ist Geist“ (Joh. 3, 5. 6.).
Da das Fleisch (das heißt die verdorbene Natur, welche wir mit in die Welt bringen) „Feindschaft gegen Gott“ ist, und „in ihm nichts Gutes wohnt“, so ist es ja einleuchtend, daß es sich selbst nicht erneuern kann; denn „Niemand kann das Reine aus dem Unreinen hervorbringen.“ Die verdorbene Natur kann wohl mancherlei äußerliche Veränderungen erleiden, die eine Frucht ihrer eigenen Anstrengungen sind; dieselben sind aber nur scheinbar und verbergen gleichsam als Verkleidung nur immer dieselbe Person. Die alte Natur kann anständigere Formen annehmen und erhabene Empfindungen nachmachen; aber es ist immer die alte Natur. Sie hat sogar vielleicht das Evangelium und seine Folgen fast verstanden und sucht sich vor Gott und Menschen in die Positur eines Christen zu stellen; sie weiß vielleicht auch, was Bekehrung heißt und sucht den Bekehrten zu spielen; aber eine Sache abbilden, heißt noch nicht, sie besitzen. Das Leben nachahmen, heißt nicht leben; sich verändern, indem man doch im Grunde Derselbe bleibt, ist also noch lange nicht dasselbe, wie neu geboren sein.
Wie ganz anders verhält es sich mit Dem, der aus dem Geist geboren ist! „Er ist Geist“, sagt der Herr. Was der allmächtige Geist Gottes gezeugt hat, das ist dem Vater ähnlich, aus dem es hervorgegangen. „Lebend im Geiste, wandelt ein Solcher auch im Geiste“ (Gal. 5, 25.); als „geistlicher Art“ (oder „nach dem Geiste“ geleitet) ist er auch „geistlich gesinnet;“ gestärkt durch den Geist, der wider das Fleisch ist, „tödtet er des Fleisches Geschäfte“ (Röm. 8, 13.). Ist man vom Geist geboren, so denkt, fühlt und lebt man geistlich, weil man den Trieb eines geistlichen Lebens in sich trägt. Dies ist doch ganz, etwas Anderes, als die geistliche Gesinnung erheucheln, ohne den Geist zu besitzen.
Nach dem Gesagten können wir mit Recht bekümmert sein um Solche, deren Sprache immer von dem eigenen Ich und von den eigenen Werken voll ist, und die fortwährend solche Redensarten im Munde führen, wie: „Ich habe mich geändert“; „ich habe mich bekehrt“; „ich habe mich enthalten“; „ich habe es mir zum Gesetz gemacht“ u. s. w. Diese beiden Wörter ich und mich werden in der Sprache und im Herzen des wahrhaft Wiedergebornen durch die Worte ersetzt: „Gott hat mich . . .“ Da erkennt man's: „Weß das Herz voll ist, deß gehet der Mund über.“ Der, welcher Alles sich selbst gegeben hat, sagt: „Ich habe mir gegeben“; wogegen Der, welcher Alles von Gott empfangen hat, auch bekennt: „Ich habe empfangen“ rc.
3) Das dritte Kennzeichen einer wahrhaften Herzenserneuerung ist, daß die neue Kreatur lebt im Glauben an den Sohn Gottes (Gal. 2, 20.). „Wer da glaubt,“ sagt Johannes „der ist von Gott geboren“ (1. Joh. 5, 1.). Ferner schreibt Paulus in seinem 2. Briefe an die Corinther: „Ist Jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur“ (Cap. 5,17.), und der Herr selbst bezeichnet Nikodemus, nachdem er mit ihm über die neue Geburt gesprochen, den Glauben als das Mittel dazu (Joh. 3, 15. 21.). Zu seinen Jüngern sagt er sogar: „Ohne mich könnet ihr nichts thun“ (Joh. 15, 5.). Nach dieser Erklärung des Herrn ist's offenbar, daß jede Veränderung, die nicht aus unserer Vereinigung mit Christo hervorgeht, vor Gott nichts gilt und also auch zu nichts führt. Wenn der Baum selbst nicht gut geworden und sein Saft nicht umgewandelt ist durch seine Verbindung mit Christo, so ist keine Frucht gut, und vor Gott noch nichts anders geworden. Darnach wollen wir uns denn über alle scheinbaren Veränderungen, die außerhalb des Glaubens an Christum vorgehen, unser Urtheil bilden. Ohne durch „die Thür“ eingegangen zu sein, kann man wohl den Schein haben, als ob man ein gutes Stück des Weges schon zurückgelegt hätte; aber früher oder später muß man, wenn man überhaupt noch ans Ziel gelangen will, wieder umkehren; denn Christus ist „der Weg, die Wahrheit und das Leben; Niemand kommt zum Vater, denn durch ihn.“ Man kann scheinbar viele christliche Erfahrungen machen und bei alle dem doch noch außerhalb des Wahren bleiben, wenn man nicht vor Allem die Erfahrung des Apostels Paulus gemacht hat: „Ich bin mit Christo gekreuzigt; ich lebe, doch nicht mehr ich, sondern Christus lebet in mir.“ Wenn man nicht die Gemeinschaft der Leiden in Christo kennen gelernt hat, kann man auch nicht die Kraft seiner Auferstehung kennen. Hast Du also nicht vor Allem Deine Rechtfertigung vor Gott durch das Blut Christi in's Reine gebracht, so ist alles Uebrige nur Täuschung. Denn in der Heiligung fließt Alles aus der Vereinigung mit Christo und aus der Gewißheit des Heils durch den Glauben an ihn.
Das neue Leben ist also nichts Anderes als „Christus, wohnend in unserm Herzen durch den Glauben“, Christus, wie er uns rein wäscht, uns rechtfertigt und heiligt, Christus, wie er unser Leben wird. Es ist Christus, wie er sein Wort an uns zur Erfüllung bringt: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“
Hiernach urtheilet denn, was man von der „Erneuerung“ Derjenigen denken muß, die, ohne Christum zu verwerfen, an ihrer Heiligung arbeiten, bevor sie gewiß geworden sind, daß sie in ihm Gott angenehm, von ihm angenommen und Gottes Kinder geworden sind, und deren Erfahrungen, anstatt eine Frucht und ein Siegel ihrer Vereinigung mit Christo zu sein, vielmehr alle in einem Geist der Furcht gemacht sind, um damit sich selber eine Verbindung mit Christo zu beweisen, welche noch nicht besteht, oder um dieselbe dadurch erst zu erringen.
In dieser vermeintlichen Erneuerung ist Alles falsch, weil Alles außerhalb des Lebens Christi liegt. - Das alte Leben, mag es auch in gewisser Hinsicht umgestaltet sein, bleibt doch immer das alte Leben. Sobald ein Mensch den Herrn Jesum durch lebendigen Glauben ausgenommen hat, so wohnt Christus in seinem Herzen, und das kann nicht sein, ohne daß er in ihm ein neues Lebensprincip wird. Von dem Augenblick an, wo ein Mensch zum Glauben kommt, erklärt ihn die Schrift für „aus Gott geboren“; folglich hat ein neues Leben in ihm begonnen. Vorher lebte er in der Furcht, jetzt in der Hoffnung; vorher zitterte er vor Gott, jetzt freut er sich in ihm und kann ihn Vater nennen. Der Geist Gottes, der in ihm wohnet, heiligt ihn; der Lebenssaft des geistlichen Weinstocks beseelt ihn und läßt ihn viele Frucht bringen. „Der Same Gottes bleibet in ihm, und er kann nicht sündigen (d. h. nicht in der Sünde leben); denn er ist aus Gott geboren“ (1. Joh. 3, 9.). Heißt das nicht, wahrhaftig „von neuem geboren sein“?
4) Wenn dies neue Leben naturgemäß wächst und sich in der Seele entfaltet, so kennt man es an seinen Wirkungen, und gerade hierin unterscheidet es sich sehr leicht von jeder scheinbaren Nachahmung der Wiedergeburt.
Die Veränderung, die es in der Seele hervorbringt, ist eine allgemeine, das heißt, sie erreicht alle Sünden und duldet nicht eine einzige. - Nur fasse man das Gesagte in seinem wahren Sinne und denke nicht, daß wir behaupteten, die Wiedergeburt versetze uns in einen Zustand vollkommener Heiligkeit. Leider verlassen wir erst mit dem Scheiden aus dieser Welt gänzlich diesen „Leib der Sünde“; oben erst werden wir nicht mehr sündigen können, weil wir „den Engeln gleich sein werden.“ Auf dieser armen Erde bleibt immerfort die Zeit des Kampfes, wo es immer gilt: „wachet und betet!“ Der Gerechte sündigt noch sieben Mal des Tages, und jemehr man in der Heiligung vorankommt, desto mehr sieht man, wie weit man noch vom Ziele entfernt ist, und desto mehr ruft man mit Hiob im Gefühle seiner Unwürdigkeit zum Herrn: „Siehe, ich bin zu leichtfertig gewesen; was soll ich dir antworten? ich lege meine Hand auf meinen Mund“ (Hiob 39, 34.).
Gegen die Selbstgefälligkeit einer nur theilweisen eigenen „Besserung“, welche noch eine oder mehrere Sünden unangefochten duldet, ist entschieden hervorzuheben: wenn das wahre Leben in eine Seele gekommen ist, so läßt dasselbe keine Sünde mehr darin bestehen, ohne sie zu bekämpfen. Der Geist Gottes, der dies neue Leben hervorgerufen hat, ist Feind alles dessen, was sich der Heiligkeit entgegenstellt. Er unterscheidet nicht, wie wir, zwischen Sünde und Sünde; er gibt keiner den Namen „verzeihliche Schwachheit.“ Er schreibt in das Herz des Wiedergeborenen die Erklärungen, wie er sie in seinem Worte hat aufzeichnen lassen: „Der, welcher sagt, daß er in Christo bleibe, der soll auch wandeln, gleich wie Er gewandelt hat!“ oder: „Da wir solche Verheißungen haben, so sollen wir uns reinigen von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes und vollenden unsre Heiligung in der Furcht Gottes.“ Johannes sagt mit so einschneidendem Ernste: „Jeder der diese Hoffnung hat zu Ihm, der reiniget sich, gleichwie Er auch rein ist. Jeder, der die Sünde übt, der übertritt auch das Gesetz; denn die Sünde ist eine Verletzung des Gesetzes. Und ihr wisset doch, daß Er ist erschienen, damit er unsre Sünden wegnehme, und daß in ihm keine Sünde (statthaft) ist. Ein Jeder also, der in ihm bleibt, der sündiget nicht; wer da sündigt, der hat ihn nicht gesehen, noch erkannt“ (1. Joh. 3, 3.-6.). Deßhalb muß jeder wahrhaft aus Gott geborene Mensch mit Paulus sagen können: „Unsere Zuversicht ist die, daß wir ein gutes Gewissen haben, und fleißigen uns, guten Wandel zu führen in allen Stücken“ (Hebr. 13,18.). Der, welcher eine einzige Sünde duldet, und nicht mit einer immer zunehmenden Aufrichtigkeit dagegen kämpft, zeigt damit, daß er nicht jene neue Geistes-Natur empfangen hat, die das Böse haßt, und Lust hat am Gesetze Gottes nach dem inwendigen Menschen.
Ein solcher Mensch will, durch sein Gewissen getrieben, mit Gott in gutes Einvernehmen treten und sagt: „Ich gebe in allen Stücken nach, ausgenommen eines.“ Aber ein solcher Vertrag, der Gott beleidigt und beweist, daß die Liebe zur Sünde noch im Herzen regieret, wird nimmermehr aus seiner Seele hervorkommen„ in der der heilige Geist wirkt, der ja eben so wenig Gott verachten, als eine verstümmelte Heiligkeit hervorbringen kann.
Ein Herz, das durch das Evangelium ergriffen, aber noch nicht wiedergeboren ist, kann sich in der Lage Herodis befinden, der Johannes den Täufer liebte, ihn achtete, zu Rathe zog, und „in vielen Dingen“ seine Weisungen befolgte, aber im Grunde doch immer der, sinnliche, weltlich-gesinnte, unbekehrte Herodes blieb, der endlich gar noch zum Mörder des Johannes wurde.
Ein sittsamer, anständiger Mensch kann, wie der Jüngling im Evangelio, nach dem ewigen Leben fragen, er hat auch vielleicht, wenigstens äußerlich, von Jugend auf die Pflichten gegen seinen Nächsten erfüllt, und kehrt dennoch um vor der Anforderung, um Jesu willen Alles zu verlassen. Die Liebe zum Geld besaß und beherrschte ja noch sein Herz. Es kostete ihm einen Kampf; denn der Jüngling ging traurig davon; aber dieser Kampf zwischen der Leidenschaft und dem Gewissen war ungleich, weil das Herz immer obsiegt, und dasselbe hier der Leidenschaft noch ergeben war. Es fehlte dem Jüngling nur noch Eins, aber gerade das Wesentliche: sein Herz war noch nicht durch eine Wiedergeburt zu Gott gewendet.
Sobald ein Herz wahrhaft von der Liebe Gottes durchdrungen ist, so bekämpft es alle Sünden, weil sie alle dem Willen Gottes, den er liebt, entgegen sind, und „man nicht zwei Herren dienen kann.“ Gott verdient, unser ganzes Herz zu besitzen, und er will es ganz und gar besitzen. Wenn man ihm einen Theil des Herzens vorenthält oder es ganz verweigert, so zeigt das, daß man andere Dinge mehr liebt, als ihn. Will man eine einzige Sünde bewahren, so wird dieselbe ein Götze, der alle unsere Neigungen regiert, und den wir an Gottes Stelle setzen; darum sagt Jakobus: „So Jemand das ganze Gesetz hält, und sündigt an einem, der ist es ganz schuldig“ (Jak. 2, 10.). Dies gilt hauptsächlich von Gewohnheitssünden, die eine offenbare Auflehnung wider Gott sind. Ist's doch ganz einerlei, womit man Gott seiner Hoheit beraubt, ob um einer Sünde zu dienen, oder ob man mehrere ihm entgegenstellt. Wenn der Geist Gottes das Herz erneuert, so duldet er darin nicht eine einzige Sünde mehr, und es entsteht nun der Kampf auf der ganzen Schlachtlinie und auf allen Punkten, wo sich die beiden Herzen, das alte, wie das neue als gegenseitige Feinde begegnen. - Einen Theil der Heiligung wollen, neben einem gehegten Sauerteig von Sündenliebe, eine nur äußerliche Verbesserung der Sitten erstreben, gewisse schlechte Gewohnheiten angreifen ohne eine gründliche Herzens-Erneuerung, das alles bezeichnet die Schrift mit den Worten: „einen neuen Lappen auf ein altes Kleid flicken“, wonach gewöhnlich der Riß um so schlimmer wird.
5) Ein weiteres Kennzeichen der wahren Erneuerung ist ihre Dauerhaftigkeit. Darin unterscheidet sie sich von jener vorübergehenden „Besserung“, die wohl eine Frucht einer Leidens-Prüfung, einer Züchtigung oder ähnlicher Zufälle und Gemüthseindrücke sein kann, welche doch das Herz noch unverändert gelassen haben. Wenn Jemand z. B. die Schwere der züchtigenden Hand Gottes fühlt und noch einige Regungen des Gewissens hat, so prüft er wohl sein vergangenes Leben und faßt gute Vorsätze; aber wenn Gott die Zuchtruthe wegnimmt, wenn die Prüfung vorübergeht, so wird man allmählig wieder leichtsinnig, bis man zuletzt Alles wieder vergißt, Mahnungen Gottes, gute Vorsätze und Versprechungen sammt allen Besserungsversuchen, und so wieder zu den Dingen zurückkehrt, die Einen früher mit fortzogen, „wie das Kampfroß, welches sich mit Ungestüm in die Schlacht stürzt.“ So ging's u. A. mit dem König Ahab, der sich nach den Schlägen Gottes wohl demüthigte, aber doch immer wieder zum Bösen zurückkehrte. So auch mit dem Volke Israel, von dem es heißt: „Wenn Er sie dem Tode preisgab, dann fragten sie nach ihm, thaten Buße und suchten den starken Gott frühe mit Eifer; sie erinnerten sich, daß Gott ihr Fels sei, und der Höchste ihr Befreier. Aber sie heuchelten mit ihrem Munde und logen ihm mit ihrer Zunge; denn ihr Herz war nicht fest auf ihn gerichtet, und sie hielten nicht treulich seinen Bund“ (Ps. 78, 34. ff.).
Zuweilen wird einer Seele durch eine große Prüfung, durch einen herben Kummer die Welt verleidet, weil sie das gesuchte Glück darin nicht mehr finden kann. Sie lebt nun zurückgezogen; ihre Melancholie erhält einen religiösen Anstrich; sie gibt eine Welt auf, von der sie getäuscht worden, oder die ihr doch nicht mehr lächelt, eine Welt, worin das Herz ihr schmerzlich verwundet ist. Da glaubt sie nun wohl, sich verändert und zu Gott gewandt zu haben; aber das Herz hat sich nur aus getäuschter Liebe zur Welt von der Welt abgewendet, und siehe, es wird bald unbemerkbar von einer andern Seite wieder daran gefesselt sein. An die Stelle der zerrissenen Bande knüpfen sich bald wieder neue, scheinbar unschuldigere, von außen anständig und religiös zugerichtet, die aber eben so stark und der Liebe Gottes entgegen sind, als die frühern. Die eine Welt hat nur einer andern Welt Platz gemacht. Weshalb war die Veränderung nicht haltbar? Weil sie nicht reine Herzenssache war. Die Traurigkeit war nur eine weltliche, und konnte nur den Tod wirken. Es war nicht jene „Reue zur Seligkeit, die Niemand gereuet“ (2. Cor. 7, 1-)- Auch sieht man öfters Personen, die durch eine ergreifende Predigt, durch das Nahen einer allgemeinen Plage, durch Widerwärtigkeiten oder durch irgend ein Ereigniß, welches ihnen die Eitelkeit der irdischen Dinge Predigt, einen mächtigen Eindruck empfangen haben. Sie werden scheinbar ernst und fromm und machen einen Schritt vorwärts, da sie aber noch nicht das Leben in sich haben, so bleiben sie stehen, einem Körper ähnlich, den man fortgestoßen hat, der aber nur vorübergehend dem empfangenen Antriebe nachgibt. Mit einem Worte: jede Veränderung, die nicht von Gott kommt, hält nicht Stand, weil es nicht Herzenssache, nicht eine Erneuerung des Lebens ist. Man ist ein andrer Mensch, wie Saul, aber nicht ein neuer Mensch. Man ist angeregt, aber nicht umgewandelt worden. Unter all diesen scheinbaren Veränderungen bleibt immer das Wort anwendbar, das der heilige Geist von einem Könige Israels sagt: „Es war immer der König Ahas.“ - Hingegen da, wo Gott das Herz erneuert hat, wo der Mensch wiedergeboren ist aus dem unvergänglichen Samen des ewigbleibenden Wortes, da ist die Veränderung eine dauernde. Was Gott angefangen hat, das vollführt seine Hand. „Der Herr“, sagt David, „wird's zu Ende machen (vollenden) für mich. Herr, deine Güte ist ewig. Das Werk deiner Hände wirst du nicht lassen“ (Ps. 138, 8.). „Der in euch angefangen hat das gute Werk“, schreibt Paulus den Philippern, „der wird's auch vollführen bis auf den Tag Christi.“ - „Ja, Jehovah unterhält sein Werk mitten in den Jahren“ (Hab. 2.). Alles Thun des „Felsen“ ist vollkommen (5. Mos. 32, 4.). „Der feste Grund Gottes bleibt bestehen“, und Diejenigen, in welchen die Wahrheit wohnt, können gewiß sein, daß sie „ewiglich bei ihnen bleiben“ wird (2. Joh. 2.).
6) Die wahre geistliche Erneuerung ist ferner eine fortschreitende Veränderung, das heißt, sie läßt uns beständige und anhaltende Fortschritte auf dem Wege des Glaubens und der Frömmigkeit machen.
Sobald der wahre Glaube in unser Herz eingekehrt ist, und er die Liebe Gottes darin angezündet hat, so ist dies ein neuer Lebenskeim, der sich entwickelt und uns nie müßig läßt. Der neue Mensch in uns erhält täglich neue Kraft und wächst, um mich so auszudrücken, bis er „gelangt zu dem Maße des vollkommenen Alters Christi.“ Wie man bei einem Kinde, das nicht wächst und gedeiht, auf irgend ein verborgenes Uebel schließen kann, welches die Lebenskräfte in ihm angreift, so kann man bei einem Menschen, der ohne geistliche Fortschritte dahinlebt, vermuthen, daß ihm der Lebenskeim entweder noch fehle, oder daß derselbe zu ersticken drohe. Es gibt ohne Zweifel im Glaubensleben mehr oder weniger glückliche Zeiten, und zuweilen kann auch ein wahrer Christ zurückgehen oder lau werden; aber er bemerkt dies bald und verdoppelt dann seine Wachsamkeit.
So wie ein Reisender, der für einige Zeit seinen Fortgang unterbrochen hat und plötzlich merkt, daß der Tag sich neigt, und die Nacht hereinbricht, sich beeilt, durch schnelleren Gang die verlorne Zeit wieder einzuholen, so beeilt sich der Christ, wenn er seine Lässigkeit gewahrt, „die Zeit auszukaufen, weil die vorigen Tage schlecht waren.“ So kann man also doch von ihm sagen, wenn man seine Laufbahn im Allgemeinen betrachtet, daß er immer fortschreitet, und daß bei ihm „der innere Mensch von Tag zu Tag sich erneuert;“ und daraus leuchtet hervor, daß wirklich ein neues Leben da ist. - Aber ach! wenn Einer immer derselbe bleibt, sich immer in demselben Kreis von Gedanken, Reden und Handlungen bewegt; wenn das Leben tagtäglich in einer Art geistlicher Nachlässigkeit dahinzieht; wenn man dem Tode entgegengeht, ohne daß sich das Sehen nur aufs Irdische und der Geschmack daran verliert, ohne daß man mehr himmlisch gesinnt und fleißiger zu allem guten Werke wird; wenn nicht das Gewissen zarter, der geistliche Takt feiner, die Stimmung zum Loben und Danken vorherrschender, das Leben überhaupt himmlischer wird; wenn man sich mit einem matten Scheinleben ohne Lebenskraft und ohne Fortschritt begnügt, oder nach einigen Schritten, wie zur Salzsäule verwandelt, stehen bleibt; wenn unsere Hingebung nichts davon wahrnimmt, ob wir in einem Wachsthum, welches stets ein Mahnruf an ihr Gewissen ist, begriffen sind: - dann, ja, dann ist es nur zu gewiß, daß man noch nicht wiedergeboren ist. Wenn der neue Mensch wirklich geschaffen wäre, so würde er „wachsen in der Gnade und Erkenntniß unsers Herrn Jesu Christi“ und mit Paulus uns sprechen lassen: „Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, das da vorne ist; ich jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Kleinod der himmlischen Berufung Gottes in Christo Jesu“ (Phil. 3, 13 und 14.).
Diese Veränderung nun, die in uns vorgehen muß, damit wir in das Reich Gottes eingehen können, geht alle Menschen an. „So Jemand,“ sagt der Heiland (nach dem Grundiert), „so Jemand nicht von neuem geboren ist, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Beachte diese Worte: „So Jemand.“ Dieser Ausdruck ist allgemein; er schließt alle Menschen ein. Man sage uns daher nicht, daß dieser Ausdruck nur die Heiden anginge, die das Christenthum erst annähmen. Der Heiland sagt nicht: „So ein Heide,“ sondern: „So Jemand.“ Und zu wem sagt er dies? Zu wem spricht er von der Notwendigkeit der Wiedergeburt? Zu einem vom Gesetz Gottes erleuchteten Juden, von dem gesagt ist, daß er ein Pharisäer und einer der Obersten des Volks war. Noth mehr: es ist ein Jude, der an seinem Theile eine Glaubensthat vollbringt, indem er zu ihm kommt; es ist ein Mann, der zu ihm sagt: „Meister, wir wissen, daß du ein Lehrer bist von Gott gekommen; denn Niemand kann die Zeichen thun, die du thust, es sei denn Gott mit ihm“ (Joh. 3, 2.). Und zu dem spricht der Herr als erstes Wort: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: So nicht Jemand von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Und warum? Weil er sieht, daß Nikodemus, indem er bei der Nacht zu ihm kommt, noch die Welt und seine zeitlichen Interessen schonen will, und daß er die Menschen fürchtet. Er sieht, daß Nikodemus von den Wundern, deren Zeuge er war, und wovon man ihm gesagt hatte, wohl war ergriffen worden, aber daß sein Herz noch nicht zur Entscheidung entschlossen ist. Jesus erkennt in ihm sogleich, daß er die Aufgabe des Evangeliums, das Herz zu erneuern und das Bild Gottes im Menschen wiederherzustellen, noch nicht versteht, so wenig wie das Mittel dazu, die Versöhnung durch das Blut des Kreuzes. Er deckt ihm den Irrthum auf, worin er noch gefangen ist, den großen Irrthum nämlich, daß man ein Christ sein könne, wenn man nur die Religion Christi für wahr halt, oder den Herrn bloß zu bekennen brauche, so oft man es ohne Schande oder Gefahr für seine irdischen Interessen thun könne. Das erste Wort, das Jesus dem Nicodemus sagt, ist: „So Jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“
Man kann daher wohl in einem Lande leben, wo das Wort Gottes verkündigt wird; man kann, wie Nikodemus, eine hervorragende Stellung einnehmen, kann, wie er, zu den Pharisäern, zu den eifrigsten Kirchenleuten gehören, oder auch gleich ihm bereits in vorgerücktem Alter sein, und dennoch, wie er, von der neuen Geburt nichts wissen, noch verstehen. Daß man in einem christlichen Lande geboren ist, erzeugt diese Veränderung noch nicht; aber es bietet immerhin die Mittel dazu. Ein Jeder unter uns bedarf einer solchen, weil wir Alle empfangen sind in Sünde und Uebertretungen, und weil wir Alle von Natur der Neigung zum Bösen folgen. „Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch,“ sagt der Heiland; „aber was vom Geist geboren wird, das ist Geist.“ Da wir nun Alle vom Fleische geboren worden sind und eine verdorbene Natur mit auf die Welt gebracht haben, die sich, mit dem Alter nur verschlimmert, wenn sie nicht durch eine neue heilige und geistliche Natur, die wir nur vom Geiste Gottes empfangen, bekämpft wird, so ist auch noch immer die Wiedergeburt für Alle eine Notwendigkeit.
Du magst daher arm oder reich sein, gelehrt oder unwissend, Du magst alle religiöse Erkenntnis besitzen, äußerlich moralisch leben und von der Welt anerkannt werden, - so Du nicht von neuem geboren wirst, kannst Du das Reich Gottes nicht sehen. Dies erklärt Dir Jesus Christus selbst, Er, der die Schlüssel hat des Himmels und der Hölle, der einst zum Leben und zum Tode Dir das Urtheil spricht. Eben so wenig, als Du verhindern kannst, daß er Gott und Herr ist über Alles, eben so wenig kannst Du auf einem andern Wege in das Reich Gottes eingehen. So lange man hienieden lebt, kann man viele Ausflüchte suchen, sich vor dem Licht verblenden, gegen die Wahrheit sich sträuben und ankämpfen. Gott hat unterdessen Geduld; „erwartet, um gnädig zu sein.“ Er hört nicht aus zu lehren, zu ermahnen, anzuklopfen und zu rufen: „Ich will nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe.“ Zuletzt aber kommt der entscheidende Augenblick, die letzte Mahnung; man geht aus der Gnadenzeit über in die Zeit des Gerichtes, und wie schrecklich ist dann dies Wort, wenn es der höchste Richter zu der scheidenden unbußfertigen Seele spricht: „So Jemand nicht von neuem geboren ist, kann er das Reich Gottes nicht sehen!“ Geht man aber nicht in das Reich Gottes ein, dann weißt Du wohl, wohin es geht!
Mein lieber Leser! Du hast jetzt noch vor Dir eine kostbare, aber vielleicht gar kurze Zeit der Geduld des Gottes, der Dich eines Tages richten muß; benutze sie doch ja, um Deinen Seelenzustand ernstlich zu prüfen! „Niemand betrüge sich selbst!“ Willst Du Dir klar werden, so liegt es nur an Dir; nichts ist leichter, als zu wissen, ob Du die Zeichen jenes neuen Lebens besitzest, das sich durch den lebendigen Glauben an Christum und durch seine Früchte kundgibt. Wir können nicht in Deinem Herzen lesen, um Dir zu sagen, wie es mit Dir beschaffen ist; aber wohl können wir behaupten, daß ein Mensch, der noch nicht die Nothwendigkeit der Herzens-Veränderung gefühlt hat, der dieselbe läugnet oder den Gedanken daran abschwächt und sie wie eine bloß äußere Besserung darstellt, oder sie wohl gar für eine Thorheit hält, daß der ganz gewiß noch in der Finsterniß und in seinem natürlichen Zustande ist. Wir dürfen noch mehr sagen: ein Mensch, der diese Veränderung nicht wünscht und Gott nicht ernstlich darum bittet, ein Mensch, der nicht von der ihm angebotenen Hülfe Gebrauch macht, sondern im Gegentheil sich mit Lectüre, mit Gesellschaften oder mit Geschäften umschanzt, die das Werk der Wiedergeburt nur verhindern können, ein solcher ist sicher noch nicht von neuem geboren; denn diese Veränderung geht im Allgemeinen nicht ohne unser Bitten, Wünschen und Suchen vor sich. Kurz, wenn Du findest, daß Du in religiösen Dingen noch immer derselbe bist, der Du von je her warst; wenn nicht zu irgend einer Zeit einmal eine wesentliche Veränderung mit Dir vorgegangen ist: so ist es nur zu gewiß, daß Dir die neue Geburt noch fehlt, und Du so das Reich Gottes nicht sehen kannst. Jede Geburt hat ein Datum, jede innere Veränderung bezeugt sich selbst deutlich genug, besonders wenn sie in die Tiefe unsers ganzen Wesens eindringt. Wer nie geboren ist, der lebt auch nicht; wer nicht einen mehr oder weniger bestimmten Uebergang vom Tode zum Leben empfunden hat, der ist noch im Tode.
Vielleicht möchte mir hier aber Jemand, vom himmlischen Lichte erleuchtet, sagen: „Ach! ich gewahre, daß ich bis jetzt nur eine ganz äußere Religion gehabt habe; ich fühle, ich bin noch todt in Übertretungen und Sünden, noch entfernt von der Wiedergeburt und dem Leben aus Gott. Was muß ich thun? Wie komme ich aus einem Zustande heraus, dessen ganze Gefahr mir bewußt ist?“ Wenn Jemand von Herzen diese Sprache führt, so sagen wir ihm: Welch eine Freude machst Du uns! und wie sehr solltest Du Dich selbst freuen! Du hast den ersten Schritt zur Wiedergeburt gethan, hast erkannt und empfunden, daß man sie nöthig hat. Gott hat Dir in seiner Gnade und Barmherzigkeit die Augen geöffnet, damit Du nicht ins Verderben fahrest. Der Geist Gottes hat Dich von der Sünde überzeugt, und diese erste Gnade ist ein Unterpfand aller derer, die er Dir noch weiter erzeigen wird. Sei guten Muth's! Gott liebt Dich mehr, als Du es glaubst. „Er will nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe;“ dies erklärt der Herr selbst mit einem Eide, damit Du nicht daran zweifelst. Gehe hin ohne Zögern, so wie Du bist, zu Jesu, dem himmlischen Arzte, welcher alle mühseligen und beladenen Seelen zu sich ruft, welcher Den, der zu ihm kommt, nicht hinausstößt, und welcher Niemand verschmäht. Er ist „zum Fürsten und Heiland erhöht worden, um Israel Buße und Vergebung der Sünden zu geben.“ „Er trägt das verlorene Schaf auf seinen Schultern heim.“ „Er erquicket den Geist der Demüthigen“ und sagt zu Denen, die ein zerschlagenes Herz haben: „Seid getrost!“ In ihm findest Du Alles, was Dir fehlt; „aus seiner Fülle wirst Du nehmen Gnade um Gnade;“ und wenn Du Dich mit ihm verbindest, wie die Rebe mit dem Weinstock, so wird Deiner Seele ein neues Leben mitgetheilt, und Du wirst Dich freuen können Gottes, Deines Heilandes, und den Herrn preisen, weil er „große Dinge an Dir gethan hat.“ Ja, Freude und Friede jeder Seele, die im Gefühl ihres Elends mit Aufrichtigkeit zu Dem geht, der alle Gebrechen heilet!
Freue Dich! ich sage es Dir nochmals: freue Dich! wenn Du aufrichtig bist. Lege muthig die Hand ans Werk! Gott selber zieht Dich jetzt; er wird Dich nicht wieder zurückstoßen. Der Sohn ist voller Gnade und gießt sie aus über alle Sünder, die sich ihm nahen. Der heilige Geist, der in Dir das Werk angefangen hat, wird Dich erleuchten, Dich erneuern, Dich leiten und tragen. Er wird selbst Deiner Schwachheit aufhelfen. „Es ist Alles bereit, komm zur Hochzeit!“ Falle Deinem himmlischen Vater in die Arme; denn sie sind Dir geöffnet! Bist Du erst recht überzeugt von seiner Liebe, so wirst Du ihn wieder lieben. Und „wer da lieb hat, der ist von Gott geboren.“ Amen.
Das neue Leben als wesentliches Erforderniss des Reiches Gottes
Auguste Rochat
Elberfeld, 1867
Selbstverlag des evangelischen Brüdervereins