Quandt, Johannes - Warum gewährt der Herr die Bitte des Weingärtners: Herr, lass ihn noch dies Jahr?
Predigt am Neujahrstage über Luk. 13,6-9 von Joh. Quandt, Pfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde im Haag.
Der Herr des Weinberges, der drei Jahre lang wieder kommt und Frucht am Feigenbaum sucht und keine findet, das ist der allmächtige Gott. Der Weingärtner, der die blitzende Axt aufhält mit heißem Flehen, das ist Jesus Christus. Der Feigenbaum, dem noch ein Jahr Zeit gelassen wird, Frucht zu bringen - du bist es, ich bin es.
Warum gewährt der Herr die Bitte des Weingärtners: Herr, lass ihn noch dies Jahr? Weil die Liebe des Gärtners noch ein letztes Mittel versuchen will! und es möglich ist, dass dieses Mittel noch hilft!
1.
Es hatte Einer einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Weinberge und kam und suchte Frucht darauf und fand sie nicht. Da der Besitzer des Weinguts Frucht erwartete, so muss der Feigenbaum in gutem Lande gewurzelt haben, wo er auch ohne besondere Pflege, ohne Graben und Düngen hätte gedeihen müssen. Freunde, wir alle sind in gutes Land gepflanzt durch die heilige Taufe. Wir alle empfingen durch das Wasserbad im Wort einen Ewigkeitskeim, den wir nur zu hegen und zu pflegen brauchten, um vollkommene Menschen Gottes zu werden, zu allem guten Werke geschickt. Dazu sind viele in besonders gutes Land gepflanzt worden. Die und der sind wie ich in gottesfürchtigem Hause aufgewachsen, wo aller Lippen Gottes Gebot erfragten, wo aller Augen freudig auf den Heiland sahen, wo kein Tag sich neigte ohne Haussegen, kein Sonntag ohne Kirchgang war, wo aber auch verständige Eltern die junge Seele vor religiöser Übersättigung hüteten, die so leicht die Frömmigkeit langweilig und die Kinder zu Heuchlern macht. Schaust du mit mir auf eine so gestaltete Kindheit und Jugend zurück, so müssen wir doch frischweg gestehen: wir standen in sehr gutem Land. Andere unter uns haben kein frommes Heim gehabt in jungen Tagen, aber sie haben gute geistliche Nahrung gehabt in Schule und Konfirmanden-Unterricht. Gedenkt eurer Lehrer und eurer Seelsorger, ihrer treuen Pflege, ihrer eifrigen Fürbitte, ihres vorbildlichen Wandels, ihres herzandringenden Wortes.
Sehr gutes Land habt ihr gehabt. Wer unter unserer Gemeinde groß geworden ist, wer von Jugend auf unter dieser Kanzel heimisch ward, der stand in sehr gutem Land, denn nie hat es den jungen Feigenbäumen hier an sorgfältiger Pflege gefehlt.
Doch, unsere Jugendzeit beiseitegelassen, müssen nicht die meisten hier auch von ihren späteren Tagen ehrlich sagen: Gott hat uns in seinen Weinberg gepflanzt, in gutes Land? Dem einen gab er nach verträumtem und versäumtem Lenze einen Sommer, der heiß aber auch gesegnet war; dem andern, der auch den Sommer des Lebens noch verschwendet hatte, bescherte er aus Gnaden lichte Herbsttage. Ohne Bild gesprochen: Haben wir nicht unablässig Einflüsse von oben auf unser Leben verspürt, auch als wir, längst dem Elternhaus und Unterrichte entwachsen, ein selbständiges Dasein führten? Können wir leugnen, dass uns das Christentum an jedem Orte, zu jeder Zeit gegrüßt und zu Christo eingeladen hat? Du wachst am Sonntagmorgen auf unter Glockenton siehe, eine Einladung Christi. Du wanderst durch unsere Stadt und trittst an einen Bilderladen: neben manchem irreligiösen schaust du auch ein religiöses Bild siehe, eine Einladung Christi. Du bist genötigt, an einer Taufe, einer Trauung, einer Beerdigung teilzunehmen, du singst ein Lied, du hörst ein Wort von oben siehe, eine Einladung Christi. Sage nur keiner, Gott habe sich um ihn nicht gekümmert, Gott habe ihn in schlechten Boden gepflanzt, wo er nimmer habe gedeihen können. Die Erde, in die wir gepflanzt wurden, mag verschiedene Erde gewesen sein, aber es ist allemal gute Erde gewesen.
So hätte der Feigenbaum auch Frucht bringen müssen. In einem Weinberg gibt's kein Unkraut; der Gärtner jätet aufs sorgfältigste, und was er in den gereinigten Boden pflanzt, das berechtigt zu guter Hoffnung. Können wir uns wundern, wenn der Herr des Weinbergs rechtschaffene Früchte an seinem Baume finden will? Nein, wir müssen vielmehr seine Geduld bewundern, die nicht ermattet, obgleich der Baum weder im ersten noch im zweiten Jahre den versprochenen Gewinn bringen will. Wir pflegen unfruchtbare Obstbäume kaum so lange in unseren Gärten zu dulden; sie verderben ja den Erdboden und nehmen den guten Bäumen das Licht weg, sie „hindern das Land“. Denkt nach, ihr Freunde, war Gott der Herr nicht völlig berechtigt, von uns Christen ein ordentliches Christentum zu erwarten? Wir hatten tausend Erfahrungen seiner väterlichen Fürsorge, durfte er nicht die Frucht des Glaubens fordern? Wir hatten zahllose Eindrücke der überwältigenden Gnade des Heilandes, durfte Gott nicht die Frucht der Dankbarkeit an uns suchen? Wir hatten auch die lockende, mahnende, strafende Wirksamkeit des Heiligen Geistes in reichlicher Fülle an unseren Herzen gespürt, durfte Gott nicht die Früchte der Heiligung von uns ernten wollen? Statt dessen Sünde, Sünde, und noch einmal Sünde. Das ganze Gesetz Gottes wurde täglich reichlich übertreten. Wir liebten diese Welt mehr als Gott. Wir missbrauchten Gottes heiligen Namen. Wir entheiligten den Sabbat. Wir missachteten Gottes Stellvertreter. Wir hassten unseren Nächsten. Wir waren unreinen Herzens. Wir streckten die Hände nach fremdem Gute. Wir hatten böse Zungen und liebten schlechte Nachrede. Wir trugen ein Schlangennest hässlicher Begierden im Herzen herum. Ist das etwa zu viel behauptet? Uns zu schonen, sage ich eher zu wenig. Wahrhaftig, wir sind unfruchtbare Feigenbäume allzumal, wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir an Gott haben sollten.
Offen gestanden, mich wundert's, dass wir noch leben. Warum hat die Axt des gerechten Gottes nicht längst zugeschlagen und den faulen Baum aus der Erde vertilgt? O, die Axt war schon an den Baum gelegt. Du und du und ich sind einst schwer krank geworden, todkrank. Der Arzt gab keine Hoffnung mehr; die Deinen gaben dich auf. Damals ist es gewesen, dass der Herr des Weinbergs mit seinem Weingärtner ein Gespräch über dich hatte, du Menschenkind. Und er rief und sprach: Haue ihn ab, was hindert er das Land? Oder dich hatte der böse Feind schon so weit im Netze, dass du deinem Leben ein Ende machen wolltest. Es fehlte nicht viel, und es wäre wirklich zu Ende gewesen mit dir. Damals sprach der Herr des Weinbergs mit seinem Gärtner über den unfruchtbaren Feigenbaum, und das Urteil lautete: Haue ihn ab, was hindert er das Land?
„Drei Jahre stand er hier in sich'rer Hut,
Drei volle Jahre und er tat nicht gut!
Wo gäb' es Pflege, die der Baum nicht fand?
Nun hau' ihn ab, was hindert er das Land!“
Aber nun fällt der Weingärtner flehend dem Rächer in den Arm, der barmherzige Jesus bittet: Herr, lass ihn noch dies Jahr! Grenzenlose Liebe spricht aus dieser Bitte, Liebe, die alles Denken übersteigt, Liebe, die noch ein letztes Mittel versuchen will. Um dieser Liebe willen gewährt Gott die Bitte und gibt dem Baume noch eine letzte Frist. Er bleibt stehen noch ein Jahr um der erfinderischen Liebe des Weingärtners willen, und
2.
weil es möglich ist, dass dieses Mittel noch helfen kann. Worin besteht das Mittel? Der Gärtner will graben und düngen. Er will graben die Erde um den trägen Baum soll gelockert, aufgerissen, wenn nötig durch neue Erde ersetzt werden. Er will düngen dem Baume soll neuer Saft, neue Kraft zugeführt werden. Lasst uns das aus dem Gleichnis in die Wirklichkeit übersetzen.
Wenn ein Getaufter trotz aller geistlichen Pflege, die er von Gott erfahren hat, den in der Taufe eingesenkten Keim göttlichen Geistes nicht weiter entwickeln will, ja womöglich sich anschickt, ihn zu zerstören und auszurotten, so beginnt Christus dem Menschen Kreuz zu schicken. Das Kreuz kann sehr verschieden gestaltet sein. Ist der Mensch reich, vielleicht nimmt Christus ihm den Reichtum und lässt ihn betteln gehen oder doch im sauren Schweiße sein kärgliches Brot erwerben. Hängt des Menschen Herz an irdischer Liebe, Gattenliebe, Kindesliebe, Elternliebe vielleicht nimmt Christus ihm den Gatten, das Kind, lässt die Augen der Eltern sich schließen. Pocht der Mensch auf seine Kraft, die ihm Gesundheit verleiht - vielleicht macht Christus ihn krank und siech, elend am ganzen Leibe. Ist dem Menschen sein guter Ruf und Name das Höchste, was er hat vielleicht lässt Christus es geschehen, dass dieser Name beschimpft, der Ruf vernichtet wird. Doch was für ein Kreuz er auch auflege, er tut es wahrhaftig nicht, weil ihn die Schmerzen des Menschen erfreuten, er tut es nur, um durch Kreuz und Traurigkeit den Menschen zu retten für die Ewigkeit. Auch wenn Christus zulässt, dass eine Seele in schwere Anfechtung fällt, so geschieht es, damit die Seele sich auf ihn, den Helfer in aller Anfechtung besinne und zu ihm sich wende. Aus diesem Gesichtspunkte heraus will der viele Jammer, der in diesem Tränentale wohnt, verstanden sein. Er ist das letzte Mittel, das dem Herrn auf dem Throne bleibt, um die Seelen der Menschen zu retten.
Verstehst du nun, warum im alten Jahre, das gestern zu Grabe geläutet ward, du durch so viele Trübsal hast gehen müssen? Erkennst du in der Hand, die dir wehe tat, die Hand des liebevollen Weingärtners, der um dich herum grub und düngte? Davon hängt es ab, ob das Mittel helfen wird, denn wenn du in dem dir gesandten Kreuze nicht Jesu Liebe erkennst, bleibt das Mittel vergeblich. Und weiter, willst du dich künftig nicht wundern und über unerträgliche Lasten klagen, wenn das neue Jahr neue Trübsal dir bringen sollte? Enttäuschungen, wo du heute frohes Gelingen erwartest, Entbehrungen, wo du auf Fülle rechnest, schmerzliche Niederlagen, wo du auf fröhliche Siege hoffst? Ich kenne die Kreuze nicht, die der Herr auf deine Straße pflanzen wird, ja die er dir auf die Schultern legen wird, aber ich weiß, weshalb er dich zum Kreuzträger macht. Du sollst nicht verloren werden, du sollst Frucht bringen und gerettet werden. Darum merke dir es für alle dreihundertfünfundsechzig Tage des neuen Jahres:
Kommt dir ein Schmerz, so halte still,
Und frage, was er von dir will
Die ew'ge Liebe schickt dir keinen
Bloß darum, dass du müssest weinen! 1)
Dass wir klagen müssen: bei etlichen Feigenbäumen bleibt auch das letzte Mittel des heiligen Weingärtners vergeblich! Er gräbt, er düngt Monat für Monat, der Baum bringt keine Frucht. Alle Trübsal, alles Kreuz macht die Seele nicht weich, sondern hart, immer härter. Der Mensch verstockt sich, wie sich ein Pharao, ein Saul, ein Judas verstockte; das Herz verharrt in frechem Trotz. Was dann? Nun, dann kommt im vierten Jahre der Herr des Weinbergs wieder und sucht Frucht und findet sie nicht. Dann bittet der Gärtner nicht mehr, blutenden Herzens schwingt er die Axt - ein scharfer Streich, der Baum fällt. Das will es sagen, wenn in unserem Gleichnis steht: „Wo nicht, so haue ihn danach ab!“
Aber gelobt sei die ewige Liebe; bei vielen Feigenbäumen hilft das letzte Mittel doch. Leise, leise erholt sich der Baum, der fast verdorrte; langsam fängt er an zu grünen, dann Früchte anzusetzen, endlich trägt er gute Frucht. Es gibt doch Namenschristen, die unter der treuen Arbeit Jesu allmählich sich in wahre Christen wandeln, täglich mehr und mehr zunehmen an alle dem, was den Christen macht: der aufrichtigen Trauer über ihre Sünde, dem herzlichen Verlangen nach Vergebung ihrer Schuld, dem ernstlichen Willen, nicht mehr zu sündigen, sondern dem Heilande Freude zu machen. Denn Bekehrungen verlorener Seelen zu Christo existieren nicht in der Phantasie schwärmerischer Pastoren, sondern im wirklichen Leben. Vielleicht hast du es in deiner nächsten Umgebung unlängst erlebt, wie aus einem faulen Baume ein guter geworden ist. Der Streitsüchtige ist friedfertig geworden, der Zornmütige sanftmütig, der Selbstsüchtige ist hingebend geworden. Wer hat es zustande gebracht? Der Herr Jesus mit seiner Arbeit, der treue Weingärtner mit seinem Graben und Düngen. O wie freut er sich des gelungenen Werkes, wie wirst er jauchzenden Herzens die Axt weit fort, die er nun nicht mehr zu schwingen braucht. Ist bei den Engeln Gottes schon Freude über einen Sünder, der Buße tut, wie viel mehr bei dem Sünderheiland, der alle Arbeit an der Seele des Sünders getan!
Auch die Knechte, die der himmlische Gärtner würdigt, im Weinberge des Herrn unter seiner Aufsicht mitzuschaffen an den Feigenbäumen, dürfen an der Freude teilnehmen, wenn wieder ein Baum gerettet ist. Wie jauchzte Pauli Seele, als er den geretteten Philippern schreiben durfte: Ich danke meinem Gott, so oft ich eurer gedenke, und bin desselbigen in guter Zuversicht, dass der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollführen bis an den Tag Jesu Christi! und den geretteten Korinthern: ihr Korinther, unser Mund hat sich zu euch aufgetan, unser Herz ist getrost! Und es gehört zu den größten Lebensfreuden eines evangelischen Predigers, wenn wie um Weihnachten mir geschehen, eine ferne einstige Konfirmandin schreibt, dass die Arbeit an ihr nicht vergebens gewesen ist und sie sich in aller Schwachheit rühmt, eine Jüngerin Jesu zu sein; wenn eine andere einst Konfirmierte in noch weiterer Ferne bittet nicht um einen langen Brief - sondern um das Verslein, mit dem wir so oft die Konfirmandenstunde begannen: Die wir uns allhier beisammen finden, weil sie den Wortlaut vergessen. Beide von mir Konfirmierte sind in Trübsal und Kreuz gesetzt, nachdem wir geschieden, und Jesu des Weingärtners Wirken hat nun bei ihnen Frucht gebracht.
Wer gestern Abend oder heute in stiller Neujahrsfrühe eine ernste Selbstprüfung vorgenommen hat, wie sie die Predigt von gestern Abend forderte, der muss notwendigerweise zu der Einsicht gekommen sein, dass er es nicht verdient, wenn er heute noch in Gottes Weinberge steht. Aber er darf, wenn er das mit Trauer über sich selbst eingesehen hat, auch getrost zum ewigen Throne aufschauen und im Blicke aufs neue Jahr mit mir beten:
„So wag' ich's denn, und weil du gnädig bist,
So bitt' ich dich, gib mir zur Bess'rung Frist!
Ich weiß, dass ich ein fauler Baum nur war:
Barmherz'ger Vater, lass mich noch dies Jahr!“
Amen.