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Monod, Adolphe - Nathanael

Monod, Adolphe - Nathanael

oder

der von Vorurtheilen befangene aber aufrichtige Verstand tritt mit Jesus Christus in Beziehung.

„Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von welchem Moses im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josephs Sohn von Nazareth. Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann von Nazareth Gutes kommen? Philippus spricht zu ihm: Komm und siehe es. Jesus sah Nathanael zu sich kommen und spricht von ihm: Siehe ein rechter Israeliter, in welchem kein Falsch ist. Nathanael spricht zu ihm: Woher kennest du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Ehe denn dich Philippus rief, da du unter dem Feigenbaum warest, sah ich dich. Nathanael antwortete und spricht zu ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubest, weil ich dir gesagt habe, daß ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum, du wirst noch größeres denn das sehen. Und spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich ich sage euch, von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf und herabfahren auf des Menschen Sohn.“ (Joh. 1, 45-51)

Wenn ich diese Kanzel besteige, so macht mich oft ein Gedanke traurig. Ich sage mir nämlich, nicht alle meine Zuhörer, die das Evangelium noch nicht angenommen haben, faßten diesen Entschluß aus Unglauben. Es giebt manche darunter, die für den Werth der Wahrheit und für die Anziehungskraft der Heiligkeit empfänglich sind, deren Verstand aber, da er von gewissen Vorurtheilen befangen ist, die nicht einmal zulassen, daß dem christlichen Glauben ein ernster Zutritt gewährt wird, sich diesem vielmehr entzieht als daß er ihm widersteht. Diese Vorurtheile sind vielleicht ein unbedeutendes Nichts, aber dieses Nichts ist wie Tand, der die Brunnenröhre verstopft und der trotz seiner Kleinheit doch hinreicht, daß alles Wasser vom Berge dadurch aufgehalten wird. Darf ein unbedeutendes, eingebildetes Hinderniß einen Menschen von seinem Frieden, seiner Heiligung und seinem Heil trennen? Dann frage ich mich auch: ob keines dieser Vorurtheile aus der Art entsteht, wie ich meinen Zuhörern das Evangelium mittheile, ob nicht das irdische Gefäß dem Schatz, den es einschließt, Nachtheil bringt? (2. Cor. 4, 6.) Es bedarf dazu wenig, ich bin diesen zu kalt, jenen zu warm, dem Einen vernünftele ich zu viel, nach der Meinung des Andern lasse ich mich zu sehr hinreißen. Die eigenthümliche Natur unseres Geistes mischt sich unvermeidlich in unsere Auffassung des Evangeliums, kein Mensch ist im Stande, die göttliche Wahrheit in ihrer ganzen Unermeßlichkeit zu erfassen, und die Weise, wie sie Eingang bei mir gefunden hat, ist vielleicht nicht die, wie ein Anderer für sie gewonnen wird.

Ich sehe nur ein Mittel dagegen: die aufrichtigen, aber von Vorurtheil befangenen Geister müssen in unmittelbare, ich möchte sogar sagen in persönliche Beziehung zu Jesum Christum treten, durch ihn wird sich ihnen das Evangelium in seinem innersten Geist, in seiner göttlichen Reinheit und in völligem Gleichgewicht zeigen. Wenn ich nur ganz zurücktreten könnte, damit ihr mit Jesu Christo allein bliebet, würden dann nicht die blendenden Vorurtheile in seiner Gegenwart verschwinden? Die einfache und liebliche Erzählung meines Textes beantwortet diese Frage; denn meine aufgestellte Ansicht verwirklicht sich durch Nathanael's Bekehrung. Nathanael ist ein solcher aufrichtiger, aber von Vorurtheilen befangener Geist, bei dem der Glaube, so lange er nur einen Menschen als Vermittler hat, die Thüre verschlossen findet, die sich aber öffnet, sobald Nathanael in unmittelbare Beziehung zu Jesu Christo selbst tritt und sich nicht mehr an menschliche Zeugen halt. Die evangelischen Erzählungen sind mehr als Geschichten, es sind Bilder, in die der heilige Geist seine Belehrungen hüllt, und Beispiele, mit denen er sie unterstützt. Wenn wir in der eben gelesenen den Geist von der Form und die Lehre vom Beispiel trennen, so finden wir für den Nathanael unter meinen Zuhörern das Mittel, wie er mit seinen eigenen Vorurtheilen abschließen kann, wenn er sie Jesu Christo selbst bringt. Laßt uns denn dem Evangelisten Schritt für Schritt folgen.

Es scheint uns, als hätte das Gespräch mit Philippus dem Nathanael genügen und ihn bestimmen müssen, daß er an den Herrn Jesus glaube. Schon der neue Glaube seines Freundes mußte ihm auffallen: auf leichte Art war Philippus nicht zum Glauben gekommen. Leichtsinn stimmt keineswegs mit dem religiösen Sinn, von dem wir Philippus in meinem Texte beseelt sehen und der sich schon durch den raschen Gehorsam auf seines Meisters Ruf gezeigt hat. Er stimmt auch nicht mit dem Wenigen, was wir von seiner Sinnesart wissen, denn er erscheint im Verlauf unseres Evangeliums mehr als ein Mann der Berechnung als der Einbildungskraft (Job. 6, ?), er beweist eher Zögern als Eile (Ich. 12, 21, 22) und eher mißtrauisches Nachforschen als gänzliche Hingabe (Joh. 14,8). Ein solcher Mann verdient wenigstens, wenn er einen neuen Glauben, der ihn noch dazu bloß stellt, annimmt, daß die, welche ihn näher kennen, diesen Glaubenswechsel ernsthaft ansehen.

Außerdem hatte Philippus seine Gründe angegeben, Nathanael braucht sie also nur zu prüfen. Wir haben den gefunden, von welchem Moses im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josephs Sohn von Nazareth. Philippus erwartete in Uebereinstimmung mit Nathanael und allen gläubigen Juden den Messias. Moses und die Propheten hatten, als sie ihn verkündigten, gewisse Zeichen, an denen er zu erkennen war, angegeben. Diese Zeichen hatte Philippus in Jesus verwirklicht gefunden, darauf hatte er im Gehorsam gegen die Schrift, wie auch Andreas und Petrus, seine Landsleute, geglaubt; war das nicht genug überlegt? Dieser Beweis war jedenfalls wohl der Mühe werth, daß man ihn reiflich erwog, da er das hauptsächlichste Mittel war, zu dem man früh oder spät seine Zuflucht nehmen mußte, woran man den wahrhaftigen einmal gekommenen Messias erkennen konnte. Philippus Glaube mußte Nathanael's Aufmerksamkeit fesseln, und seine Gründe mußten einer gründlichen Nachforschung unterworfen werden.

So ist es, ihr habt aber das Vorurtheil vergessen; das ist eben so, als wenn ihr bei einer Maschine die Reibung nicht in Anschlag bringt. Alles ist für Nathanael vergebens, alles wird von vorn herein verworfen, ja ich könnte noch besser sagen, alles wird schon beim Eingang durch einen Ort, den Philippus in sein Zeugniß mischt, durch Nazareth bestimmt, überlegt wird nichts. Sein Messias ist von Nazareth, das genügt, daß es nicht der rechte ist. Was kann von Nazareth Gutes kommen? Nazareth ist die kleinste von den kleinen Städten des unbedeutenden Galiläas (Joh. 7,52); wie kann Nazareth, das nicht ein einziges Mal im alten Testament genannt wird, dazu erwählet sein, daß der Messias dort geboren werde? (Joh. 7,42.) Armer Nathanael, Nazareth hindert dich also, daß du weder Philippus Gründe annimmst, noch sie prüfest. Das kleine und verachtete Nazareth, aber du meinest nicht was göttlich, sondern was menschlich ist (Joh. 16, 23); weißt du, ob Gott, indem er die Herrlichkeit seines Sohnes und die Herrlichkeit der Welt auseinanderhalten wollte, nicht absichtlich eine kleine Stadt zu seiner Heimath, eine Krippe zur Wiege, Hirten als erste Zeugen und Fischer als seine Sendboten unter die Völker erwählte? Nazareth wird in der Schrift nicht erwähnt, kennst du die Schrift denn so genau, bist du so sehr in ihren tiefen Sinn eingedrungen, daß sich keine Einzelheit deinen Augen, kein Gedanke deinem Verstande verbergen konnte, was würdest du denn dazu sagen, wenn Jesus in Nazareth nur das erfüllet hat, das da gesagt ist durch die Propheten: Er soll Nazarenus heißen? Dein Einwurf gegen Nazareth besteht also nur in deiner Einbildungskraft. Ein einziger, näherer Blick wird ihn entfernen, du wirst dann sehen, daß der, den Philippus Jesus von Nazareth nennt, in Bethlehem geboren ist. Ich habe aber Unrecht, daß ich Nathanael Gründe angebe, das Vorurtheil urtheilt nicht, es fühlt, räth, unterbricht und übertreibt. Geht dich nichts davon an, mein Zuhörer Nathanael? Dieser Glaube, der in mir ist und dessen Aufrichtigkeit du Gerechtigkeit widerfahren lässest, der mir erlaubt, daß ich Davids und Paulus Wort zum Wahlspruch für meine Predigt nehme: Ich glaube, darum rede ich (2. Cor. 4,13), auch du mußt Rechenschaft davon geben. Ich gelte weder in deinen Augen für einen Winden, noch für einen Schwärmer und wenn ich mich dem Glauben unterworfen habe, so that ich dies aus gewichtigen Gründen. Du hättest dafür die eingewurzelten Vorurtheile, denen dieser Glaube in meinem Innern begegnete, zum Pfande, wenn du mir näher hättest folgen können, denn ich bin das gewesen, was du bist und das ist dir eine um so größere Bürgschaft für das, was ich bin. Und nach allem diesem sage ich dir wie Philippus dem Nathanael: „Wir haben gefunden; ich habe einen Heiland, Gnade und Frieden und einen Gott gefunden, der auf meine Gebete antwortet, einen Weg, den ich wandeln und einen Führer, der mich leitet gefunden, ich habe vielleicht Recht: ich verlange nicht, daß du mir aufs Wort glaubst, aber das wenigstens, daß du mein Zeugniß billig und reiflich erwägst. Ich habe dir aber nicht nur ein Zeugniß, ich habe dir Beweise vorzuführen. Ich berufe mich dabei auf die heilige Schrift, ich zeige dir in diesem Buche, dem wahrsten und heiligsten aller Bücher, wie es von Anfang bis zu Ende den verkündigt, bekennt und verherrlicht, den ich dir predige; und du weißt wohl, daß, was man auch davon sagen kann, es nicht meine Lehre, sondern die Schriftlehre ist und daß du dich nicht von dem Evangelium lossagen kannst, ohne daß du dich auch vom Worte der Propheten, Apostel und Jesu Christi trennst. Ich berufe mich dabei auf die Geschichte, ich zeige dir die erste Kirche, die gläubige Kirche allen Zeiten, welche auch in den finstersten Zeiten in der guten, alten Lehre von der Gnade lebte, deren Ueberlieferung sich in den Christengemeinden von Jahrhundert zu Jahrhundert erhielt. Ich berufe mich dabei auf die Erfahrung, ich zeige dir diese Lehre, die allein die Früchte, die das Evangelium verheißt, hervorbringt, die das Wort Gottes in der Welt ausbreitet, die sich ernstlich um die Bekehrung der Heiden und um die deinige bekümmert, die die Heiligkeit des Lebens und Frieden im Tode erzeugt. Ich berufe mich dabei auf Gott selbst, ich zeige dir Gottes Hand und Rath in der evangelischen Geschichte, wie er zu Gunsten dieser Lehre auftritt und ihr das doppelte himmlische Beglaubigungszeichen der Wunder aufdrückt, die er für sie bewirkt und der Weissagungen, die er durch sie erfüllt, ohne daß ich von der nicht weniger himmlischen aber unsichtbaren Beglaubigung, von dem Zeugnisse, das er in den Herzen durch seinen Geist zeuget, rede. (1. Joh. 5, l O.) Auch zögere ich nicht, es auszusprechen, daß es keinen siegreicheren Beweis in der Welt giebt, als den, den ein Abbadaus oder ein Chalmers dem Evangelium geliefert hat. Ihr erkennt das selbst an, ihr HM mehr als einmal solche Bücher hingelegt, habt mehr als einmal das Gotteshaus verlassen und habt in eurem Innern der Macht der Wahrheit die Ehre gegeben. Was hält denn euch, ihr aufrichtigen Menschen, ab, die keine weniger zu entschuldigende Gründe abhalten? Ich sage euch, Nazareth ist es. Für Nathanael ist Nazareth die herrschende Meinung, die Meinung der Menge; wider euern Willen hält diese euch auch zurück. Kann die Wahrheit in Gesinnungen bestehen, die allen allgemeinen Begriffen entgegen sind, und die nur unter der Bedingung bestehen können, daß sie eine neue Welt mit andern Sitten und anderer Sprache, ein ganz anderes Dasein erschaffen? Kann sie in Gesinnungen bestehen, denen nur ein verhältnißmäßig kleines, unbedeutendes und verachtetes Volk anhangt, die sich nicht auf die geistigen, geselligen, literarischen, philosophischen Großen der Zeit berufen können und wovon man noch immer sagen kann: Glaubt auch irgend ein Oberster oder Pharisäer an ihn? (Joh. 8, 48.) Kann sie in Gesinnungen bestehen, die im Anfang das Vorrecht eines einzigen Volkes waren, und welch' eines Volkes! denen es in 1800 Jahren, seitdem sie sich endlich erkühnt haben, an alle Nationen den Ruf ergehen zu lassen, kaum geglückt ist, ein Sechstel der ganzen Menschheit zu gewinnen, obgleich sie die endliche Eroberung der ganzen Erde verheißen? Widerlegt mich, wenn ihr es vermögt, wagt es mir zu sagen, daß es nicht Gründe oder besser gesagt, dunkle Gefühle dieser Art sind, die euch bestimmen, ich sage nicht das Evangelium zu verwerfen (das wäre ein zu hartes Wort), sondern daß ihr es weder annehmet noch verwerfet, einzig aus dem Grunde, daß ihr niemals dieser ernsten Sache ein aufmerksames Ohr geliehen habt, hättet ihr dies gethan, dann hättet ihr vielleicht die anscheinend entscheidendsten Einwürfe eben so rasch verschwinden sehen, wie bei den ersten Nachforschungen Nathanael's Christi vorgebliche Geburt in Nazareth und zugleich sein Einwurf sich als grundlos erwiesen hätte. Ich behaupte noch mehr, ihr hättet es vielleicht gesehen, daß sich euer Einwurf in einen Beweis durch die Art, wie er sich giebt, verwandelt; wie auch z. B. der hartnäckige Widerstand der meisten Menschen gegen das Evangelium oder dieser rasche Verfall der christlichen Kirche, obgleich sie gegen allen Anschein und allen Vortheil waren, von dem Buche vorher verkündigt sind, das man so gern des Irrthums überweisen möchte. Weil man aber einen befangenen oder verschlossenen Geist hat, so belehrt, beunruhigt man sich nicht und giebt sich keine Rechenschaft. Was thut Philippus in dieser Lage? Er sagt zu seinem Freunde: Komm und siehe es. Philippus tritt zurück, er hört auf zu überreden und besteht nicht darauf, seine Gründe einem Geiste aufzudrängen, der nicht zu ihrer Aufnahme offen ist. Er ist davon überzeugt, daß Nathanael's Vorurtheile nicht in der Front angegriffen, sondern umgangen werden müssen, und denkt, daß für ihn, dem Jünger, nichts anderes zu thun ist, als ihn Jesus, dem Meister, dem lebendigen Gegenstand des Glaubens, zu überweisen. Nathanael, dessen Herz aufrichtig ist, weigert sich nicht, diesen Versuch zu machen, was wir billig anerkennen müssen, das Vorurtheil ist nicht immer so billig. Er geht, er sieht - und glaubt. Wichtig ist es für uns nachzuforschen, wie seine Vorurtheile vor Jesu Christo verschwunden sind. Jesus beginnt damit, daß er Nathanaels Herz gewinnt; er, der den Menschen gemacht hat, weiß wohl, daß es kein sichereres Mittel giebt, um ein Verstandesvorurtheil zu zerstören, als daß man eine Herzensneigung dagegen rüste, denn der Mensch ist weniger durch den Gedanken als durch das Gefühl Mensch. Ehe Nathanael bei Jesus ankömmt, giebt dieser ihm das schöne Zeugniß: Siehe ein rechter Israelit, in welchem sein Falsch ist.** Fühlt ihr wohl, wie liebevoll und überzeugend zugleich dies Zeugniß ist, das in einem solchen Augenblicke einem solchen Manne gegeben wird? Jesus, der eben so gut wie er ihn unter dem Feigenbaume gesehen hatte, gehört hat, wie er Philippus Antrag zurückstieß, hätte ihm mit gutem Recht seine blinden und ungerechten Vorurtheile vorwerfen können, wie ich es auch erst vorhatte. Aber nein, Jesus dringt nicht in die Tiefe von Nathanaels Herzen, damit er das Böse beschäme, sondern damit er das Gute gewahr werde, daß das Böse trotz allen Anscheins (der weniger wohlwollende oder hellsehende Augen getäuscht hätte), mäßigt und beherrscht. Das Vorurtheil liegt bei Nathanael auf der Oberfläche, die Aufrichtigkeit in der Tiefe, das genügt Jesus, daß er ihm ein Zeugniß in der Ueberzeugung giebt, daß Nathanael ihn seinerseits auch bezeugen werde. Alle aufrichtige Herzen gehören Jesu an, er verfügt darüber schon im voraus, wie über ein ihm angehöriges Gut, was ihm früh oder spät zufallen muß. Man hat bemerkt, daß tugendhafte Menschen am bereitwilligsten zur Unterstützung sind und daß die größesten Geister am geschicktesten sind, das Verdienst Anderer zu entdecken. Daher rührt diese bescheidene und großmüthige Verurtheilung, mit der ein Stapfer oder Ninet die Schönheiten eines Werkes hervorheben, als wollten sie sich selbst sorgfältig dahinter verbergen, während andere sorgfältig die Fehler aufsuchen, damit sie dadurch die kleine Ehre ihres Scharfsinns vergrößern. Die wahre Größe offenbart sich in der Auffindung des Guten auf edlere Weise als in der Auffindung des Bösen. Wenn ihr dieser Bemerkung ihre ganze Ausdehnung gebt, so werdet ihr Jesus, den vollkommenen Menschen, in dem das menschliche Herz und der menschliche Geist, verbunden mit der Gottheit, übermenschliche Entwickelung erhalten haben, um so besser verstehen. Der Gebrauch, den große Menschen von ihrer Ueberlegenheit machen, kann uns eine Vorstellung davon geben, was der Gott-Mensch mit seinem göttlichen Wissen macht. Es bringt den geringsten, in der dunkelsten Seelenfalte verborgenen Keim des Guten an's Licht; und wenn es zuweilen die unter der Miene bloßer Gleichgültigkeit verborgene Feindschaft enthüllt: „Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich“ (Luc. 11,23), so deckt es auch eine Tiefe der Theilnahme und des gutem Willen auf, die nur entwickelt zu werden wünschen, unter dem Anschein von Kälte und Unentschlossenheit: „Denn wer nicht wider uns ist, der ist für uns.“ (Luc. 9, 50.) Ihr würdet von dem einfältigen Glauben des Hauptmanns gerührt worden sein. Jesus thut mehr, er bewundert ihn. (Matth. 8. 9, 10.) Ihr hättet den Schriftgelehrten, der für die Weisheit in einer seiner Antworten Zeugniß ablegt, wohl nur eben unter den böswilligen Fragern Jesu Christi unterschieden, Jesus giebt ihm aber seinerseits eine auszeichnendere Anerkennung, die ihn von allen ihn Umgebenden trennt: „Du bist nicht fern vom Reiche Gottes.“ Ihr hättet vielleicht vor Begierde gebrannt, den jungen Reichen zu entlarven, der sich bekehren will und es nicht will, aber Jesus „liebt ihn“ so wie er ist und spart seinen Eifer, seinen Blick und sein Wort zu einer letzten Liebesanstrengung für ihn. O welche göttliche Liebe, die sorgfältig alles Uebrige entfernt, damit sie nur das Gute sieht, das sich allen Blicken, nur nicht den seinigen, entzieht; die Liebe ist um so viel herrlicher, weil man in der Freiheit ihres Verfahrens eine Wahrheit erkennt, die über sich selbst ruhig ist, während man oft in den strengen Urtheilen, die den besten Christen entfahren, die Unruhe einer Wahrheit erkennt, die sich bloß zu stellen fürchtet. Diese Liebe hat sich niemals sichtbarer bewiesen als beim Empfang Nathanael's: „Siehe, ein echter Israeliter, in welchem kein Falsch ist.“ Wir müssen uns, damit wir dies Wort gehörig würdigen, in Nathanaels Gewissen versetzen, dann können wir auch zugleich den Eindruck begreifen, den es auf diesen aufrichtigen Israeliten hervorbringt. Er sagt sich, wie viel gerechter ist Jesus gegen mich, als ich gegen ihn gewesen bin. Ich begnügte mich mit den ersten mir aufstoßenden oberflächlichen Betrachtungen und stieß damit das ihm von Philippus gegebene Zeugniß zurück, er aber dringt bis auf den Grund der Dinge, damit er gegen mich gerecht sein kann. Ist der ein gewöhnlicher Mensch, dem solche Erkenntniß bei solcher Güte zu Gebote steht? Sollte es nicht der sein, wofür ihn Philippus hält? Nathanael, du hast gut gesprochen oder gefühlt, du wirst als Lohn deiner Aufrichtigkeit einen neuen Beweis dessen, was er ist, erhalten und dann wird deine aufrichtige Frage in feste Gewißheit verwandelt werden.

Ich setzte voraus, daß Nathanael sich eben so günstig, wie Jesus ihn schildert, selbst beurtheilt. Es ist die natürlichste Erklärung der Frage, die er alsobald an Jesus richtet: „Woher kennest du mich?“ Es ist nicht richtig, daß diese Frage strenge genommen nur, wie dies manche Ausleger wollen, „woher könntest du mich kennen?“ bedeuten könnte, es würde dadurch die Richtigkeit des ausgesprochenen Urtheils in Zweifel gezogen. Warum wollen wir aber die ehrwürdige, edle Einfalt unserer Geschichte verderben? Warum wollen wir aus Nathanael ein Kind des 19. Jahrhunderts machen, der sich eine Ehre daraus macht, auf die einfache Wahrheit nur mit hergebrachter Höflichkeit zu antworten und der sich bei einem wohlverdienten Lobe gezwungen glaubt, freundlichst den Kopf zu schütteln und sich mit einer verstellten Bescheidenheit zu entschuldigen? Lasset doch Nathanael die Freiheit, daß er sagt, was er denkt, und daß er denkt, was er ist. Wenn der Heuchler die Heuchelei seines Herzens fühlt, so fühlt der Aufrichtige auch die Aufrichtigkeit seines Herzens: „Sondern ich bin ohne Wandel vor ihm und hüte mich vor Sünden.“ (Ps. 18, 24.) Jesus ist weit davon entfernt, Nathanaels Frage: „Woher kennest du mich?“ des Stolzes zu beschuldigen, sondern er giebt ihm die verlangte Erklärung, die aber in dem Sprecher eine übermenschliche Erkenntniß alles dessen, was sich unter der Sonne, ja selbst in der Tiefe der Herzen zuträgt, voraussetzt: „Ehe denn dich Philippus rief, da du unter dem Feigenbaum warest, sah ich dich.“ Muß man sich nun wundern, daß dies zweite Wort, das wie ein Blitzstrahl in die halbgewonnene Seele fällt, das beendet, was das erste anfing; das eine gewann das Herz, das andre unterwirft den Verstand: „Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel.“ Sind Nathanaels Vorurtheile aufgehellt, das weiß ich nicht. Nathanael würde vielleicht verlegen sein, wie er denselben Vorurtheilen, wenn sie ihm als Einwürfe aus dem Munde eines andern kämen, antworten sollte. Sie sind eben so wenig vor Vernunftgründen gewichen, als sie durch Vernunft gebildet waren. Geboren aus unwillkürlicher Empfindung, werden sie von einer tieferen und wahreren Empfindung verdrängt. Sie sind nicht aufgehellt, sie sind aber, wie Schnee vor der Sonne, vor Jesus Christus verschwunden. Mag sich das Geheimniß von Nazareth erklären wie und wo es kann, bei Nathanael haben Glaubensgründe, die aus seinem tiefsten Sein geschöpft sind, die Gründe zum Zweifeln unter die mehr oder weniger lösbaren Schwierigkeiten, womit der Mensch erfüllt ist, verbannt; sollten sie sich auch hienieden niemals auflösen, so können sie nicht der unwiderstehlich überzeugenden Macht Jesu, der ihm gegenüber steht, der selbst statt Philippus mit ihm spricht, das Gegengewicht halten: „Ehe denn dich Philippus rief, da du unter dem Feigenbaum warest, sah ich dich.“ Wer anders als der Messias könnte dem Nathanael alles sagen, „was er gethan hat?“ (Joh. 4, 29.) Da er es gehört hat, daß Philippus Nathanael rief, so hörte er auch, wie Nathanael Philippus widerstand, er war bei der Unterhaltung beider Freunde gegenwärtig, er kennt die Bitten des einen und die Vorurtheile des andern. Jesus kennt Nathanael nicht nur seit heute, er sah ihn an einem gewissen Tage, als er sich vor allen Blicken unter dem dicken Laube seines Feigenbaumes verbarg, aber vor seinen Blicken kann sich niemand verbergen; er las in seinem Herzen, was in jenem feierlichen Augenblicke darin vorging, und an seinen inwendigen Gedanken, wie sie auch gewesen sein mögen, konnte er den Israeliten erkennen, in welchem kein Falsch ist. Und wer weiß, wie lange Nathanael Jesus als immer gegenwärtigen, unsichtbaren Gefährten, als wachsamen, liebevollen, unbekannten Freund gehabt hat? Es ist geschehen, Nathanael ergiebt sich, wie ihr euch an seiner Stelle ergeben hättet, er theilt jetzt mit Philippus denselben Glauben. Ja Nathanaels Glaube überschreitet mit einem Sprung den Glauben seines Meisters Philippus. Den, welchen Philippus noch in seiner Unwissenheit „Josephs Sohn“ nennt, hat Nathanael, der in der heiligen Schrift bewanderter ist, schon aus dem zweiten Psalm „Gottes Sohn“ nennen gelernt; und den, welchen Philippus noch „Jesus von Nazareth“ nennt, betrachtet Nathanael schon nach der Weissagung desselben Psalms als den herrlichen König, der über Israel zuerst und dann über die ganze Welt herrscht und der von seinem Vater „die Heiden zum Erbtheil und der Welt Ende zum Eigenthum“ erhalten hat: „Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel.“

Das Mittel, zu dem Philippus mit Nathanael seine Zuflucht nahm, ist ihm so gut gelungen, daß ich kein anderes bei den von Vorurtheil befangenen aber aufrichtigen Herzen, die ich vor mir habe, anwenden will. Wie soll ich euch aber die Stellung verschaffen, die Philippus Nathanael verschaffte, als er zu ihm sprach: „Komm und siehe es“? Wie soll ich euch, damit eure Vorurtheile besiegt werden, von meinem Glauben, von meinen Gründen und von allem, was euch bis dahin nicht hat bestimmen können, in diese persönliche Beziehung zu Jesus Christus bringen, damit er euer Herz und euern Verstand gewinne, wie er den Nathanael gewann, vorausgesetzt, daß ihr ebenso aufrichtig und demütig seid, wie jener es war. Dieser Uebergang kann jetzt nicht mehr durch sichtbare, körperliche Mittel geschehen, er kann aber unter geistigen und unsichtbaren Bedingungen stattfindende eben darum nur wirksamer und heilsamer sind. Der Vortheil ist ganz auf unsrer Seite. Ich will das so gut als möglich erklären, und wer Ohren hat zu hören, der höre. Das erste Gefühl, das euch bedauern läßt, daß Jesus nicht mehr da ist und daß ich euch nicht wie Philippus Nathanael zu ihm führen kann, ist sehr natürlich, aber nichts darum weniger blind. Jesus sagt zu seinen Jüngern: „Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist euch gut, daß ich hingehe. Denn so ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch. So ich aber hingehe, will ich ihn zu euch senden.“ (Joh. 16, .) „Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten.“ (Joh. 16, 13.) Jesus ist nicht mehr auf der Erde, aber der heilige Geist ist in der Kirche, seit Jesus gen Himmel gefahren ist; der heilige Geist ist aber der unsichtbare, verklärte Jesus, der, weil er verklärt ist, unsichtbar ist: (Joh. , 39.) gehet also zu ihm. Dazu habt ihr weder Philippus noch mich, keinen Menschen nöthig; ihr müßt ihm nur euer Herz öffnen, ihn in seinem Worte vernehmen, ihn durch das Gebet anrufen und in der Tiefe eures Herzens suchen. Er ist euch so nahe, als wenn er noch auf Erden wandelte, er ist euch naher; wäre er sichtbar, so hättet ihr ihn „bei euch; da er unsichtbar ist, so könnt ihr ihn in euch“ (Joh. 14, 1?) haben: gehet denn zu ihm. Gehet von meinen Predigten, meinen Büchern, von mir zu ihm; der einzige Zweck, den ich beim Sprechen und beim Schreiben habe, ist, daß ich euch zu ihm führe; meine Predigten und meine Bücher mögen untergehen, wenn der sie belebende Geist nicht der Johannes des Täufers ist: „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen.“ (Joh. 3, 30.) Gehet zu ihm, ich kann euch nicht mehr davon sagen, die Sprache des Menschen schweigt bei dieser Grenze, denn jenseits derselben gehen Dinge zwischen euch und Gott vor, die keine Sprache wiedergeben kann, obgleich sie den geringsten Gotteskindern jeder Sprache, die unter dem Himmel ist, bekannt sind. Nur eine persönliche Erfahrung kann euch das Uebrige lehren, diese selige Erfahrung wird das für euch thun, was für Nathanael sein Gespräch mit Jesus that, ja sie wird noch mehr thun! Ihr werdet in dieser geistigen Gemeinschaft mit dem verklärten Jesus glauben ihn zu sehen und zu hören; es ist keine Täuschung, ihr werdet ihn mit euren geistigen Augen und Ohren im Reich der unsichtbaren, allein wahren, lebendigen, ewigen Dinge sehen und hören. In dieser geistigen Gemeinschaft mit dem verklärten Jesus Christus wird er euch die göttliche Herablassung bezeugen, mit der er zu Nathanael sprach: „Siehe, ein rechter Israeliter, in welchem kein Falsch ist.“ Ihr habt ihn für streng, sein Joch schwer und seine Forderungen für unausführbar gehalten, ihr werdet ihn sanftmüthig .und von Herzen demüthig finden, er wird euch ein Glas kalten Wassers, was ihr in seinem Namen verabreichtet, anrechnen, er wird das geringste Gute, das er in euch entdeckt, liebevoll aufnehmen; er wird euch bei dem geheimsten Zug nach der Wahrheit entgegenkommen, er wird euch die Gerechtigkeit widerfahren lassen, die wir euch vielleicht in unserer durch Ungewißheit beunruhigten Wahrhaftigkeit entzogen. In dieser geistigen Gemeinschaft mit dem verklärten Jesus Christus wird er vor euren Augen dies göttliche Licht leuchten lassen, das ihn zu Nathanael sprechen ließ: „Ehe denn dich Philippus rief, da du unter dem Feigenbaum warst.“ er wird euch eine Kenntniß eures Innern, eurer Bedürfnisse, eurer Versuchungen, eurer Kämpfe zeigen, die kein Mensch hat. die ihr selbst nicht besitzt; er wird euch sehen lassen, daß er euch mit einem liebevollen, wachsamen Antheil in allen Stufen eures geistigen Lebens schon früher als ihr euch selbst erkanntet, gefolgt ist und alles in den Gedanken der Bekehrung, den er heute in euch erweckt, endigen läßt; habt ihr auch eines Tages eure Zuflucht unter dem Feigenbaum gehabt und euer reuiges Herz vor Gott ausgeschüttet und ohne das Wissen der Menschen die aufrichtige Absicht gefaßt, euch ihm ganz und ohne Rückhalt hinzugeben, so wird er euch belehren, daß dieser redliche Entschluß nicht verloren ist, daß euer stilles Gebet nicht zur Erde gefallen ist und daß die verborgene, vielleicht nur zu bald getrocknete Thräne, deren Spur er nur noch auffindet (ihr verlöschtet sie vielleicht selbst) nicht vergeblich geflossen ist; und nun ist der günstige Tag gekommen, an dem alles, was er in seinem treuen Herzen aufbewahret hat, endlich köstliche Früchte tragen soll. Was soll ich euch noch mehr sagen? „Kommt und sehet!“ Ihr schämet euch, daß ihr so lange aufgeschoben, gezögert und gekämpft habt, ihr suchet eure früheren Vorurtheile und findet sie nicht mehr. Ach. es schadet nicht, daß er nur eine kleine Heerde hat, die ihm nachfolgt, daß ihm die Weisen und Großen dieser Welt den Rücken zuwenden; was liegt daran, daß ihr seine Lehre nicht mit den Gedanken der Welt, noch seine Sittenlehre mit den Grundsätzen der Welt vereinigen könnt; was liegt daran, daß die Menge ihn verleugnet, daß die Priester ihn verklagen, daß die Obersten ihn verurtheilen und die Soldaten ihn kreuzigen? was liegt daran, wenn ihr ihn erkannt habt, wie er ist, ihn selbst durch euch selbst, und wenn ihr das Recht erlangt habt, daß ihr uns zu unsrer großen Freude sagen könnt: „Wir glauben nun fort nicht um deiner Rede willen; wir haben selbst gehöret und erkannt, daß dieser ist wahrlich Christus, der Welt Heiland!“ (Joh. 4, 42.)

Ja, wenn ihr dies sagt! Werdet ihr es aber sagen? Ich bin gewiß, daß ihr es sagen werdet, wenn ihr das seid, wofür ich euch gehalten habe: ein Nathanael. Wenn Jesus bei Nathanael keinem Hindernisse begegnet, so kömmt das daher, weil er in ihm ein zu seiner Aufnahme vorbereitetes Herz findet; wir müssen also wissen, ob er bei euch das nämliche Herz findet? Meine ganze Frage ist also: bist du, mein Zuhörer, ein Nathanael?

Wenn wir nach dem wenigen, was wir aus Nathanaels Leben wissen, auf seine Gesinnungen schließen sollten, so wären sie uns nur unvollkommen bekannt; er wird uns aber hier von dem geschildert, „der da wußte, was im Menschen war, und bedurfte nicht, daß jemand Zeugniß von einem Menschen gäbe“ (Joh. 2, 25). „Nathanael ist ein rechter Israeliter, in welchem kein Falsch ist.“

Einige Ausleger verstehen unter einem Israeliten ohne Falsch nur einen ganz aufrichtigen Menschen, der Name Israelit habe hier nicht mehr Bedeutung, als der Name anderer Völker, wenn sie mit gewissen Tugenden, in denen sie sich auszuzeichnen glauben, verbunden sind, so spricht der Franzose von französischer Ritterlichkeit, der Engländer von englischer Freimüthigkeit, der Deutsche von deutscher Herzlichkeit. Dieser Charakterzug hat aber in der Sprache Jesu Christi, die alles auf das innerste Wesen der Dinge zurückführt, eine eben so treffende als tiefe Bedeutung. Ein Israelit ist ein Kind des Volkes, das von allen Völkern der Erde das auserwählte war, damit es durch den Mund seiner Propheten erhielte, „was Gott geredet hat“ (Röm. 3, 2) und damit es der Welt den Heiland gäbe, wenn die bestimmte Zeit erfüllt wäre. Da aber „nicht alle Israeliter sind, die von Israel sind“ (Röm. 9, 6), so ist ein ächter Israelit ein solcher, der es nicht nur äußerlich und nach der Beschneidung, sondern der es „inwendig verborgen und im Geiste“ ist (Röm. 2,29), ein Israelit, der die Erfüllung der Verheißung in dem Glauben erwartet, der erst in Abraham und dann in Jacob lebte und diesem seinen neuen Namen Israel gab.

In diesem Israeliten „ist kein Falsch“, er glaubt, was er zu glauben behauptet, die Gefühle seines Herzens entsprechen dem Vorrecht seiner Geburt. Bemerket wohl, daß die Aufrichtigkeit dieses Israeliten einen religiösen Charakter hat, sie enthält einen Keim des Glaubens an Gott, ja an Christum, den Gegenstand der Verheißung: für die Schrift ist nichts gut, woran Gott nicht seinen Antheil hat; und Gott hat keinen Theil an irgend etwas, wobei sein Christus nicht nah oder entfernt betheiligt ist. Die Schrift kennet keine von der Welt so genannte Aufrichtigkeit, die auf gleiche Weise in allen Religionen und sogar ohne eine solche vorhanden sein kann. Nathanael ist einer dieser rechten Israeliten, der dem Lichte, das er von Gott in seiner Zeit und nach seinem Maß erhalten, vor Gott treu ist. Gott, dem man angenehm ist nach dem, was man hat, und nicht nach dem, was man nicht hat, verlangt nicht mehr. Wenn wir Jesajas, Elias, David, Moses, Abraham. Noah, Abel zu ihrer Zeit und an ihrer Stelle nehmen, indem wir von Jahrhundert zu Jahrhundert bis zu dem dunkelsten Schimmer des ursprünglichen Glaubens zurückgehen, so sind auch sie nicht auf andere Weise treu gewesen. Es ist noch nicht der Glaube an Jesus Christus, den Nathanael bis dahin noch nicht Gelegenheit hatte, kennen zu lernen, es ist aber der verborgene Grund dazu; Nathanaels Treue, die er bei der erhaltenen Erkenntniß bewiesen hat, führt ihn auf dm Weg der Erkenntniß. die ihm noch fehlt. Es fehlt nur noch, daß er Jesus Christus gegenüber geführt wird, damit er in ihm den erkenne, den er suchte; konnte ihn das Vorurtheil zurückhalten, so war dies doch nur für einen Augenblick. Ein christlicher Gelehrter (Bautain) sagte jungen Juden, die er zu Jesus Christus hinführte: „Werdet gute Israeliten, so wird die Wahrheit das Uebrige thun.“

Wie viel mehr, meine theuren Zuhörer, wird es für euch hinreichend sein, wenn ihr mit Jesus Christus in Beziehung tretet, damit ihr glaubet, wenn ihr eurer Erkenntniß, die gewiß größer ist, als die Nathanaels, getreu seid. Ich spreche mit euch von eurer Erkenntniß, denn ihr seid im Schooß einer christlichen Kirche aufgezogen und besitzt wenigstens allgemeine Ansichten von der Wahrheit und Heiligkeit, die in der Luft, die wir alle einathmen, schweben. Ich halte mich an die Erkenntniß, die ihr besitzet, wie sich Jesus an die Erkenntniß, die Nathanael hatte, hielt, ohne daß ich mich um die unbestimmte Frage wegen der Erkenntniß, die die Mahomedaner oder Heiden besitzen, bekümmere. Predigte ich Mahomedanern oder Heiden, so würde ich mich mit ihnen beschäftigen, da ich aber euch predige, so beschäftige ich mich mit euch, dies Beispiel giebt mir die heilige Schrift. Seid ihr also der euch gewordenen Erkenntniß getreu? Seid ihr „ein rechter Israeliter, in welchem kein Falsch ist?“ Es ist alles da: das wahre, sittliche Maß eines Menschen liegt nicht in seiner Erkenntniß. sondern in seiner Treue. Es behauptete Jemand ganz richtig: „Es ist weniger wichtig, daß man angekommen, als daß man auf dem Wege ist“ denn wer auf dem Wege ist, wird trotz seiner Langsamkeit und seines Fallens an den entferntesten Puncten seines Weges ankommen. Man erzählt, daß Felix Neffs' religiöses Leben mit diesem seltsamen Gebet: „O Gott, offenbare dich mir, wenn ein Gott ist,“ angefangen hat. Ich glaube es ihm gerne, und ich entdecke in diesem Gebet, das so arm und so reich an Glauben ist, im Voraus den ganzen Felix Neff. Seid so unwissend und so befangen, wie ihr wollt, das bedeutet wenig, vorausgesetzt, daß ihr Gott und euch selbst getreu seid, und wandelt, „darin ihr gekommen seid“ (Philip. 3,16), indem ihr dem folgt, was ihr für wahr erkannt habt, wohin es euch auch führe, und indem ihr das thut, was ihr für gut haltet, mag man davon sagen, was man will und koste es, was es wolle. Ich sagte und wiederhole es gern: das aufrichtige Herz ist für Jesus Christus und er ist für dasselbe gemacht. Es ist zwischen Jesus Christus und einem aufrichtigen Herzen eine solche Verwandtschaft, ja eine solche Anziehungskraft, daß sie, wären sie auch so weit von einander als die beiden Enden der Welt, doch irgend einen Weg finden würden, um sich einander zu nähern und sich zu vereinigen; wenn sie ihn nicht fänden, so würden sie ihn schaffen. Jesus Christus selbst hat gesagt: „So jemand will deß Willen thun, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei oder ob ich von mir selber rede.“ (Joh. 7. 17.) Wenn ihr nicht so gesinnet seid, wenn eure Treue Ausnahmen, ja wenn sie bei Sachkenntniß nur eine einzige Ausnahme zuläßt; wenn ihr wissentlich und freiwillig ein deutlich gefordertes Opfer verweigert, wenn ihr mit Wissen und Willen in einem einzigen, klar erkannten Ungehorsam verharret, wenn euch mit einem Worte die Aufrichtigkeit, deren sich Jeder rühmt und die recht begriffen, das seltenste Ding auf der Welt ist, fehlt: dann übergebt ihr euch freilich nicht Jesu Christi, dann habt ihr aber auch nur euch selbst die Schuld zuzumessen. Wenn ihr nicht wie Nathanael gewonnen werdet, so seid ihr das nicht, wofür ich euch hielt, denn ihr habt vor Gott kein aufrichtiges Herz, ihr seid kein Nathanael.

Das Zeugniß. das Jesus Nathanael giebt, dringt noch tiefer ein. Die Worte „in welchem kein Falsch ist“, mit denen er schließt, sind dem 32. Psalm entlehnt. Wohl dem Menschen, dem der Herr die Missethat nicht zurechnet, in deß Geist kein Falsch ist.“ Jesus beweist eben so viel Beistand und Erkenntniß im Gebrauch der heiligen Schrift, als er beweist, wenn er aus seinem eigenen Herzen, dieser lebendigen Schrift, redet. Seinem Geist ist der ganze Psalm, an den er erinnert, gegenwärtig; so müssen wir denn beim Psalm selbst die Entwicklung des Characterzuges, auf den er sich stützt, nachfragen. Nachdem er gesagt hat: „Wohl dem Menschen, dem der Herr die Missethat nicht zurechnet, in deß Geist kein Falsch ist“, fährt der Psalmist also fort: „Denn da ich es wollte verschweigen, verschmachteten meine Gebeine durch mein täglich Heulen. Denn deine Hand war Tag und Nacht schwer auf mir, daß mein Saft vertrocknete, wie es im Sommer dürre wird. Darum bekenne ich dir meine Sünde und verhehle meine Missethat nicht. Ich sprach: Ich will dein Herrn meine Uebertretung bekennen; da vergabst du mir die Missethat meiner Sünde.“ Ihr hört es, der Mann, „in dem kein Falsch ist“, schweigt nicht, er „bekennt seine Sünde“ und „verhehlt seine Missethat nicht“, es ist mit einem Worte ein Mensch, der seine Uebertretungen Gott ohne Rückhalt und unumwunden bekennt. Wir erkennen in der engen Verbindung in dem 32. Psalm zwischen dem Sündenbekenntniß und dem Mangel an aller Falschheit die eben so einfache als tiefe Wahrheit, welche die heilige Schrift auszeichnet. Bei dem sündigen Menschen kann die Aufrichtigkeit nicht ohne Bekenntniß. und die Verweigerung des Bekenntnisses nicht ohne Falsch sein, denn der Sünder braucht beim Bekenntniß seiner Sünden nur einzugestehen, was er ist. Man kennt sich gründlich. Jeder weiß mehr von sich selbst als nöthig ist, um die demüthigsten Geständnisse herbei zu führen, vorausgesetzt, daß er sich nicht abwende, um sich nicht so zu sehen, wie er wirklich ist. Ein Beweis dafür ist. daß wenn euch Gottes Hand auf ein Krankenbett legt und dem Tode gegenüber stellt, ihr alsbald alle eure Sünden wie in Schlachtordnung gegen euch sich reihen seht, sie schlüpfen plötzlich wie Schlangen aus ihren Löchern aus den verborgensten Schlupfwinkeln, worin ihr sie vor Allen und vor euch selbst verborgen hieltet. Waren sie anderswo als in eurer Erinnerung? und wer sonst als euer Gewissen rief sie daraus hervor? Ihr habt die Macht, sie erscheinen und sie verschwinden zu lassen.

Nathanael kann der rechte Israelit, der er ist, nicht sein, wenn er nicht auch ein demüthiger, zum Bekenntniß bereitwilliger Mensch ist; und da Jesus diesen Characterzug an den Gedanken, die ihn unter dem Feigenbaum beschäftigten, erkannt hat, so ist es keineswegs zweifelhaft, daß er in seiner Zurückgezogenheit die Zeit zu einem Bekenntniß im Geist des 32. Psalms angewendet hat. Jesus hat ihn an einem Tage heilsamer Erweckung gesehen, wie er von seinen zahlreichen Uebertretungen durchdrungen, einen entlegenen Zufluchtsort aufsuchte, damit er sich allen Blicken entziehen und in Gottes Herz den bittern Schmerz seines eigenen ausschütten könne, indem er seine Vergebung heiß erflehte und zu ihm mit dem Zöllner sprach: „Mein Gott, sei mir Sünder gnädig,“ oder mit dem verlorenen Sohne: „Vater, ich habe gesündiget in dem Himmel und vor dir“; er hatte dabei mit dem ganzen gläubigen Israel seine Augen auf das zukünftige Opfer gerichtet, das nach David für ihn „durchgraben“ (Ps. 22, 17) werden sollte: oder nach Jesaias (53, 5) „ist um unserer Missethat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen.“ Ach, was bedurfte es mehr, als daß Nathanael Jesus sah, um alsobald an Wort, Miene und Blick den zu erkennen, den er suchte? Diesem nach Gnade durstenden Herzen hat man Alles gesagt, wenn man ihm diesen Menschensohn zeiget, der gekommen ist, „zu suchen und selig zu machen, was verloren ist“ (Luc. 19, 10). Philippus hat den gefunden, „von welchem Moses und die Propheten geschrieben haben,“ aber Nathanael hat den gefunden, „der eine Versöhnung gefunden hat.“ (Hiob 33, 24.)

Bist du, mein lieber Zuhörer, ein Mensch „ohne Falsch?“ Weißt du, was das ist, wenn du deine Sünden ohne Umschweife, ohne Etwas zu verschweigen, ohne Schonung bekennst? Hast du sie wenigstens einmal so in deinem Leben bekannt? - Frage ich zu viel? Hast du auch deine Stunde unter dem Feigenbaume gehabt, wo du von der Welt entfernt, allein mit Gott auf dem stillen Lande oder unter dem gestirnten Himmel dir alle Sünden deines Lebens in dein Gedächtniß zurückriefest, damit du sie in das Herz deines Schöpfers, deines Richters, deines himmlischen Vaters ausschüttetest? Ach, wenn du das thust, wenn du das nur ein einziges Mal in deinem Leben thatest, dann bin ich über das, was du von Jesus Christus denkst, beruhigt. Die dürre Erde bedarf nicht mehr des Regens und des Thaues vom Himmel; der vom grausamen Jäger unaufhörlich verfolgte Hirsch bedarf nicht mehr des fließenden Wassers, damit er den ihn verzehrenden Durst stille; die von Angst um das Leben ihres geliebten Sohnes, das aus Mangel an Hülfe zu erlöschen droht, gefolterte Mutter, bedarf nicht mehr der treuen Hand, die seine erstarrende Ader öffnen soll, als der mühselige und beladene Sünder Jesus bedarf, damit er seinen Frieden mit Gott mache. Dies höchste Bedürfniß offenbart ihm sein Heiland, sobald er ihn aus der Ferne kommen sieht. Er suchte ihn, er trachtete nach ihm, er ahnte ihn, er hätte ihn erfunden, wenn er ihn nicht fand; wie könnte er ihn verkennen, da er ihm entgegen kommt, mit ihm spricht und ihn nennt? Ich frage dich selbst, .kannst du dir einen Menschen denken, der so betet, wie ich es sagte: „Mein Gott, sei mir Sünder gnädig.“ oder: „Mein Vater, ich habe gesündigt in dem Himmel und vor dir,“ und der Christus gegenüber, der zu ihm sagt: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken,“ oder „des Menschen Sohn ist gekommen, daß er gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele“ (Matth. 20, 28), nicht ohne weitere Prüfung ausrieft: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Leben und wir haben geglaubet und erkannt, daß du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!“ (Joh. 6, 67.) Wenn du dich aber weigerst, deine Sünden zu bekennen, wenn du zu denen gehörst, „die sich unter einander schmücken, daß sie ihre böse Sache fördern“ (Ps. 36, 3), wenn du statt des Zöllners Gebet das des Pharisäers darbringst: „Ich danke dir, daß ich nicht bin wie andere Menschen“, dann fühlst du dich natürlich mehr von Jesu Christo zurückgestoßen als angezogen, dann hast du aber auch nur dir selbst die Schuld davon zuzumessen. Wenn du nicht wie Nathanael gewonnen wirst, so liegt es daran, daß du nicht bist, wofür ich dich hielt, dann bist du kein Israelit ohne Falsch, dann bist du kein Nathanael.

Und nun Nathanael, bist du ein Nathanael? Aufrichtiger Mensch, bist du aufrichtig? Du mußt dies selbst wissen. Ich weiß, daß Jesus Christus dich an dem Tage mit dem Glauben Nathanaels von sich entlassen wird, an dem du ihm Nathanaels Herz entgegen bringen wirst.

Ich wünsche, daß du so weit gekommen bist. Dich kann aber noch ein entmuthigender Gedanke, gegen den ich dich sichern will, beunruhigen; ich muß deshalb meinem Text bis zu Ende folgen. Du fürchtest vielleicht, wenn du heute glaubst, daß du einer augenblicklichen Begeisterung folgst und fürchtest den kommenden Tag. Wenn du auch schon ganz in den Glauben eingetreten bist, so erwarten dich doch Kämpfe: wer weiß, ob die alten Einwürfe, die sich Jesu gegenüber zerstreuten, dir nicht ins Gedächtniß zurückkommen? Wer weiß, ob nicht noch finstre Augenblicke wiederkommen, wo deine Gemeinschaft mit Jesu aufgehoben wird, wo dir die Gründe, die, dich zum Glauben gebracht haben, nicht hinreichend erscheinen, um dich darin fest zu erhalten? - Beruhige dich, Jesus weiß, woraus wir gemacht sind, er hat dem allen für dich abgeholfen, indem er dem allen für Nathanael abgeholfen hat.

Wie stark auch die Gründe sind, die seinen entstehenden Glauben entschieden haben, Jesus hat noch stärkere im Rückhalt, mit denen er ihn nähren und stärken kann. Ja, ich kann vielmehr sagen: Jesus behandelt die ersten im Vergleich zu den zweiten wie die Gründe eines Kindes, die man nicht gegen die Gründe eines erwachsenen Mannes in die Wagschale legen kann, die die Zukunft dem Nathanael vorbereitet. „Du glaubest, weil ich dir gesagt habe, daß ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaume, du wirst noch Größeres denn das sehen.“ Was ist dies größere? Es ist dies: „Wahrlich, wahrlich ich sage euch, von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen, und die Engel Gottes hinauf und herabfahren auf des Menschen Sohn.“ Dies ist wieder eine Andeutung auf das alte Testament. (1. B. Moses 28, 12), von dem Jesus ganz erfüllt ist und das für Nathanael, den fleißigen und gelehrigen Schüler des alten Testaments, wunderbar geeignete Beweisgründe liefert. Als Jacob auf dem Lande bei Bethel schlich träumte ihm: „und siehe eine Leiter stand auf Erden, die rührete mit der Spitze an den Himmel und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder.“ Diese Leiter ist Christus, der durch seine Menschwerdung und durch sein Opfer die durch die Sünde aufgehobene Verbindung zwischen Himmel und Erde wieder herstellt und der aus uns, die wir durch unsere Verirrung verabscheuungswürdige Gegenstände für die heiligen Engel geworden waren, geliebte Brüder macht, die sie gern besuchen und denen sie gern dienen. Nathanael und seine Genossen sehen, wie sich diese Weissagung bestätigt und das befestigt ihren Glauben. Eine einzelne und flüchtige Einmischung des Himmels in die irdischen Dinge, ein Blick, den Jesus im Vorübergehen auf ein stilles Gebet, das unter dem Feigenbaum dargebracht wurde, waren hinreichend, um alle Zweifel und alle Vorurtheile Nathanaels zu besiegen; ach, wie wird ihm sein, wenn er den Himmel immer über sich offen sieht und himmlische Genossen in seiner Nähe? Wie wird ihm sein, wenn er in der irdischen Gemeinschaft, dieses Jesus, „der in dem Himmel ist“, lebt, wenn er ihn fragt, ihn hört, ihn von Angesicht zu Angesicht sieht, wenn er ihn kennt, so wie er ist? Wie wird ihm erst sein, wenn er getauft mit dem Geist der Wahrheit in einer beständigen Gemeinschaft mit diesem selben im Himmel aufgenommenen Jesus lebt, und er in jedem Tagewerke ein beständiges „unter dem Feigenbaum“ findet, und bei jedem Bekenntniß, bei jedem Gebet einen Blick, eine Antwort, eine Errettung Gottes seines Heilandes?

Meine lieben Brüder, beunruhigt euch denn nicht mehr um eure Zukunft als Nathanael Ursache hatte, sich um die seinige zu beunruhigen. Wenn eine gewisse Lebendigkeit der Gefühle, eine gewisse Frische der Eindrücke, ja vielleicht ein gewisser Zug gefühlvoller Frömmigkeit sich vermindern sollten, so wird dieser Nachtheil durch Erkenntniß, Festigkeit und wachsende Reife mehr als aufgewogen, und eure letzte Zeit wird alles zusammen genommen besser als die erste sein.

Zur Glaubensentwicklung ist nichts mehr werth als die Erfahrung. Denn sie „bringet Hoffnung“, das ist eine unerschütterliche Gewißheit; der Beweis davon ist die beständige Ausübung des Glaubens im christlichen Leben. Der Apostel fügt hinzu: „Hoffnung aber läßt nicht zu schanden werden. Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz durch den heiligen Geist, welcher uns gegeben ist.“ (Röm. 5,4,5.) Die durch den heiligen Geist im Herzen besiegelte Erfahrung ist der sicherste Bürge für den Glauben. Die Erfahrung, indem sie den Glauben nach allen Richtungen führt, um ihn nach einander allen Lebensansichten gegenüber zustellen, und der heilige Geist, indem er, die verschiedenen Seiten nach einander mit Gottes Siegel bezeichnet, vereinigen sich, damit das göttliche Leben die innersten Tiefen des menschlichen Lebens durchdringe. Der in das Haus seines Vaters zurückgekehrte, verlorene Sohn findet vielleicht nie einen solchen göttlichen Augenblick wieder, als der war, in dem er nach seiner langen, strafwürdigen Abwesenheit in die väterlichen Arme geschlossen wurde. Kann er es aber bezweifeln, daß er geliebt und zu Gnaden angenommen ist, wenn er bei seinem Vater wohnt, wenn er jeden Tag seine Gegenwart und seinen Umgang genießt, wenn er beständig die Rechte und Vorrechte eines lieben Sohnes ausübt? Dies ist ein lebendiges und liebliches Bild dessen, was auch euch vorbehalten ist: ihr konnt nicht zweifeln, wenn ihr beständig betet, daß Gott euer Gebet erhört; ihr könnt eben so wenig zweifeln, wenn ihr alle Tage in der heiligen Schrift leset, daß sie eine große Kluft von allen menschlichen Büchern trennt; ihr könnt unmöglich zweifeln, wenn ihr aus dem Leben Jesu und in seiner Gemeinschaft lebt, daß der, der den Sohn hat. das Leben hat. Dadurch wird der Glaube, fast umgewandelt in ein Schauen von hienieden aus, zuletzt in euch zur zweiten Natur werden. Ihr werdet Gott sehen, ihr werdet das Zeugniß Gottes in euch haben, ihr werdet Niemanden mehr zu fragen brauchen, und ihr werdet von dem Leben und dem Heil eurer Seele durch eine eben so unerklärliche als sichere und unwidersprechliche Gewißheit überzeugt sein als die ist, welche euch in diesem Augenblick überzeugt, daß ihr lebt und daß euch die Sonne scheint. Es werden euch jeden Tag stärkere und zahlreichere Bande mit Jesus Christus vereinigen und nichts wird euch mehr von ihm trennen können, ohne euch ganz zu zerreissen. - Seid denn unbesorgt und laßt Gott walten. Ihr glaubet, weil ihr anfangt, Christum kennen zu lernen: „Ihr werdet noch größeres denn das sehen“, das Lächeln eines immer offenen Himmels wird eure ganze Furcht verscheuchen und wird euch in Jesu Christo „vollbereiten, stärken, kräftigen, gründen.“ (1 Petr. 5, 10.)

Nun noch ein Wort an die aufrichtigen Menschen, die nicht glauben. Weil Nathanael aufrichtig ist, genügt es, daß er in Beziehung zu Jesus Christus tritt, damit er glaube. Wenn er aber, nachdem er Jesus gesehen und gehöret hat, ihm widerstanden hätte, wie er es bei Philippus that und in seinem Unglauben geblieben wäre, hättet ihr dann nicht über ihn geurtheilt, daß er nicht der aufrichtige Mensch sei, für den er sich halte? - Ihr sprecht damit euer eigenes Urtheil aus. Durch das Ergebniß eurer Beziehungen mit Jesus stellt er eure Aufrichtigkeit auf die Probe. Ja man kann ungläubig und aufrichtig sein; wenn man aber wie ihr, und wäre es auch nur durch die eben gehörte Predigt, einmal mit Jesus in Berührung gekommen ist, so kann man weder ungläubig bleiben, wenn man aufrichtig ist, noch aufrichtig sein, wenn man ungläubig bleibt. Die Frage des Heils löst sich in eine Frage der Aufrichtigkeit, die in eurem Innern lebt, auf: das ist die ermuthigendste oder die schrecklichste Ansicht des Evangeliums. Wählet denn!

Dort ist Nathanael, hier ist Philippus. Was wäre aus Nathanael geworden, obgleich er Nathanael war, wie hätte er Jesus kennen gelernt, obgleich er Jesus war, wenn sich nicht Philippus gefunden hätte, der sie mit einander in Beziehung brachte? Statt Philippus hätte her Herr wohl ein anderes Werkzeug finden können; Philippus ist aber hier das Werkzeug, dessen er sich bedient; wir verdanken Nathanael nach Jesus dem Philippus. Ach meine Freunde, die ihr schon euren Heiland gefunden habt, wer weiß, wie mancher Nathanael noch in der Welt ist. dem nur ein Philippus fehlt? Wer versteht es, diesem unbestimmten Bedürfniß, das sich selbst vielleicht kaum kennt, abzuhelfen? Wer kann mit Glauben, Hoffnung und Liebe seine natürliche Furchtsamkeit überwinden, der menschlichen Achtung trotzen, einer ersten Weigerung die Stirn bieten, über ein blindes: „was kann von Nazareth Gutes kommen?“ siegen? Meine Brüder und Schwestern, lasset uns treu sein. Wir wollen nicht dulden, daß ein einziger Nathanael in unserm Bereiche durch unsern Fehler ausgeschlossen bleibt. Glücklich wäre ein Jeder von uns, wenn sich die heute begonnene Woche nicht schlösse, ohne daß Jeder wenigstens einen Nathanael zu seines Heilandes Füßen geführt hätte! Amen.

Monod, Adolphe Nathanael — Die großen Seelen. Zwei Predigten Aus dem Französischen Bremen Druck und Verlag von Heinrich Strack. 1859

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