Monod, Adolphe - Abschiedsworte - Der Schmerzensmann und die Schmerzensmänner.
(Den 6. Januar 1856.)
Der Christ in der Trübsal ist ganz unmittelbar von Gott aufgefordert, darüber nachzudenken, welche Stelle das Leiden in dem göttlichen Erlösungsplan einnimmt, sowie in der Entwicklung des Reiches Gottes auf Erden und in der Offenbarung der heiligen Schrift. Dann versteht er das zugleich so einfache und tiefe Wort: „Lasst euch die Hitze, so euch begegnet, nicht befremden, als widerführe euch etwas Seltsames.“1) Etwas Seltsames würde es sein, wenn wir für das ewige Leben reif werden könnten, und noch besonders, wenn ein Diener Gottes sich in seiner Arbeit gesegnet sehen könnte, ich will nicht bloß sagen ohne Trübsal, sondern ohne ein großes Maß von Trübsalen: „Durch viele Trübsale müssen wir in das Reich Gottes gehen.“2) Diese Lehre ist uns zuerst klar geoffenbart worden in demjenigen selbst, dessen Opfer wir in diesem Augenblick feiern, denn nur diesen Schmerzen und diesem Opfer verdanken wir den Besitz des ewigen Lebens. Der Heiland ist ein Schmerzensmann gewesen, „voller Schmerzen und Krankheit;“3) nicht nur ein Schmerzensmann ist er gewesen, sondern der Schmerzensmann, in dem alle Schmerzen sich vereinigt finden, und der so viel gelitten hat, als ein Mensch nie wird leiden oder auch nur fassen können. Aber wie der Meister, so die Jünger; und die Jünger unseres Herrn Jesu Christi - ich rede hier insbesondere von seinen mit dem Geist erfüllten Werkzeugen, in denen der Herr sich noch ganz besonders geoffenbart und gleichsam selbst dargestellt hat - diese Jünger. sage ich, sind eine Reihe von Schmerzensmännern gewesen, von Abel bis zu den Aposteln Paulus und Johannes. Das tritt und bei einem oberflächlichen Lesen der heiligen Schrift nicht genug entgegen; aber wenn man etwas tiefer in das Wort Gottes eindringt, so fällt es uns immer mehr auf. Die Apostel, die Propheten werden uns überall in der heiligen Schrift als Schmerzensmänner dargestellt, als Menschen, welche größere Leiden ertragen haben als wir wissen und sehen, denn die heilige Schrift lässt uns mehr zwischen den Zeilen lesen, als sie uns zeigt. Um uns zu zeigen, was diese Männer Gottes gelitten haben, hätte sie uns ihre Lebensgeschichte im Einzelnen erzählen müssen.
Die Apostel, es ist nur Einer unter ihnen, dessen Leben und etwas genauer erzählt ist, aber das ist ein Mann, dessen Amt Gott mit Leiden bezeichnet bat, denn er sagt bei seiner Berufung: „Ich will ihm zeigen, wie viel er leiden muss um meines Namens willen.“ 4) Wenn wir das Leben des heiligen Paulus in seinem Verlauf verfolgen, so finden wir, dass es vom Anfang bis zum Ende nur ein Leben voll äußerer und innerer Schmerzen gewesen ist. Hört nur, was er selbst in den letzten Versen des 11. Kapitels im zweiten Brief an die Korinther darüber sagt: „Sie sind Diener Christi; (ich rede töricht) ich bin wohl mehr. Ich habe mehr gearbeitet, ich habe mehr Schläge erlitten, ich bin öfters gefangen, oft in Todesnöten gewesen. Von den Juden habe ich fünfmal empfangen vierzig Streiche weniger eins. Ich bin dreimal gestäupt, einmal gesteinigt, dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, Tag und Nacht habe ich zugebracht in der Tiefe (des Meers). Ich habe oft gereist; ich bin in Gefahr gewesen zu Wasser, in Gefahr unter den Mördern, in Gefahr unter den Juden, in Gefahr unter den Heiden, in Gefahr in den Städten, in Gefahr in der Wüste, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter den falschen Brüdern; in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße; ohne was sich sonst zuträgt, nämlich, dass ich täglich werde angelaufen und trage Sorge für alle Gemeinen. Wer ist schwach, und ich werde nicht schwach? Wer wird geärgert, und ich brenne nicht?“ Erwägt jeden einzelnen Umstand für sich. Welch ein Gemälde! Weld ein äußeres und inneres Leben! Da seht das Maß seiner Liebe in dem Maße seiner Schmerzen.
Die Propheten, - Nehmt als Beispiel der Geduld, sagt Jakobus, die Propheten, die im Namen des Herrn geredet haben; und wenn wir das Leben der Propheten einigermaßen aufmerksam durchgehen, besonders das Leben derjenigen, deren Geschichte wir weniger unvollkommen kennen, so werden wir dieses Wort ganz bis in's Einzelne bewahrheitet finden, z. B. bei Jeremias, einem der Propheten, von dem wir einige Züge kennen. Der Bekannteste aber von allen Propheten ist David, dessen Geschichte uns am genauesten erzählt ist. Habt Ihr je über die Schmerzen nachgedacht, deren das Leben Davids voll ist? Wenn Ihr sein Leben nur so nehmt, wie es uns im ersten und zweiten Buch Samuelis und auch in den Königen und in der Chronik erzählt ist, so werdet Ihr Nichts davon sehen. Da seht Ihr in David einen Mann, der im Anfang seines Lebens von Saul verfolgt wurde; er hat viel Feinde gehabt, aber am Ende hat er doch über Saul triumphiert und einen großen Ruhm geerntet. Weiter seht Ihr diesen Mann im Schoß seiner Familie tief betrübt und niedergeschlagen zur gerechten Strafe seiner Sünden; aber Ihr seht ihn auch getröstet und überreichlich gestärkt durch Gott, der selbst bei den schärfsten Züchtigungen noch seiner Verheißungen gegen David und seiner Barmherzigkeit für ihn nicht vergisst. In diesem Leben finden wir nun zwar viele Prüfungen und viel Unruhe, aber alles das gibt uns am Ende noch keinen Begriff von den Leiden Davids: um diese zu kennen, muss man die Psalmen lesen. Die Psalmen offenbaren uns den inneren Menschen David, und in dem inneren Menschen David offenbaren sie uns gleichsam den inneren Menschen aller Propheten Gottes: nun Schoß, die Psalmen sind ganz voll von Ausdrücken unerhörten Schmerzes. David spricht darin ohne Aufhören von seinen Leiden, von seinen Krankheiten, von seinen Feinden ohne Zahl; kaum begreift man, wenn man sie liest, was er unter diesen Feinden versteht, von denen er ohne Aufhören spricht, aber sie offenbaren uns wenigstens ein Inneres voll Trübsal, dessen wir, nur die Geschichte Davids in der Hand, uns niemals versehen haben würden.
Das ist ein Hauptnutzen der Psalmen. Lest den 38. Psalm und erwägt jeden einzelnen Zug darin. „Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm. Denn deine Pfeile stecken in mir, und deine Hand drückt mich. Es ist nichts Gesundes an meinem Leib vor deinem Drohen, und ist kein Friede in meinen Gebeinen vor meiner Sünde. Denn meine Sünden gehen über mein Haupt, wie eine schwere Last sind sie mir zu schwer geworden. Meine Wunden stinken und eitern vor meiner Torheit. Ich gehe krumm und sehr gebückt, den ganzen Tag gehe ich traurig. Denn meine Lenden verdorren ganz, und ist nichts Gesundes an meinem Leibe. Es ist mit mir gar anders und bin sehr zerstoßen. Ich heule vor Unruhe meines Herzens. Herr, vor dir ist alle meine Begierde, und mein Seufzen ist dir nicht verborgen. Mein Herz bebt, meine Kraft hat mich verlassen, und das Licht meiner Augen ist nicht bei mir. Meine Lieben und Freunde stehen gegen mir, und scheuen meine Plage, und meine Nächsten treten ferne. Und die mir nach der Seele stehen, stellen mir; und die mir übel wollen, reden, wie sie Schaden tun wollen, und gehen mit eitel Listen um. Ich aber muss sein wie ein Tauber, und nicht hören, und wie ein Stummer, der seinen Mund nicht auftut. Und muss sein wie einer, der nicht hört, und der keine Widerrede in seinem Munde hat. Aber ich harre, Herr, auf dich; du, Herr, mein Gott, wirst erhören. Denn ich denke, dass sie ja sich nicht über mich freuen. Wenn mein Fuß wankte, würden sie sich hoch rühmen wider mich. Denn ich bin zu Leiden gemacht, und mein Schmerz ist immer vor mir. Denn ich zeige meine Missetat an, und sorge für meine Sünde. Aber meine Feinde leben, und sind mächtig; die mich unbillig hassen, sind groß. Und die mir Arges tun um Gutes, setzen sich wider mich, darum, dass ich ob dem Guten halte. Verlass mich nicht, Herr, mein Gott, sei nicht ferne von mir. Eile mir beizustehen, Herr, meine Hilfe.“ Unzählige Feinde, die ihn bedrängen, das Gefühl seiner Sünden, das ihn niederdrückt, diese Anhäufung von Krankheiten: er ist an den Augen krank, deren Lichter verliert; seine Lenden sind verdorrt; sein Körper ist gekrümmt, so dass er kaum gehen kann; seine Wunden eitern und verbreiten einen Modergeruch, das ist David in diesem Psalm. Aber lest den 6., lest den 59. Psalm, lest eine ganze Menge von Psalmen; immer findet Ihr ihn in ähnlicher Betrübnis; er ist in Wahrheit ganz mit Schmerzen überhäuft. Man darf nicht sagen, dass diese Schmerzen, weil David ein Vorbild auf Jesum Christum gewesen ist, sich nur auf den Messias beziehen: ohne Zweifel, die Schmerzen Davide sind ein Vorbild auf die Schmerzen Jesu Christi gewesen, aber sie konnten dies nur deshalb sein, weil sie wirklich Schmerzen waren; und gerade weil David ein Schmerzensmann war, ist er ein Vorbild auf den Schmerzensmann gewesen.
Sollen wir aber dabei stehen bleiben, meine lieben Freunde? Nachdem wir erkannt haben, dass die Apostel und die Propheten Schmerzensmänner gewesen sind, sollen wir bei diesem traurigen Gedanken der Schmerzen stehen bleiben? Es sind nicht nur Schmerzensmänner, sondern es sind auch Männer, die den Schmerz überwunden haben, und ihre Leiden haben zur Ehre und zum Ruhm Gottes dienen lassen. Jesus Christus, an der Spitze der Seinigen, triumphiert über den Schmerz, und führt seine Mission der Liebe durch bis in die Tiefen der schrecklichsten Angst hinein. In Gethsemane hören wir ihn seine Jünger ermahnen und, als es sich darum handelt, seinen Liebesberuf bei ihnen zu erfüllen, sehen wir ihn die ganze Freiheit seines Geistes behalten. Ebenso am Kreuz, wo er unablässig seinen Jüngern, dem Volk, Johannes, Maria, Allen bis an das Ende seines schrecklichen Todeskampfes Worte des ewigen Lebens sagt. Das ist der Schmerzensmann, der über den Schmerz triumphiert, um in seinen Schmerzen und durch seine Schmerzen seine Mission zu erfüllen. Ebenso ist es mit seinen Jüngern, ebenso mit seinen Aposteln. Und wie wendet der Apostel seine Leiden an? Ganz allein zur Ehre Gottes. Er lässt sich durchaus nicht durch seine Leiden niederdrücken, wie wir so leicht tun: er triumphiert über sie durch die Liebe Christi und lässt sie Alle mit wunderbarer Treue zur Förderung des Reiches Gottes dienen. Und David, bei dem ich, mich ganz besonders aufgehalten habe, habt Ihr bemerkt, wie er über seine Leiden triumphiert, um sein Wert zu vollbringen? Der Hauptgegenstand der Mission, welche David von Gott für alle Geschlechter in der Kirche erhalten hat, ist die Abfassung der Psalmen. Nun wohl, er verfasst seine Psalmen, oder doch einen großen Teil derselben, mitten in den grausamsten Leiden. Stellt Euch vor, dass Ihr durch physisches, moralisches und geistiges Leiden niedergedrückt berufen wärt, einen Psalm zu verfassen, und dass nun mitten aus diesen Leiden und in dem Augenblick selbst, wo sie so groß sind, wie er sie im 38. Psalm beschreibt, Hymnen zur Ehre Gottes und zur Unterweisung der Kirche daraus hervorquellen. Welch herrlichen Sieg trägt da David über sich selbst davon, und welch tiefe Demütigung ist das für uns, die wir in unserer Schwäche meistens warten müssen, bis unsere Schmerzen vorüber sind, um Frucht davon zu ernten und Andere ernten lassen zu können! Uber David mitten in seinen Schmerzen schreibt seine Psalmen. Er schreibt seinen 38. Psalm, während er diese Verfolgungen, diese inneren Qualen, diese Bitterkeit der Sünde erduldet. Ich weiß, man könnte sagen, David habe den 38. Psalm bei kaltem Blut geschrieben, und sich wie ein Dichter in nie erlebte Leiden, so in vergangene Schmerzen zurückversetzt; aber nein, diese Annahme widert Euch ebenso an wie mich in der Hitze der Trübsal, mitten aus ihr heraus hat er diese Zeilen geschrieben, die in allen Zeiten zur Ermutigung der Kirche dienen müssen. Macht der Liebe Christi! Aufopferung des eigenen Willens! o Gnade des rechten Dieners Gottes! o Kraft des Apostels und Kraft des Propheten, Kraft Christi und des heiligen Geistes in ihnen! Denn nie wäre der Mensch einer solchen Willensstärke fähig, eines solchen Sieges über das Fleisch!
Meine lieben Freunde, ich überlasse einem Jeden von Euch die Anwendung. Sie besteht in zwei Fragen: Sind wir Schmerzensmänner, und in welchem Maße haben wir Teil an den Leiden Christi? Wenn wir an den Leiden Christi Teil haben, wissen wir darüber zu triumphieren, so dass unsere Leiden durch die Macht der Liebe zum Ruhm Gottes, zum Wohl des Nächsten und unserer Brüder ausschlagen, während sie zugleich um so mehr daran arbeiten, und zu heiligen, uns zu nähren, und für uns zu sammeln das Kleinod einer überschwänglichen Herrlichkeit?