Monod, Adolphe - Abschiedsworte - Alles in der Schrift ist ideal
(14. Oktober 1855)
Meine lieben Freunde, geliebte Brüder und Schwestern, mit denen ich so glücklich und so dankbar bin, den Leib und das Blut unseres Heilandes empfangen zu können; diesen Leib, der die „rechte Speise“, und dieses Blut, das der „rechte Trank“ für den ist, der es im Glauben empfängt durch den heiligen Geist; es ist ein Zug in der heiligen Schrift, der ganz allein als Beweis hinreichen könnte, dass sie Gottes Mort ist: der Zug, dass Alles in ihr ideal ist. Es ist nichts in der Schrift, was nicht ganz und vollkommen wäre. Sie denkt nie daran, uns nur vermittelst eines gewissen Maßes von Glauben zu einem gewissen Grad von Heiligkeit zu berufen; jedes Maß widerspricht dem Geist der Schrift, weil es Gott widerspricht. Ihr Ideal ist nicht wie das der Dichter, welche die Dinge der Erde entrücken, um sie bis in den dritten Himmel zu erheben; die Schrift tut das Gegenteil; für sie sind die sichtbaren Dinge nur Abbilder der unsichtbaren und allein wirklichen; sie schaut alle Dinge mit dem Auge Gottes an. Dies ist eine Wahrheit, die mir heute Morgen lebhaft vor die Seele trat, als ich vor dem Herrn darüber nachdachte, was ich Euch vom heiligen Abendmahl und vom Kreuz Jesu Christi, in dem wir allein die Vergebung unserer Sünden finden, an's Herz legen könnte.
Die Schrift stellt uns die Sünde überall in ihrer Idee, in ihrem vollendeten Wesen dar. Niemand von uns fasst den Gräuel, Niemand den Fluch, dessen Brandmal die Sünde vor Gott trägt. Wir haben immer auf dieser Erde gelebt, welche die Sünde wie Wasser einsaugt und wie Brot isst, wir haben immer eine so von Sünde gesättigte Atmosphäre geatmet, dass wir diese Sünde, die uns von allen Seiten umgibt, nicht mehr zu unterscheiden vermögen. Die Erfahrung, die ich gemacht habe, ist in kurzen Worten diese: In der Bibel steht: „Wir waren auch weiland unweise, ungehorsame, Irrige, Dienende den Lüsten und mancherlei Wollüsten, und wandelten in Bosheit und Neid, und hassten uns unter einander.“1) Lange Zeit hindurch war es mir unmöglich, diesen Ausspruch gelten zu lassen; er dünkte mir übertrieben. Ja ich gestehe, dass selbst dann, als Gottes Barmherzigkeit mich an dem seit Ewigkeit dazu gesetzten Tag zu sich gezogen hatte, noch lange Zeit verging, ehe ich diesen Ausspruch vollständig annehmen konnte. Noch mehr: ich bekenne, dass auch seitdem und bis zu diesem Augenblick ich seinen ganzen Gehalt noch nicht fassen kann; nicht als ob ich von der vollkommenen Wahrheit desselben nicht überzeugt wäre, sondern ich lebe nicht in seiner Erfahrung, und das ist meine Schuld. An diesem Punkt habe ich recht die Notwendigkeit eines Zeugnisses erkannt, das vor und ist und außer uns und über uns. Ich nehme jenen Ausspruch, als von Gott kommend, an, weil ich ihn in seinem Wort finde, und ich bitte Gott, mir den Sinn davon durch seinen Geist ganz zu offenbaren. Ich bin durch die Gnade Gottes, nicht etwa von Jahr zu Jahr, nein das geht nicht so schnell, sondern von Jahrzehnt zu Jahrzehnt dahin gelangt, diese Lehre klarer zu fassen und die Wahrheit jenes apostolischen Wortes mehr und mehr an meinem eigenen Herzen zu erfahren; und ich weiß, wenn diese irdische Hülle gefallen sein wird, werde ich erkennen, dass dies das treueste Bild und das ähnlichste Conterfei ist, das je von meinem natürlichen Herzen gemalt worden. Bitten wir Gott, unser Sündenelend uns zu offenbaren; aber zu sehr drängen dürfen wir ihn nicht, denn er weiß wohl, dass, wenn er uns in der Sündenerkenntnis schneller wachsen ließe als in der Erkenntnis seiner Barmherzigkeit, wir verzweifeln würden.
Aber auch die Sündenvergebung ist überall in der heiligen Schrift als eine vollkommene dargestellt. Wenn nur ein Teil unserer Sünden vergeben wäre, wenn von Tausend oder von einer Million von Sünden (wenn man unsere Sünden zählen könnte) eine einzige unvergeben bliebe, so würde diese Vergebung uns nichts nützen; aber die Sündenvergebung ist eine vollständige. Die Stelle, die wir heute gehört haben, (2 Kor. 5, 21.), ist eine meiner Lieblingsstellen. Jesus Christus hat nicht nur einige Sünden gesühnt: er hat die Sünde gesühnt. Er ist nicht als Sünder betrachtet, er ist zur Sünde selbst gemacht worden; und durch das Geheimnis der Geheimnisse ist der ganze Fluch Gottes auf dieses unschuldige und heilige Haupt gefallen. Auch wir sind nicht nur in ihm gerecht, sondern die Gerechtigkeit selbst geworden, so dass Gott, wenn er uns in Jesu Christo ansieht, uns wie seinen vielgeliebten Sohn selbst ansieht und an uns seine Freude und sein Wohlgefallen hat. Wir, die wir glauben, sind Jesu Christo von Gott als Preis seines Opfers gegeben worden. Gott kann uns eben so wenig sein Wort brechen, als er es Jesu Christo brechen kann, und all seine Herrlichkeit ist also hierin verpfändet, dass dies Geschenk seiner unendlichen Barmherzigkeit wie ein Recht unserer Gerechtigkeit wird, die in Jesu Christo vollkommen ist. Die Ausdrücke selbst, welche die heilige Schrift braucht, um uns zu weisen, was die Sünde vor Gott ist, zeigen uns, wie der Herr unsere Sünden getilgt hat. Er hat sie „hinter sich geworfen“, als ob er fürchtete sie wieder zu sehen; er hat sie in die „Tiefe des Meeres gesenkt“, er hat sie „vertilgt wie eine Wolke“ und „vernichtet wie den Nebel;“2) wir sehen daraus was für Gott ist, die Sünde vergessen. Der Herr wird und dargestellt, als der da trachtet nach solchem Vergessen; doch nein, das ist kein Vergessen, ein vollständiges Sündentilgen ist es.
Eben dieser Gedanke idealer Vollendung ruht in dem, was die Schrift von der Heiligung lehrt. Wir machen uns keinen Begriff von der Höhe der Forderungen, welche die Schrift an uns stellt, noch von dem Grad der Heiligung, zu dem wir gelangen können und müssen. Welche Fülle ruht in dem Wort: „Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch, und euer Geist samt der Seele und Leib müsse behalten werden unsträflich auf die Zukunft unseres Herrn Jesu Christi.3) Und um uns zu beweisen, dass dies nicht ein bloßer Wunsch ist, fügt der Apostel sogleich hinzu: „Getreu ist der, der euch ruft, welcher wird es auch tun.4) Es ist ebenso unmöglich, dass Gott uns diese Gnade verweigere, als der Gedanke undenkbar ist, dass Gott sein Wort brechen kann. Und wie können wir zu dieser Heiligkeit gelangen? Wie sind die heiligen Männer, deren Vorbild uns die Schrift vor Augen stellt, zu dieser Größe gelangt? Nicht durch ihre eigene Erleuchtung, nicht durch ihre natürlichen Gaben, sondern durch ihren Glauben. Seht den heiligen Jakobus! Um uns die Macht des Glaubens und des Gebetes zu zeigen, wählt er den Mann, der vielleicht der wunderbarste ist in der heiligen Geschichte, und zwar in dem wunderbarsten seiner Wunder; er zeigt uns die Kühnheit jenes Elias-Gebetes als eine ganz einfache Sache, und gibt ihn den Kleinsten, den Niedrigsten, zum Beispiel, um uns zu zeigen, was das anhaltende Gebet des Gerechten vermag.
Könnte Jeder von uns von heute an die ganze Tiefe der Sünde, die ganze Fülle der Sündenvergebung, die ganze Macht der Heiligkeit, zu der wir gelangen sollen, in seinem Herzen fühlen, welchen Wandel schüfe das in unserem Leben, welchen heilbringenden Einfluss für die Kirche!
O Gott, der du alles Elend und alle Leiden kennst, welche die Sünde über unsere arme Erde und uns arme Menschen gebracht hat; der du Alles siehst, was in diesem Augenblick gelitten wird, was zu schauen unser Auge nicht würde ertragen können, wir befehlen dir alle diese Leidenden, damit du die Schätze deiner Gnade und deines Trostes über sie ausschüttest. Wir können sie dir nicht alle nennen, aber du kennst sie bei Namen; wir befehlen dir die Opfer des Krieges, so viele trauernde Familien und so viele andere, die in beständiger Unruhe leben …. Wir befehlen dir die Unterdrückten und die, welche um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden. Wir befehlen dir die Sklaven; sieh an diese Tausende, diese Millionen von Sklaven, deren Unterdrücker deinen Namen bekennen, Christi Diener heißen und es nicht sind. Wir befehlen dir die Armen, ach! die Armen! die Kranken, die Kranken, welche arm sind… Wir befehlen dir Alle, die dich kennen, damit du sie aufrecht haltest und deinen Frieden und deinen Trost über sie ausgibst. Und die, welche dich nicht kennen, wir befehlen sie deiner Gnade, damit du dich ihnen offenbarst, denn ihr Ende ist nichts als die Verzweiflung, wenn sie sich nicht finden. Ich, der ich ein wenig leide, ich bekenne Christum und seinen Frieden. Ich danke dir für die Freude, mit der du meine Seele erquickst. Du wirst uns vielleicht befehlen, für kurze Zeit uns zu trennen; aber was ist das? Wir wissen, dass wir durch deine Gnade einst Alle gereinigt sein werden vor deinem Angesicht….