Meier, Ernst Julius - Glaubt an das Licht, dieweil ihr es habt!
Bußtagspredigt am Mittwoch vor dem Totenfest1) über Joh. 12,35 -36
von D. Meier, Oberhofprediger und Vizepräsident des Landeskonsistoriums in Dresden.
Lamm Gottes unschuldig, am Stamme des Kreuzes geschlachtet,
Allzeit erfunden geduldig, wiewohl du wurdest verachtet.
All Sünd hast du getragen, sonst müssten wir verzagen.
Erbarm dich unser, o Jesu! Gib uns deinen Frieden, o Jesu!
Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.
Text: Joh. 12, 35-36:
Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, dieweil ihr das Licht habt, dass euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht. Glaubt an das Licht, dieweil ihr es habt, auf dass ihr des Lichtes Kinder seid.
In Christo Jesu geliebte Gemeinde. „Gedenkt an die vorigen Tage“ - so ruft uns der Apostel zu, so ruft uns auch der heutige Tag zu, der einen bedeutsamen Abschnitt in der Geschichte der evangelischen Bußtagsfeier unsrer und anderer deutschen Landeskirchen bildet. Nicht ohne Wehmut nehmen wir heute von einem alten treuen Freunde Abschied, der sich seit Jahrhunderten an unserm lutherischen Sachsenvolke bewährt, der ihm in allem Wandel der Zeiten und Geschlechter in guten und bösen Tagen nahe gestanden. Wir nehmen Abschied von dem Freitagsbußtag, der uns nicht bloß in langer Gewohnheit lieb geworden, der auch seine tiefen Wurzeln in wohlbegründeter christlicher Sitte hatte, begründet durch das Gedächtnis an den großen Gnadenfreitag, den Todestag des Herrn, dessen Andenken so mächtig zur Buße mahnt und zugleich im Trost der Gnade stärkt. Wie vielen Geschlechtern ist er ein Segen geworden, wie vielen Seelen ein ernster Gewissenswecker, ein Bote des Heils und ein Führer auf dem Wege des Lebens! Darum können wir von dem Freitagsbußtag nicht ohne dankbare Wehmut scheiden, sein Andenken soll uns immer gesegnet und in Ehren bleiben! Aber wir wissen, alle Tage sind des Herrn und der Segen der Bußtagsfeier hängt an keinem Tage, ebenso wenig wie das Andenken des Leidens und Todes Jesu Christi an den Freitag gebunden ist. Allezeit soll das Kreuz Christi uns vor Augen und im Herzen sein im Sinne des Liedeswortes:
In meines Herzens Grunde
Dein Nam und Kreuz allein
Funkelt all' Zeit und Stunde,
Drauf kann ich fröhlich sein. 2)
Der Segen des Bußtags aber hängt von dem Ernst und der Tiefe unsrer Buße, wie von dem Wort und der Gnade des Herrn ab, und die Änderung, die heute ihren Anfang nimmt, da wir das erste Mal mittwochs unsern Bußtag halten, ist von unserm Kirchenregiment nicht gesucht worden, sondern hat sich geschichtlich gefügt. Das Opfer musste gebracht werden, um einen großen und erhebenden Gedanken zu verwirklichen, der seit lange in unserm Volke lebendig ist.
Seit wir zumal durch Gottes wunderbare Fügung ein einiges deutsches Reich unter einem Kaiser haben, hat sich der Wunsch eines gemeinsamen Bußtags immer mächtiger in unserm Volke geregt, und wenn auch nicht das ganze Deutschland an einem Tage fortan Buße tut, so ist es doch schon ein Großes, was erreicht worden ist, dass das evangelische Mittel- und Norddeutschland sich nunmehr gemeinsam an einem Tage vor Gottes heiligem Angesicht sammelt und ihn um seine Gnade anfleht, dass es an einem Tage in demütigem Bewusstsein seiner Gesamtschuld seine Knie beugt, dass an einem Tag durch große weite Strecken unsers geliebten deutschen Vaterlandes, von einem Stamm zum andern, von einer Landeskirche zur andern die Bußglocken mit ihren ernsten feierlichen Tönen dahinläuten und ihren Wiederhall in so viel tausend Herzen evangelischer Glaubensgenossen zugleich suchen. Fürwahr, ein erhebender Gedanke, dessen Erfüllung das Opfer rechtfertigt, das wir gebracht haben, und wir haben es nicht eigenwillig, sondern in Gottes Namen getan, der unser Volk eins gemacht hat unter einem Regiment und der es auch einig haben möchte in der Buße, einig im Glauben, einig in der Furcht des Herrn. Dazu aber eben soll uns die gemeinsame, einheitliche Bußtagsfeier mithelfen. Denn die Hauptsache ist freilich nicht die Einheit des Bußtags, sondern die Einigkeit in der Buße.
Das Gotteswort aber, das uns für diesen ersten Mittwochsbußtag gegeben ist, ein herzbeweglicher Ruf der Heilandsliebe: „Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Glaubt an das Licht, dieweil ihr es habt!“ ist ein Wort von ergreifender Gewalt, doppelt unter dem Eindruck des tiefen Ernstes dieser Zeit. Wir stehen im Abenddunkel des scheidenden Kirchenjahres, das uns in seinen letzten Sonntags-Evangelien und Episteln so eindringlich zuruft: es geht dem Ende, es geht dem Tag des Herrn, es geht dem Gericht entgegen! Und dazu kommt der Totensonntag, der uns erinnert an die Schatten der Todesnacht, die über unser Leben dahinziehen, wie sie über so viele unsrer Brüder in dem verwichenen Kirchenjahr hereingebrochen sind. Die dunkelsten Schatten aber, an die uns der Bußtag und unser Bußtagstext erinnert, sind die tiefen Schatten der Gottentfremdung und des Unglaubens, die auf unserm Volke liegen, von denen auch unser inneres Leben mannigfach umdunkelt ist, angesichts deren der Herr zu uns spricht: „Glaubt an das Licht, dieweil ihr es habt.“
Wohlan denn, unser Thema sei:
Der dringliche Ruf der Heilandsliebe an unser Volk angesichts der Schatten, die auf ihm liegen: Glaubt an das Licht, dieweil ihr es habt!
Der Ruf tut uns allen not, denn
1. Gedenkt: so lange schon ist das Licht bei uns und doch so viel Finsternis um uns und in uns.
2. Gedenkt: wie bald kann das Licht verlöschen, darum nützt die Zeit, ehe die Nacht kommt.
1.
Meine Teuren. „Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, dieweil ihr das Licht habt, dass euch die Finsternis nicht überfalle. Glaubt an das Licht, dieweil ihr es habt, auf dass ihr des Lichtes Kinder seid.“ Diese Mahnung hat der Herr an sein Volk Israel in einer entscheidenden Stunde gerichtet, als er im Begriff stand, seinen Leidens- und seinen Todesweg anzutreten, in einer Zeit, in welcher das zukünftige Geschick seines Volkes sich entscheiden sollte, das abhängig war von der Annahme oder der Verwerfung Christi. Drei Jahre lang war Christus unter ihnen einhergegangen, drei Jahre lang hatte die Sonne der Gnade über ihnen in hellem Strahlenglanz geleuchtet, wie nie in einem Volke, und nun war die Zeit gekommen, wo die Sonne mit blutig rotem Scheine untergehen sollte, wo der große Tag des Heils, der über Israel aufging, sich seinem Ende zuneigte. In solchem Augenblicke redet der Herr, der scheidende Erlöser, noch einmal zu seinem Volke, es ist ein tief-feierlicher Ernst, der auf den Worten ruht. Der Herr klagt nicht, wie er wohl Recht hätte zu tun, über den bitteren Undank, den er von seinem Volke erfahren, er droht nicht und er richtet nicht. In herzergreifendem Tone tiefsten Mitleids und erbarmender Liebe lädt er Israel noch einmal ein, das Heil anzunehmen, und seine Augen dem himmlischen Lichte zu öffnen, ehe die Nacht hereinbreche, wo es in tiefer Finsternis umherirren werde ohne die himmlische Leuchte, ohne Führer und ohne Ziel, nicht wissend, wohin es gehe. Rührender und beweglicher konnte die Liebe des Erlösers zu dem verirrten Volke nicht reden, als in diesen Worten. Noch einmal strahlt die Sonne der Barmherzigkeit über ihnen in ihrem mildesten Glanze, ehe sie in Schatten versank. Das Herz Israels freilich war verhärtet. Kein Strahl der Liebe konnte es mehr erweichen; und kein Stein ist so hart, als das Menschenherz, wenn es im Bann des Unglaubens, unter der Macht der Finsternis steht. Unmittelbar nach unserm Text heißt es: Sie glaubten dennoch nicht!
Die Mahnung aber, die der Herr an Israel richtet, hat jedes christliche Volk, über dem das Licht in Christo aufgegangen ist, Ursache zu beherzigen und sich mit allem Ernste die Frage vorzulegen, die über seine ganze Zukunft, über seinen Beruf, den es von Gott empfangen hat, über seine Stellung unter den Völkern entscheidet, wie es zu Christo und seinem Evangelium, dem himmlischen Lichte steht, dessen eingedenk, dass jedem Volk seine Gnadenzeit gegeben ist und dass diese Zeit ein Ende hat. Wenn aber irgendein christliches Volk, so hat unser deutsches Volk, das Gott mit dem Evangelium von Christo so reich begnadigt hat, alle Ursache, sich die Frage vorzulegen, wie es zu dem Herrn und seiner ewigen Wahrheit im Evangelium steht, und sie ist eine rechte Bußfrage für diesen ersten gemeinsamen Bußtag eines großen Teils des evangelischen Deutschlands. Über keinem christlichen Volke ist das Licht Christi und seines Evangeliums in so hellem Glanze aufgegangen, wie über unserm deutschen Volke, und so lange schon gönnt uns Gottes Gnade diese Zeit des Lichts. Blicket zurück in die Geschichte unsers Volkes von jener Zeit an, wo die ersten Boten des Evangeliums in unser Land kamen, und wo das deutsche Gemüt mit seiner tiefen Innerlichkeit, mit seiner Sehnsucht nach dem Ewigen sich zuerst dem himmlischen Lichte zuwandte, wo Bonifatius das Kreuz auf den deutschen Boden pflanzte, bis zu dem höheren Bonifatius, dem besten Wohltäter unsers Volkes, der es nicht bloß, wie jener, mit Wasser, sondern mit dem Geiste taufte, der es nicht bloß zu Rom, sondern auch zu Christo bekehrte, und nach Zeiten langer Verdunkelung das Licht des reinen und lauteren Evangeliums so helle hat leuchten lassen, wie es seit den Tagen der Apostel nicht geleuchtet hatte, und dann denket an die Geschichte des Evangeliums in unserm Volke von den Tagen der Reformation an bis auf die letzte große Zeit der Erweckung in diesem Jahrhundert, wie sind da immer wieder nach Zeiten der Verdunkelung, in denen unser Volk sich selbst und seinem Gott und dem Evangelium fremd geworden war, Zeiten des Lichts gekommen, wo man's spürte, wie der Herr Christus, das wahrhaftige Licht, unter unserm Volke wandelte, das doch das Beste und Schönste, was es hat, dem Evangelium verdankt, und wo zwischen unserm Volke und dem Evangelium ein Bund geschlossen worden ist, mit vielem Blut besiegelt, der nicht gebrochen werden soll. Und wenn die fruchtbarsten Zeiten eines Volkes nicht die sind, wo es weltliche Triumphe, glänzende Siege feiert, wo es in äußerer Größe und Macht dasteht und auf der Höhe der Kultur bewundert einhergeht, sondern wenn vielmehr jene Zeiten die schönsten und fruchtbarsten sind, wo ein Volk von großen Gedanken, von ewigen Gottesgedanken ergriffen, von dem Schwung einer heiligen Begeisterung getragen wird und der Glaube in ihm mächtig ist, gottlob! unser Volk hat solche Zeiten, solche Sonnenblicke der Geschichte je und je durch Gottes Gnade erleben dürfen.
Vor andern Völkern hat Gott unserm Volke, dem evangelischen Volke von Gottes Gnaden, den edelsten Beruf gegeben, den Beruf, ein Missionar unter den Völkern zu sein, ein Träger der ewigen Wahrheit, die es mit seinem sinnenden Geiste ergriffen, ein Träger evangelischen Geistes, evangelischer Herzensbildung und evangelischer Gesittung, ein Zeuge und Bote von der Herrlichkeit des Evangeliums. An diese größte Gnade unsers Gottes, die er uns mit dem hellen, klaren Lichte seines Evangeliums und mit den großen Lichtzeiten des Glaubens hat widerfahren lassen, erinnert uns mit ernster Gewissensschärfung und zugleich mit der Sprache eindringlicher Mahnung das Wort des Herrn in unserm Texte.
Aber dies Wort wird auch für uns alle zu einer herzbeweglichen Erinnerung an die Lichtzeiten in unserm Leben, wo es sonderlich gilt: „es ist das Licht bei euch, glaubt an das Licht, dieweil ihr es habt.“ Für den einen sind diese Lichtzeiten in Lebensabschnitte gefallen, die auch in anderem Sinne Sonnenzeiten des Lebens sind. Gesegnet, wer also von Gott geführt wird, dass die Lichtzeit der ersten Erweckung zugleich in die Frühlingszeit des Lebens, in die Zeit der Kindheit und Jugend fällt!
Ihr jungen Christen, die ihr von Gott begnadigt seid, unter der Führung, wie unter dem Vorbild frommer christlicher Eltern aufzuwachsen, deren ganze Kindheit und Jugend durchleuchtet und durchwärmt ist von dem Sonnenschein treuester Fürsorge väterlichen Ernstes und mütterlicher Liebe für das Heil eurer Seelen, die ihr von früh an unter dem Ein drucke lauterer Frömmigkeit und Gottesfurcht in einem christlichen Hauskreis gestanden habt, preiset Gott für solche Gnade und haltet solche Eindrücke fest, dass sie eine Macht werden in eurem inneren Leben, eine Macht unter den Versuchungen der Jugend, eine Macht der Bewahrung vor den Befleckungen des Leibes und der Seele, eine Macht in den Anfechtungen des späteren Lebens, und dass der gute Same nicht erstickt werde unter dem Unkraut der Wollüste, des Leichtsinns oder des Zweifels und des Unglaubens. Und ihr, denen in der Zeit der Konfirmation ein treuer, von Christo ergriffener Lehrer und Seelsorger ein Führer zum Heile wird, die ihr aus seinem Munde Worte des Lebens vernehmt, die ihr von seiner Fürbitte getragen werdet, bedenkt, wie euer bester Freund, euer Heiland, in solchen Zeiten euch zuruft: „es ist das Licht bei euch; glaubt an das Licht, dieweil ihr es habt!“ Andern wieder schenkt Gott die unaussprechliche Wohltat, dass nach Zeiten jugendlicher Verirrung oder eines flachen eitlen Weltlebens ein frommes Weib als eine Lichtgestalt, als ein Engel Gottes in ihr Leben tritt, als ein Führer auf dem Weg zu Christo, dass das Glück einer reinen irdischen Liebe ihnen zu einem Gottessegen für ihr inneres Leben wird. Die ihr also gesegnet seid, der Herr ist's, der in solcher Freudenzeit des Lebens, durch solche freundliche Fügung euch zuruft: „das Licht ist bei euch; glaubt an das Licht, dieweil ihr es habt!“
Nicht immer freilich und nicht vorzugsweise sind die lichten Höhenpunkte des Lebens die Höhenpunkte der Gnade, wo uns das himmlische Licht des Evangeliums von Christo ausgeht und das Heil uns näher kommt als sonst. Zumeist sind es die dunklen Zeiten unsers Lebens, die Zeiten der Prüfung, wo Sterne, die am Himmel unsers Lebens mit hellem Glanz geleuchtet hatten, über uns verlöschen und nur der Strahl des ewigen Lichts in unser Dunkel hereinleuchtet, wo wir geliebte Menschen, teure Güter des Lebens verlieren, aber dafür den Einen finden, der mehr ist als alle Güter dieser Erde, wo wir Christum finden und er uns der vertraute Freund unsers Lebens wird. Heil allen, denen so die dunklen Zeiten des Lebens zu Lichtzeiten werden, in denen die Stimme des Herrn zu ihnen redet: „glaubt an das Licht!“
Wer wüsste nicht von solchen Lichtzeiten in seinem Leben, wo ihm Christus und sein Evangelium näher gekommen ist, als sonst, und der Herr um seine Seele dringlicher als je geworben hat! Aber was ist nun die Frucht von all den gesegneten Lichtzeiten, die Gott unserm Volke, die er dir geschenkt hat? - Denken wir an das Leben unsers Volkes im Großen und Ganzen. Jahrhundertelang leuchtet nun schon das helle Licht des Evangeliums über unserm Volke, aber wandelt nun unser Volk, das evangelisch-deutsche Christenvolk, als ein Volk des Lichts, als das Volk der Reformation, als das Volk Luthers, wenn man es prüft nach seiner Erkenntnis, prüft nach seinem sittlichen Stand? Denken wir an den Stand der Erkenntnis! Wohl, welche Höhe gesteigerter Erkenntnis auf allen Gebieten natürlichen Wissens, aber auch welche Selbstgefälligkeit, mit der man sich sonnt im hellen Schein seiner Bildung, während doch die alten Rätsel und die alten Geheimnisse bleiben, die kein Verstand der Verständigen erforscht! Welcher Zwiespalt zwischen der glänzenden Weltbildung und zwischen der tieferen sittlichen Herzens- und Gemütsbildung, und welcher Mangel in den Grundlagen aller christlichen Erkenntnis unten in den Niederungen und oben auf den Höhen des Geistes!
Die wahre Quelle des Lichts verstopft man sich mutwillig, kümmert sich nicht um Gottes Wort, hört's nicht und liest's nicht, oder hört's wohl dann und wann einmal in der Kirche, aber im Hause ist's kalt und finster davon. Und zum Dank für die große Gnade Gottes, dass er uns das Sonnenlicht seiner Wahrheit so lange leuchten lässt, zündet man sich selbst ein Licht an, das Lampenlicht armseliger Menschenweisheit oder das trübe Licht der Schwärmerei, das Irrlicht selbstgemachter Religion, eines Christentums ohne Christus oder einer Moral ohne Religion, die aus löchrigen Brunnen Wasser schöpfen will. Und mit alledem geht's immer tiefer hinein in die Finsternis, denn wer das Lebensbrot verschmäht, das Gottes Gnade uns bietet, der muss sich von den Träbern seichter Menschengedanken nähren, immer tiefer hinein in die heidnische Nacht mitten im christlichen Volke, in die Nacht einer heidnischen Weltanschauung, in der kein Raum ist für den lebendigen Gott, für den Richter über den Sternen, kein Raum für das Jenseits und die Vergeltung, geschweige für den Herrn Christus, für den Heiland und Erlöser, die vielmehr bestrickt ist vom Wahne der Selbsterlösung. Und diese heidnische Weltanschauung, die das Gewissen des Volks abstumpft und verwirrt, die insbesondre von unsern Schöngeistern mit blendendem Schimmer umgeben und als ein süßes Gift genährt wird, beherrscht Tausende unsrer Gebildeten und dringt aus den höheren Schichten vergröbert hinunter ins Volk. Das ist heidnische Nacht. Und verhehlen wir's uns nicht: ihre Schatten dringen immer weiter vor.
Wie's aber mit der Erkenntnis ist, so ist's auch mit dem Wandel. Wo man die Leuchte am Himmel auslöscht, den heiligen lebendigen Gott, den starken und eifrigen Gott, wo man nach keinem Richter im Himmel fragt und an kein Wort Gottes mehr gebunden ist, da kann man ungestraft von seinem Gewissen nach seinen Gelüsten wandeln in Werken der Finsternis und tun, was einem beliebt. Und so tut man's. Die Werke der Finsternis sind offenbar. Wir wollen nicht verkennen, was noch an tüchtigem sittlichen Kapital in unserm Volke ist, aber wenn wir gedenken aller der Vergehen gegen die heiligen Gebote Gottes vom ersten bis zum letzten, jener, die am hellen Tage geschehen, und jener, welche der Schleier der Nacht bedeckt, wir können's nicht leugnen, es ist eine tiefe sittliche Fäulnis, die weithin am Mark unsers Volkes zehrt, in allen Ständen bis hinauf zu den höchsten, zu den führenden Ständen, die durch sittliche Ehrenhaftigkeit und Tüchtigkeit ein Salz und ein Licht des Volks sein sollten, in allen Altersklassen und schon in der frühen Jugend, die vielfach unter unverantwortlicher Zuchtlosigkeit auswächst und oft schon frühzeitig entnervt und verweichlicht ohne sittliche Kraft in den Kampf des Lebens und in den Beruf tritt. Und was das Schlimmste ist: schlimmer als die Vergehungen selbst ist der gewissenlose Leichtsinn, mit dem sie beschönigt werden, also dass man sich der Sünde gar nicht mehr schämt. Der sittliche Nerv eines Volkes ist das öffentliche Gewissen und dieser Nerv ist stumpf geworden. Wie weit ist das allgemeine öffentliche Urteil in den grundlegenden sittlichen Begriffen von Wohlanständigkeit, von Zucht und Ehrbarkeit, von Treue und Redlichkeit über die sittlichen Anschauungen früherer Zeiten hinausgekommen; wie lax ist das sittliche Urteil in diesen Dingen nicht selten selbst bei Bessergesinnten und nun vollends bei der großen weltförmigen Masse!
Und wie steht's bei denen, die sich mit Bewusstsein zu Christo bekennen? Gerade die ernstesten Christen bekennen es am demütigsten und fühlen es am schmerzlichsten, wieviel daran fehlt, dass in allen Stücken sie als Kinder des Lichts wandelten, angetan mit den Waffen des Lichts, wie manche finstere Stelle noch in ihnen ist, in die das Licht Christi noch nicht gedrungen ist, und wie manche harte, ungebrochene Stelle, die von Christo und seiner Liebe noch nicht erweicht, von seinem Licht noch nicht erwärmt ist. Wenn man von allen Bekennern Christi in diesen Tagen das sagen könnte, was Paulus von seinen Philippern sagt: „ihr scheint als Lichter in der Welt mitten unter dem unschlachtigen und verkehrten Geschlecht“, wenn sie alle in einem von Christo und seinem Geist durchleuchteten, von seiner Liebe durchwärmten Wandel bewiesen, dass ihr Christentum nicht in Worten steht, sondern in Kraft, wie ganz anders müsste die Wirkung der Christen auf die Welt sein; auch ohne Worte würden sie viele durch ihren Wandel bekehren. Und wie doppelt schwer ist die Verantwortung aller, die Christum kennen und bekennen, wenn sie, statt ihren Glauben durch ein frommes Leben zu zieren, Anstoß und Ärgernis geben. Darum lasst uns alle mit uns selbst ins Gericht gehen, alles, was um uns und in uns Finsternis ist, mit heiligem Ernst strafen und in Buße und Glauben uns dem Licht zuwenden, so lange es bei uns ist, ehe die Nacht kommt, denn wie bald kann es verlöschen!
2.
„Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, dieweil ihr das Licht habt, dass euch die Finsternis nicht überfalle. Glaubt an das Licht, dieweil ihr es habt.“ Nicht umsonst erinnert der Herr in seinem ergreifenden Mahnwort dicht hintereinander dreimal daran: „noch ist das Licht bei euch, noch habt ihr es.“ Wie bald, nachdem der Herr dies Wort gesprochen, verlöschte das Licht über dem Volke, das die Finsternis mehr liebte, denn das Licht, und das trotz des gewaltigen Zeugnisses der Taten Gottes, die es gesehen, trotz der dringlichen Bitten und Rufe des Heilands, die es gehört, seinen einzigen Retter, den Erlöser, von sich stieß und den Fluch wählte statt des Segens, den Tod statt des Lebens, um dann umherzuirren in der Nacht, und nicht zu wissen, wohin es gehe, umhergestoßen, zerstreut unter den Völkern, ohne Heimat und ohne Vaterland, mit dem Kainszeichen der Verwerfung Christi an der Stirn, unter dem Bann des Gottesgerichts, der auf ihm ruht. Aber was an Israel geschehen, das ist ein Zeichen für alle Zeiten, und es hat sich fortgesetzt mitten in der Christenheit. Denkt an Ephesus, einst in den Tagen der Apostel eine blühende Christengemeinde, stark im Glauben, reich in Liebe, die Freude eines Paulus und jetzt nur eine Ruine vergangener Herrlichkeit unter der Herrschaft des Halbmonds. An ihr hatte sich erfüllt, was der Herr ihr androht mit dem Gerichtswort: „Gedenke, wovon du gefallen bist, und tue Buße; wo nicht, werde ich dir kommen bald und deinen Leuchter wegstoßen von seiner Stätte.“
Und das christliche, das evangelische Deutschland ist vor solchem Gericht nimmer sicher, wenn es fortfährt wie bisher in Undank gegen Gottes Wort und Gnade das Salz der ewigen Wahrheit von sich zu stoßen und im Unglauben dem Herrn den Rücken zu kehren. Je sicherer es sich vor solchem Gerichte wähnt in satter Selbstgerechtigkeit, desto gewisser wird es ihm entgegengehen. „Darum schaue an den Ernst Gottes und sei nicht stolz und sicher,“ ruft uns Gottes Wort zu. Wohl, noch ist das Licht bei uns, noch haben wir das reine und lautere Evangelium und das evangelische Bekenntnis, noch wird Gottes Wort auf den Kanzeln verkündigt, noch haben wir eine christliche Schule und es fehlt nicht an lebendigen Christen und an Erweisung des Glaubens in Werken der Liebe. Aber daneben sehen wir in den breiten Schichten unsers Volks eine erschreckende Nacht des Unglaubens von satter Gleichgültigkeit bis zur bewussten Feindschaft gegen Gottes Wort, von dem man sich nicht richten und nicht strafen lassen will. Und es sind nicht etwa nur finstere Schwarzseher, es sind ernste, einsichtsvolle Christen, denen es unter den Zeichen der Zeit oft ist, als ob der Abend hereindunkle über unserm Volke, als ob das Licht des Evangeliums über ihm im Niedergang wäre. Oder wie, wenn wir sehen müssen, wie die kräftigen Irrtümer, die Gott nach dem Wort der Schrift zum Gericht und zur Sichtung sendet, eine bezaubernde Macht über Tausende in allen Kreisen ausüben, dass sie der Lüge mehr glauben als der Wahrheit, wenn wir sehen müssen, wie die großen Massen den Sonntag hier im Lärm der Arbeit, dort im Genusse begeht, und wie ihnen mit dem Tag des Herrn das Wort und das Haus des Herrn fremd wird, diese Heiligtümer eines christlichen Volkes, wenn wir sehen müssen, wie die Reihen der Bekenner sich lichten und der christlichen Häuser, in denen Gottesfurcht und christliches Gebet, christliche Zucht und Ehrbarkeit heimisch sind, weniger werden statt mehr, und wie jenes Zeichen des Niedergangs, das Gottes Wort stark betont, allerorten sich zeigt: dass die Liebe in vielen erkaltet, diese Seele aller christlichen Gemeinschaft, aller Pietät und Treue im Lande, wenn wir dies alles sehen müssen, alle diese tiefen Schatten, die über dem evangelisch-christlichen Deutschland liegen, dann drängt sich uns unwillkürlich das Gebet auf Herz und Lippen, mit denen unsere Väter so oft in schweren Zeiten den Herrn angerufen haben:
Ach, bleib bei uns, Herr Jesu Christ,
Weil es nun Abend worden ist;
Dein göttlich Wort, das helle Licht,
Lass ja bei uns auslöschen nicht. 3)
Unwillkürlich gedenken wir dabei der Mahnung, die Luther mitten in den Frühlingstagen der Reformation aus treuem Herzen an seine Deutschen richtete, jenes Wortes, an das ihr wohl manchmal schon erinnert worden seid, an das aber nicht oft genug erinnert werden kann, da er sagt: „Liebe Deutschen, kauft, weil der Markt vor der Tür ist, sammelt ein, weil es scheint und gut Wetter ist, braucht Gottes Gnade und Wort, weil es da ist. Denn Gottes Wort und Gnade ist ein fahrender Platzregen, der nicht wieder kommt, wo er einmal gewesen ist. Er ist bei den Juden gewesen, aber hin ist hin, sie haben nun nichts. Paulus brachte ihn nach Griechenland, hin ist hin, nun haben sie den Türken. Rom und der Römer Land hat ihn gehabt, hin ist hin, sie haben nun den Papst. Und ihr Deutschen dürft nicht denken, dass ihr ihn ewig habt; denn der Undank und die Verachtung wird ihn nicht lassen bleiben.“
Wohl, um das Evangelium, um das Wort des Herrn und seine Zukunft braucht uns nicht bange zu sein, das Wort des Herrn bleibt und es geht von Geschlecht zu Geschlecht im Siegeszuge. Aber um uns und um unser christliches Volk muss uns bange sein, ob das Wort des Herrn bei uns bleibt. Ein Recht und einen Anspruch darauf haben wir nicht, es ist völlig freie, unverdiente Gnade Gottes, die uns jeden Augenblick genommen werden kann, wir haben kein Privilegium auf solche Gnade! Aber wehe uns und unserm Volke, wenn sie uns je genommen wird, wenn jene Prophezeiung Luthers an uns in Erfüllung gehen sollte! Das Schicksal unsers Volkes wäre damit besiegelt. Ohne Christum, ohne das Evangelium wäre es bei allem Glanz der Macht und Größe, bei allem Schein der Bildung und Kultur ebenso zum Untergange reif, wie einst Athen, wie einst Rom, trotz ihrer hohen Kultur. Ohne die Leuchte der himmlischen Wahrheit, ohne Trost, ohne Frieden würde es in Nacht und Finsternis versinken, und der Untergang des Evangeliums wäre das Grab aller deutschen Herrlichkeit, aller wahren Größe unsers Volkes; der Quell wäre versiegt, aus dem es einst seine besten Kräfte geschöpft.
Der Gedanke daran erfüllt uns mit Entsetzen und wir mögen ihn nicht fassen. Wir wollen glauben an die Zukunft unsers Volks, so lange wir überhaupt glauben können, aber die Zeichen der Zeit sind ernst und wir wollen ernster als bisher für unser Volk und für unsere Seele beten und vor allem selbst danach ringen, uns loszumachen von der Macht der Sünde, die uns alle drückt. Wir alle sind mit verantwortlich dafür, wenn es mit unserm Volk rückwärtsgeht statt vorwärts, wenn es mit ihm immer mehr in die Finsternis hinein statt zum Lichte geht. Es gilt die Rettung der Seele unsers Volks, es gilt die Rettung unsrer eigenen Seele. Darum lasst uns mit offenem Ohr und Herzen hören, was der Herr uns sagt: „es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch,“ lasst's uns hören mit dem Blick auf das nahe Totenfest, das uns so ernst erinnert: deine Tage sind gezählt, wie bald kann das irdische Licht dir verlöschen, wehe dir dann, wenn auch das himmlische Licht in jener Stunde dir nicht leuchtete und du nicht wüsstest, wohin du gingest, und es mit dir hineinginge in die Nacht voll Grauen, in die Nacht des ewigen Gerichts.
Lasst uns die Mahnung des Herrn nicht aus Herz und Sinn verlieren: „glaubt an das Licht, dieweil ihr es habt, auf dass ihr des Lichtes Kinder seid“, lasst uns mit heiligem Ernst unsere Seligkeit schaffen in Furcht und Zittern, in rechtschaffener Buße und aufrichtigem Glauben mit unserm Haus, mit unsern Kindern dem wahrhaftigen Lichte, Christo, unserm Heiland und Erlöser, uns zuwenden und an ihn und seine Gnade uns halten. Denn gehen wir an der Hand des Herrn, der starken, treuen Hand, mit festem und sicherem Tritt als die Kinder des Lichts, dann mag kommen, was da will, und ob's hinabgehe in Nacht und Tod, wir überwinden weit um deswillen, der uns geliebt hat bis in den Tod, und können mit dem Psalmisten sagen: „Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft!“
Ach, Herr, so bitten wir, du Licht vom Licht aus Gott geboren, rüste und waffne uns und unser Volk mit den Waffen des Lichts und mache uns stark im Geist wider die Macht der Finsternis! Bewahre uns und unser Volk in Gnaden und erbarme dich unser, dass wir nicht in die Gewalt des schlimmsten Feindes fallen, dass wir nicht mit unserm Volk verloren werden. Ja, Herr, verlass uns nicht, ziehe deine Hand nicht von uns ab, bleibe bei uns mit deiner Gnade und mit deinem Wort, bleibe bei uns mit deinem Segen und mit deiner Wahrheit, mit deinem Schutz und mit deiner Treue.
Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünde der Welt, erbarm dich unser, Gib uns deinen Frieden, o Jesu! Amen.