Luthardt, Christoph Ernst - Deine Toten sollen leben.

Luthardt, Christoph Ernst - Deine Toten sollen leben.

Festpredigt beim Jahresfeste der Inneren Mission über Hesekiel 37, 1-10

von Prof. Dr. theol. Luthardt, Geh. Rat und Domherr in Leipzig.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserm Vater und dem Herrn Jesu Christo! Amen.

Hesek. 37, 1-10

Das ist ein ernstes, aber auch verheißungsvolles Wort, in dem Herrn Geliebte, welches der Prophet hier seinem Volke, durch sein Volk auch unserm Volke zuruft: „Wacht auf, ihr Toten, ihr sollt leben!“ Wie wir vorhin gesungen haben: „Wacht auf, ruft uns die Stimme,“ so klingt es in unserm Texte wieder: Wacht auf!

Einst wird dies Wort durch die Welt gehen am jüngsten Tage: Wacht auf vom Tode alle, die ihr schlaft. Jetzt im Laufe der Zeit ergeht die Stimme der Kirche durch die Völker: Wacht auf. Und in ihrem Dienst wendet sich die innere Mission durch ihr Werk an unser Volk mit dem Zuruf: Wacht auf!

Wir begehen heute, in dem Herrn Geliebte, das 25. Jahresfest der inneren Mission in unserm Lande. Wir sind hier vor Gottes Angesicht versammelt, Gott Dank zu sagen, dass er uns vergönnt hat, ihm dienen zu dürfen an unserm Volke, und dass die Arbeit nicht vergeblich gewesen. Und wir bitten ihn, dass er die Arbeit ferner segnen möge ihm zur Ehre und unserm Volke und seiner Kirche zu Nutz.

Arbeit der Liebe hat es stets in der Christenheit gegeben, soweit sie ihres Namens nicht ganz unwert war. Von innerer Mission im besonderen Sinne aber reden wir, seit die ernsten Gefahren unsers ganzen sittlichen Volkslebens uns erschreckend vor die Seele traten, und die sittlichen Abgründe, an denen unser Zeitalter hin wandelt, in grellen Blitzen uns in die Augen leuchteten. Jenen Mächten des Verderbens, die aus der Tiefe emporsteigen, erkannte man, müssen Scharen von rettenden und helfenden Kräften entgegengestellt und zu streitbaren Armeen vereinigt werden: es gilt die Gegenwart und die Zukunft unsers Volkes. Die Älteren unter uns wissen es wohl noch, wie in jenen Tagen der vierziger Jahre und danach vor allem Wicherns Wort wie eines Herolds Stimme mit lautem Schall durch unsere Lande und durch die Gemüter ging und zu diesem Kampf und dieser Arbeit aufrief.

Zwar, meine Lieben, wir wissen es wohl und haben es nie vergessen, dass es die Kirche ist, von Gott dem Herrn selbst gegründet, die er in das Völkergewoge und in das Gemeinschaftsleben auch unsers Volkes hereingestellt hat, als den Leuchtturm für die irrenden Schiffer auf dem Meer, sie richtig zu weisen, als die große Lehrerin der Völker, sie die Bahn des Heils zu führen, als die Verwalterin der Gaben und Kräfte Jesu Christi und seiner Gnaden, die er den Menschen auf Erden erworben, sein Heil ihnen zuzuwenden. Nicht an ihre Stelle etwa will die innere Mission treten. Das wäre ein eitles und törichtes Beginnen. Vielmehr ihre Freude und ihr Stolz ist es, eine Gehilfin der Kirche Gottes zu sein, und, indem sie sich in ihren Dienst stellt, das Werk Gottes in unserm Volke fördern zu helfen.

In unserm Texte schildert der Prophet dies Werk Gottes in dem ergreifenden Bilde von der Belebung der Totengebeine, und durch das Wort des Propheten klingt es hindurch wie der Ruf: Deine Toten sollen leben! Was dort der Prophet seinem Volke zuruft, das wollen wir von ihm auch uns und unserm Volke zurufen lassen, uns zur Arbeit und zur Hoffnung:

Deine Toten sollen leben!

Ein Dreifaches zeigt uns der Prophet:

1. das Feld der Toten,
2. den Lebensodem Gottes,
3. das Werk der Erneuerung.

Gott lasse sein Wort an uns gesegnet sein.

1.

Ein Feld voller Totengebeine wird dem Propheten im Gesicht gezeigt. Es ist sein Volk dort in der Fremde, in der Gefangenschaft Babels, im Elend weilend, das ihm unter diesem Bilde erscheint.

Zwar äußerlich ging es ihm nicht schlecht. Es hatte sich angesiedelt im fremden Lande, es trieb seine Geschäfte, Handel und Wandel voll Regsamkeit, es vermischte sich mit den andern Völkern, nur eine verhältnismäßig geringe Zahl war es, die sich zu seiner Zeit entschloss, in das Land ihrer Väter zurückzukehren. Aber so gut es ihm gehen mochte, es hatte aufgehört das Volk Gottes im heiligen Land zu sein und Jehova zu dienen an den heiligen Altären des Tempels zu Jerusalem. Und nur wenige empfanden dies schmerzlich und weinten, wenn sie an Zion gedachten; die meisten hatten sich an die Welt Babels verloren. Das will der Prophet sagen, wenn er sein Volk im Gesicht als ein Feld voller Totengebeine sieht.

Unser Volk, meine Lieben, ist nicht dem feindlichen Eroberer zur Beute geworden und muss nicht das Brot des Elends essen im fremden Lande. Vielmehr in Frieden wohnt es im Lande seiner Väter, von den hohen Bergen des Südens an bis zum Meer des Nordens, nach seinen Stämmen und Geschlechtern, unter seinen Fürsten und unter gutem Regiment. Reich und mannigfaltig begabt von Gott und ausgestattet mit allerlei Gütern und Gaben des äußeren und inneren Lebens; Gott zu Dank verpflichtet für alles das Viele und Schöne, was es aus seiner Hand empfangen und erfahren im Laufe seiner Geschichte unser geliebtes deutsches Land und Volk, dessen wir uns freuen und stolz darauf sind. Wie sollen wir denn sagen: ein Feld voller Totengebeine?

Meine Lieben, auch in Israel dort am Euphrat war viel Gutes und Schönes und Erfreuliches, es fehlte auch nicht an den Siebentausend, die ihr Knie nicht gebeugt vor den fremden Göttern. Und doch redet der Prophet so, wie er tut. So dürfen auch wir so reden, wie der Prophet sagt, trotz alledem, was wir zu rühmen und zu danken haben. Saget selbst: bei allem Wohlstand des äußeren Lebens, der jetzt größer ist als vordem, bei aller Blüte von Handel und Wandel und Regsamkeit des öffentlichen und des geistigen Lebens geht es nicht wie ein allgemeines Unbehagen durch unser Volk, wie wenn verborgen eine geheime und vielleicht tiefe Krankheit in seinem Leibe säße? Ist unser Geschlecht glücklich? fühlt es sich glücklich? wahrhaft glücklich? Bei aller Jagd nach dem Glück? Gerade deswegen? Wir sollen und wollen keine Schwarzseher sein und alles nur grau in grau malen. Das sei ferne! Es wäre Undank gegen Gott und seine Güte und Freundlichkeit gegen uns, wenn wir des vielen Guten und Schönen vergessen wollten, das wir ihm verdanken. Geht nicht sein Wort in reichen Stimmen durch unser Land? Stehen nicht die Tausende am Werk, die Mauern Zions zu bauen und das Werk der Liebe zu üben? Dieses Fest selbst, das wir feiern und diese Festversammlung hier im Gotteshaus beugt uns das alles nicht auf die Knie mit dem Bekenntnis: wir sind nicht wert aller der Barmherzigkeit und Treue, die du an uns getan hast? Lob, Ehr und Preis sei Gott, dem Vater und dem Sohne und dem der beiden gleich im hohen Himmelsthrone. Dieser Ton der Freude soll mit hellen Posaunen heute in unsrer Mitte erklingen. Aber, meine Lieben, im Licht des Tages erkennt man erst recht die Schatten. Und je heller das Licht, desto tiefer der Schatten. Der Prophet durchwandert im Geist das Feld im Talgrunde, „und siehe, des Gebeines lag sehr viel auf dem Felde, und siehe, sie waren sehr verdorrt“. Wollen wir, meine Lieben, an der Hand des Propheten im Geiste nicht auch durch unser Volk wandern und sehen, welche Bilder das Todes hier vor unsere Seele treten?

Wer sind die Erstorbenen dort, zu Tausenden, ja zu Hunderttausenden gehäuft, die todesmatt am Boden liegen? Das sind die Töchter unsers Volkes, welche der Sünde zur Beute gefallen sind. Eine solche Menge? Ja, eine solche Menge, die nicht zu zählen ist. Ihre Mütter haben auch sie einst mit Schmerzen geboren, auch sie wuchsen als die Freude ihrer Eltern heran, die Rosen erblühten auch auf ihren Wangen, und wohlgefällig ruhte das Auge auf vielen unter ihnen, als sie fromm den ersten Gang zum Sakrament des Altars gingen und vielleicht nur wenige Jahre danach: der Sünde verfallen, der Straße verfallen, dem Elend verfallen, dem Jammer an Leib und Seele! Und wenn auch vielleicht mit Flitter und Gold äußerlich geschmückt die Seele erstorben, die ewige Seele, tot, gemordet! Und ihre Verführer, ihre Mörder? Sie gehen straflos von dannen, als wäre es nichts. Aber wenn die Gerechtigkeit der Menschen machtlos ist, gibt es keine Gerechtigkeit Gottes und kein Gericht, das diese gemordeten Seelen von den Händen ihrer Mörder fordern wird? O, über die Töchter meines Volkes und ihre gestorbenen Seelen! „Meinst du, dass diese Getöteten wieder lebendig werden? Herr, Herr, das weißt du wohl,“ du allein.

Und jene andern dort in dichten Haufen? Wer sind diese? Das sind Söhne unsers Volkes, in denen die fröhliche Kraft der Jugend einst lebte und so manche schöne Hoffnung der Zukunft unsers Volkes. Sie haben das Vaterhaus verlassen und sind in die Fremde gezogen, und sind den Räubern und Mördern in die Hände gefallen, die ihnen den Glauben an Gott und an das zukünftige Gericht raubten und sie in die gemeine Lust des Lebens hineinrissen, den Leib ihnen vergifteten mit dem verderblichen Gifttrank, die Seele aber vergifteten mit verderblichen Reden, sie zuletzt mit Hass und Neid erfüllten und das Feuer der Hölle in ihnen entzündeten. Mein Gott, was ist aus der edlen Jugend unsers Volkes geworden? O, dass wir genugsam beweinen könnten die Erschlagenen unsers Volkes, deren Seelen gemordet sind!

Und wer hat sie gemordet? Die sind es, welche um schnöden Gewinnes willen unsere Jugend verderben mit nichtsnutzigen Büchern und lüsternen Bildern, welche die Sinne reizen und die Seele verunreinigen und das Herz vergiften. Die sind es, welche mit ihren Reden die Leidenschaften entzünden und den Glauben der Kindheit verhöhnen und den Brand der Hölle in den Gemütern entfachen und in den Massen entflammen. Die sind es auch, die von stolzen Lehrstühlen herab Gott und Himmel leugnen und das zukünftige Gericht und die ewige Seele im Menschen auf diese vergängliche Welt allein verweisen. Und nicht minder die sind es, welche das Beispiel geben und lehren, dass Erwerb und der Genuss dieser irdischen vergänglichen Güter das höchste sei, wonach der Mensch zu streben habe, wofür ihm alles andre feil sein dürfe und sie selber käuflich; alle diese sind es, selber erstorben und der Tod der andern. Das ist das Gesicht des Propheten in unsere Zeit übersetzt, das große Totenfeld, wo sie zu Haufen liegen, die Verführten und die Verführer, die Verderbten und die Verderber, die Gemordeten und die Mörder der Seelen alle zumal. Das ist die Wanderung, die uns der Prophet im Geiste über das Feld hinführt, durch unser Volk hindurch. Und wollen wir sagen, das sei übertrieben und sei nicht wahr? Ist es nicht allzu wahr? Und der Herr sprach zu mir: du Menschenkind, meinst du auch, dass diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: „Herr, Herr, das weißt du wohl.“

2.

Ja sie sollen lebendig werden, denn der Odem des lebendigen Gottes soll wehen, das ist das andre. „Und er sprach zu mir: Weissage von diesen Gebeinen und sprich zu ihnen: ihr verdorrten Gebeine, hört des Herrn Wort. So spricht der Herr Herr von diesen Gebeinen: siehe, ich will einen Odem in euch bringen, dass ihr sollt lebendig werden!“

Wir könnten es wohl verstehen, meine Lieben, wenn einer im Anblick dieses Feldes voll Totengebeine sein Haupt vor Trauer verhüllte und sein Angesicht zu Boden senkte, immer an das Wort des Herrn gedenkend: wo ein Aas ist, da sammeln sich die Adler. Hören wir nicht schon im Geist den Flügelschlag der Adler des Gerichts? Aber können wir nicht auch das Wehen des Geistes Gottes hören? Gott wehrt alle Verzweiflung und heißt uns hoffen. Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Ja, aber freilich bei Gott. Unsre Mittel tun's nicht.

Wohl Ärzte die Menge, Ratgeber ohne Zahl, Heilmittel die Fülle; jeder weiß ein andres zu empfehlen. Aber meine Lieben, diese einzelnen kleinen Mittel, die man vorschlägt, die tun's nicht. Ganze Arbeit muss es sein, und aus dem Innersten heraus, wo der verborgene Grund des Lebens der Ewigkeit ist. Die geistreichen Reden etwa, mit denen man uns unterhält wie mit einem blendenden Feuerwerk die blinken und blenden und scheinen und nachher ist es Nacht wie zuvor, die machen es nicht. „Die Künste der Hellenen kannten nicht den Erlöser und sein Licht“ sollen unsere Künste uns die Erlösung bringen und das Licht des neuen Tages des Heils? Wohl sie sind ein Schmuck des Lebens aber vom Tode helfen können sie nicht. Und die Weisheit der Gelehrten, auf die unser Volk der Denker, wie man es rühmt, so gerne stolz ist, die auch nicht. Ich kenne sie wohl zum Teil und weiß sie wohl zu würdigen. Aber vom Tode helfen kann sie uns nicht. Und vollends ihr Abhub, den man auf der Straße verkauft und als neuestes Licht anpreist, vor dem der alte Glaube weichen müsse das am wenigsten. Aus der Welt der Ewigkeit muss uns Hilfe kommen.

Gott allein kann helfen, und er will es. Der am Anfang alles, was da ist, ins Dasein gerufen, der allein kann auch die Toten zum Leben erwecken. Der vordem dem Menschen, den er aus Erde gebildet, den lebendigen Odem einhauchte, der allein kann auch dem Geschlecht unsrer Tage den Odem seines Geistes einhauchen, welcher neues Leben in unserm Volke schafft. Denn, meine Lieben, nicht in dem oder jenem äußeren Ding oder Mangel sitzt die Krankheit und der Tod, sondern im Grund der Seele. Das ganze Haupt ist frank, das ganze Herz ist matt. Es mag sein, es könnte so manches vielleicht besser geordnet und bestellt sein in unserm öffentlichen Leben, die Unterschiede zwischen reich und arm, zwischen Besitz und Mangel, zwischen Genuss und Arbeit sind vielfach zu groß und bitter. Der Alleinstehenden, der Verlassenen, der Notleidenden, der Gefährdeten sind zu viel. Der Klagen wenigstens und der Anklagen ist die Menge. Aber, meine Lieben, ist es je auf Erden anders gewesen? Ist die Welt, seit Sünde und Tod hier ihre Herrschaft ausgeschlagen haben, je ein Paradies gewesen? An Not und Mangel, an Kreuz und Elend hat es nie auf Erden gefehlt und wird es nie fehlen, so lange die Erde steht und sündige und sterbliche Menschen auf ihr wohnen. Und wenn unsere Zeit ihre besonderen Nöte und Übel hat, so haben andre Zeiten über andre klagen müssen. Nein, das ist nicht das Letzte und Entscheidende. Der letzte Grund aller Übel liegt nicht in den äußeren Verhältnissen, sondern im Menschen selbst. Was murren die Leute im Lande also? Ein jeder murre wider seine eigene Sünde. Das Herz ist krank. Hier ist der letzte Sitz des Übels. Hier muss die Heilung einsetzen, in der Erneuerung des inneren Menschen. Gott muss seinen Odem schicken, dass er den inwendigen Menschen erneuere. Die Krankheit ist nicht äußerlicher, sondern innerlicher, sittlicher Art, so muss auch die Heilung und das Heilmittel sittlicher Art sein. Es heilt sie weder Kraut noch Pflaster, sondern dein Wort allein. Und er sprach zu mir: weissage von diesen Gebeinen: höre des Herrn Wort. Das Wort muss es tun. Das war von jeher der Weg der Heilung. Das war auch Luthers Rede stets. Denn aus dem Herzen Gottes ist es entsprungen und trägt die Kräfte des ewigen Lebens selber in sich. In Jesu Christo aber ist es Mensch geworden und in die Zeit hereingetreten, in der Kirche Jesu Christi hat es eine Stätte gewonnen und ist in den Zusammenhang der menschlichen Dinge hereingestellt, von der Kirche wird es verwaltet und werden mit ihr die Heilskräfte des ewigen Lebens in dieses sündige und sterbliche Leben hereingesenkt. Das Wort Gottes ist die rechte Arznei für alle Leiden, ist die Macht des Lebens, das die Toten erweckt und neues Leben in ihnen schafft. Das ist der Beruf der Kirche zu allen Zeiten, auch in unsrer Zeit, und an seine Stelle kann nichts andres, auch keine menschliche Veranstaltung treten.

Aber, meine Lieben, dem Wort der Wahrheit geht das Werk der Liebe zur Seite und mit ihm Hand in Hand und stellt sich ihm zu Dienste. Wie der Herr selber sein Wort der Verkündigung von der ewigen Gnade Gottes in die Bilderschrift seiner helfenden und heilenden Taten übersetzt und damit den Weg zu den Herzen der Menschen gesucht und sich gebahnt hat: so sollen auch wir das Werk der Liebe dem Wort der Kirche zu Dienste stellen und mit ihm die Herzen unsers Volkes suchen, dass wir sie wieder gewinnen für die ewige Liebe, die unser Heil und Leben will, dass wir Gott im Himmel finden und preisen auch in allem Leid der Erde. Das ist der Beruf der Inneren Mission: dem Wort des Geistes Gottes mit dem Werk der Liebe an den Seelen zu dienen und stets zur Seite zu gehen.

Wohl, meine Lieben, es gibt allerlei Werke der menschenfreundlichen Hilfeleistung auf Erden. Es müsste ja der Mensch aufhören Mensch zu sein und das innerste menschliche Gefühl verleugnen, wenn ihn nicht die Not der andern bewegen sollte, dass er den Hungrigen sein Brot bricht und der Elenden und Verlassenen sich annimmt. Zwar die alte Welt hat nicht viel davon gewusst, und nur am Ausgang derselben regte sich eine weichere und mildere Stimmung und machte sich freundliche Hilfeleistung in weiterem Kreise geltend. Es waren die ersten Strahlen der neuen Sonne göttlicher Barmherzigkeit, welche die edleren Keime aus dem harten Boden lockten. Aber eine eigentliche Geschichte der Barmherzigkeit gibt es doch erst, seit das Evangelium in der Welt ist. Und diese Geschichte gehört zu den schönsten Ehrentiteln der christlichen Kirche. Und nicht bloß unter denen, die im Ernst Christen sein wollen, ist diese Übung der Barmherzigkeit zu Hause. Auch unter denen, welche das Evangelium von Christo ablehnen, finden wir die Stimmung des Mitleids und rühmt man sich wohl auch desselben. Es sind die natürlichen Keime, die im Boden menschlicher Natur liegen, welche von der milderen Sonne des Evangeliums auch bei jenen hervorgerufen werden zur Blüte. Aber es ist ein Unterschied, meine Lieben, zwischen Barmherzigkeit und Barmherzigkeit, zwischen dem, was wir Innere Mission nennen, und dem, was wir Humanität nennen. Das ist es, dass wir in allem Werk der Barmherzigkeit und in aller äußeren Hilfe, die wir leisten, die Seele und ihre Rettung suchen. Denn hier sitzt die Krankheit, hier wohnt der Tod, hier muss ein neues Leben werden, ohne welches alle äußere Hilfe eitel und fruchtlos ist. Siehe, ich will einen Odem in euch bringen, dass ihr sollt lebendig werden wie durch das Wort des Lebens, so durch das Werk der Liebe, welches sich dem Wort zu Dienste stellt. So spricht der Herr Herr: Wind, komme herzu aus den vier Winden und blase diese Getöteten an, dass sie wieder lebendig werden. Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte. Da kam Odem in sie und sie wurden wieder lebendig. Der Odem Gottes ist die Macht der Erneuerung.

3.

Betrachten wir nun noch das Werk der Erneuerung. Das ist das dritte. Und ich weissagte, wie mir befohlen war: siehe, da rauschte es und siehe, es regte sich, und die Gebeine kamen wieder zusammen, ein jegliches zu seinem Gebein, und siehe, es wuchsen Adern und Fleisch darauf und er überzog sie mit Haut. So fügte sich alles zusammen und kam wieder in seine Ordnung und der Geist des Lebens erfüllte das Ganze.

Meine Lieben, wir haben es zuerst mit den Einzelnen zu tun, aber nicht bloß mit den Einzelnen. Wir meinen und wollen das Ganze, unser ganzes Volk und den gesellschaftlichen Bestand unsers ganzen Volkes in seinen einzelnen Gliedern, Ständen und Berufskreisen. Das ist es, was wir Innere Mission nennen und mit ihr meinen. Darum schließen wir uns zu gemeinsamer Arbeit zusammen und stehen nicht bloß jeder für sich, sondern vereinigen uns, um eine gemeinschaftliche Wirkung zu üben. Das zwar ist das erste, dass wir die Einzelnen aufwecken. Wach auf, der du schläfst und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten. Aber dann suchen wir ihn in Reih und Glied zu fügen, dass er in Zusammenhang stehe mit dem Ganzen, zu dem er gehört. Unter den Gliedern des Leibes hat jedes sein Werk und Beruf und Dienst. So hat jeder Einzelne seinen besonderen Beruf und dient zum gemeinsamen Besten. Das ist also das erste, dass wir unsere Arbeit als einen Beruf ansehen lernen, in den uns Gott gestellt hat, dass wir darin ihm dienen. Nicht bloß als eine Last, unter der wir seufzen und die wir möglichst bald abzuschütteln suchen und nur darauf bedacht sind, die Stunden der Arbeit möglichst zu kürzen, dass der Arbeit möglichst wenig und des Genießens möglichst viel sei. Das ist ein Grundschaden unsrer Zeit, dass wir vergessen haben, was es um den Beruf sei, und dass wir in Gottes Namen an der Arbeit stehen und in seinem Dienste uns befinden, wir mögen stehen, wo wir sind, hoch oder niedrig, und Arbeit tun, welche wir wollen, große oder kleine, schwere oder leichte. Das ist die Erkenntnis, welche wir vor allem der Reformation verdanken und welche zu predigen Luther nicht müde geworden ist immer und immer zu wiederholen. Warum hat man sie so vergessen und verleugnet, was wir vor allem ihm verdanken? Es würde des Murrens und Klagens viel weniger auf Erden sein, wenn wir ein jeder sein Werk und Beruf also ansähen, geschmückt mit dem Schmuck des Willens und Wortes Gottes. Das ist das erste.

Der Beruf aber stellt uns in die Ordnungen, die Gott geordnet hat und welche das feste Rückgrat unsers ganzen gesellschaftlichen Lebens bilden. Sie liegen klar und einfach vor aller Augen und wir bedürfen nicht der vielen Künste und neuen Verbindungen, um unser Leben in richtigen Stand zu bringen. Haus, Staat und Kirche heißen die alten Grundordnungen, denen wir alle angehören. Und das Haus und die Familie ist die Grundordnung, Vater- und Mutterschaft ist die Brunnenstube, daraus alle andre Ordnungen fließen: Eltern und Kinder, Herrschaft und Gesinde, Lehrherren und Lehrlinge, Obergeordnete und Untergeordnete in allen den verschiedenen Gestalten, welche die Mannigfaltigkeit des Lebens mit sich bringt ist die Weise, wie Gott dieses natürliche Leben geordnet hat und worauf seine Gesundheit beruht. Und dass ich nur von dem einen und ersten rede: Ihr wisst es alle, meine Lieben, das ist ein Grundschaden unsrer Tage, dass das Leben des Hauses so übel zerrüttet und die Gemeinschaft der Familie so vielfach aufgelöst ist. Hier sollen wir einsetzen mit dem Werk der Erneuerung, das Haus wieder bauen, das ganze Haus in seinen Gliederungen und Abstufungen, das Leben der Familie wieder aufrichten in unserm Volke, dass von da aus Kräfte der Gesundung ausgehen in unser Volksleben und sich zusammenfinde was zusammengehört und im Einklang miteinander stehe und arbeite wie die Gebeine, die zusammengehören, sich im Gesichte des Propheten zusammenfanden und fügten und mit Fleisch und Adern und Haut überzogen. Das ist eine der Hauptaufgaben der Inneren Mission, von der wir reden.

Ich sage euch nichts Neues, meine Lieben, es ist ja eine gemeine Rede, die man alle Tage hört: die soziale Frage, was man so nennt, ist die Frage der Fragen der Gegenwart. Sie ist das Rätsel, welches unsrer Zeit aufgegeben ist, welches an dem Weg liegt, den sie wandelt und welchen sie zu gehen hat. Löst sie dasselbe, so wird sie sicher ihres Weges weiter ziehen der Zukunft entgegen; löst sie es nicht, so wird sie, fürchten wir, in den Abgrund stürzen, denn wir wandeln an Abgründen hin. Es sind entscheidungsvolle Zeiten in unserm Volksleben, und entscheidungsvolle kritische Zeiten für das Leben und den Bestand der Kirche Jesu Christi in unserm Volke. Denn diese beiden gehören zusammen, Volk und Kirche, unser Volk und unsere Kirche, durch Gottes Fügung und ernste Geschicke aufeinander angewiesen und miteinander verknüpft. Wir wollen nichts wissen von deutscher Volks- und Reichsherrlichkeit, ohne dass unser Volk ein christliches sei, gesammelt um das Bekenntnis Jesu Christi, des eingebornen Sohnes Gottes, und aufgenommen in die Gemeinschaft seiner Kirche, unsrer Kirche; und wir würden es schwer beklagen und darüber trauern, wenn unsere Kirche aufhören sollte, die Kirche unsers Volkes zu bleiben, im Bund mit unserm Volk und seinem gesamten Leben zu stehen. Gott erhalte uns diesen Bund in Gnaden, dies edle Erbe der Vorzeit! Aber das Erbe ist nicht ohne Arbeit, und man besitzt nur was man stets erwirbt. Wir kennen sie wohl und sehen sie wohl an ihrer Arbeit tagtäglich, die Geister der Verneinung, die einen Keil hineintreiben wollen zwischen Volk und Kirche und beide auseinanderreißen, die das Leben unsers Volkes dem Evangelium entfremden und von seinen ewigen Grundlagen lösen, auf denen es allein gesichert ruht, und es in den Strudel der Vergänglichkeit werfen, der alles verdirbt. Darum meine Lieben, auf zur Arbeit! Setzen wir jener Arbeit der Verführer und Verderber unsers Volkes die rechte Arbeit entgegen, zu der wir als Christen verpflichtet sind, jeder an seinem Ort und an seinem Teil, jeder in seinem Beruf und Stand; vereinigen wir uns zu dieser Arbeit, um durch gemeinsame Arbeit im Dienst unsrer Kirche dem Verderben zu wehren und dem mannigfaltigen Elend zu steuern. Das ist der alte Ruhmestitel der Kirche Jesu Christi, dass sie in die vergängliche Welt Kräfte des Lebens gesenkt hat und, da die alte Welt zu Grabe ging, mit dem Wort vom Leben und mit dem Werk der Liebe mitten unter den Trümmern der alten eine neue Welt geschaffen hat und durch alle Stürme der Zeit sie hindurchgeführt bis auf unsere Tage. Sollte sie nicht auch jetzt imstande sein, die Kräfte der Ewigkeit in die Welt der Gegenwart hineinzutragen und in die Zukunft hinüberzuretten? Das Wort Gottes heißt uns hoffen und nicht verzagen, noch verzweifeln. Und wollen die Stolzen und Satten sich nicht sagen und retten lassen, so gehen wir an die Landstraßen und Zäune und bringen die Lahmen und Krüppel und Blinden herein. Wer weiß es, wo die Zukunft des Reiches Gottes zu suchen ist, ob bei denen, die auf den Höhen des Geistes gehen und im Besitz der Güter sind, oder bei den Geringen und Verlassenen und die in Not und Elend sind, und wären es auch Lästerer des Namens Jesu Christi und Verächter Gottes. Kann Gott auch aus den Steinen dem Abraham Kinder erwecken; soll er nicht auch Lästerer in Bekenner wandeln können? Hoffen wir, meine Lieben! Und arbeiten wir! Wie mit dem Zeugnis des Mundes, so auch mit dem Zeugnis der Liebe. Das ist der Beruf der Inneren Mission. Auch das Werk ist eine Predigt, die lebendig machen kann. „Und er sprach zu mir: Weissage zum Winde und sprich zum Winde: Wind, komm herzu aus den vier Winden und blase diese Getöteten an, dass sie wieder lebendig werden. Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte. Da kam Odem in sie und sie wurden wieder lebendig und richteten sich auf ihre Füße. Und ihrer war ein groß Heer.“ Seien es nun viel oder wenig - das ist Gottes Sache. Unser ist die Arbeit. Arbeiten wir! Und so denn in Gottes Namen fröhlich vorwärts, hinein in die Zukunft auch dieser Arbeit, deren Gedächtnis der letzten 25 Jahre wir heute feiern. Und Gott möge mit uns gehen und sein Segen auf dieser Arbeit ruhen und auf allen, die sich ihr zu Dienst stellen und an diesem Werk stehen jetzt und zukünftig! Amen.

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