Leonhardi, Gustav - Lebendig und doch tot.

Bußtagspredigt am Schluss des Kirchenjahres über Offenb. Joh. 3, 1-6

von Lic. theol. S. Leonhardi, Pfarrer in Zschatz.

Text: Offenbar. Joh. 3, 1-6.

Und dem Engel der Gemeine zu Sardes schreibe: Das sagt, der die Geister Gottes hat, und die sieben Sterne: Ich weiß deine Werke; denn du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot. Sei wacker und stärke das andre, das sterben will; denn ich habe deine Werke nicht völlig erfunden vor Gott. So gedenke nun, wie du empfangen und gehört hast, und halte es, und tue Buße. So du nicht wirst wachen, werde ich über dich kommen, wie ein Dieb, und wirst nicht wissen, welche Stunde ich über dich kommen werde. Du ha auch wenige Namen zu Sardes, die nicht ihre Kleider besudelt haben; und sie werden mit mir wandeln in weißen Kleidern, denn sie sind es wert. Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angelegt werden, und ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buch des Lebens, und ich will seinen Namen bekennen vor meinem Vater, und vor seinen Engeln. Wer Ohren hat der höre, was der Geist den Gemeinen sagte.

In Christo Geliebte! Der Abend des Kirchenjahrs ist herein gebrochen, - am nächsten Sonntag, dem Totenfest, wird es zu Grab getragen. Aber der Tote lebt fort! Er lebt, um für oder wider uns zu zeugen vor Gottes Angesicht; er lebt, um wie alle Tage unsers Lebens sein Urteil zu empfangen vor dem Richterstuhl dessen, der da spricht: Ich weiß deine Werke! Ja, nicht umsonst der Bußtag vor dem Totenfest. Er ist wie eine Predigt am Abend, wie ein Wächterruf vor Mitternacht: Mensch, bedenke deinen Tod, säume nicht, denn eins ist not! Ist doch der gewaltigste Bußprediger der Tod selbst, der als Gottes Bote das erste Gericht über uns vollzieht, ehe das Jüngste Gericht unser Los für die Ewigkeit entscheidet und vollendet! O, wir können heute schon den Richterspruch hören, der im Tod über uns und alle ergeht, die noch nicht sind aus dem Tode zum Leben hindurchgedrungen, die den Namen Christi tragen, aber den Geist und die Kraft Christi verleugnen sie. Ja, solches Scheinchristentum ohne innere Wahrheit, ohne innere Kraft und Leben: das ist ein Tod, der seine dunklen Schatten hineinwirft in unser Leben, nein, auch in unser Sterben, und uns gebunden hält mit Banden der Finsternis bis auf den Tag des Gerichts. Darum, was der Herr in der Offenbarung der Gemeinde zu Sardes schreibt: „Ich weiß deine Werke: du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot,“ dieses erschütternde Wort: lebendig sein und doch geistlich tot, es ist wie ein Richterspruch, der uns allen wie mit Donnerschlägen durch die Seele zittert, solange wir nicht mit dem Apostel sprechen können: Wir wissen, dass wir aus dem Tod zum Leben gekommen sind! Lebendig sein und doch tot! das sei das ernste Thema unsrer Bußtagspredigt vor dem Totenfeste:

Lebendig sein und doch tot!

In diesen Worten des Herrn erkennen wir

1. einen Bußtagsspiegel für alle, die nicht in Christo sind;
2. eine Bußtagsmahnung, zu stärken, was in uns und um uns sterben will!

1.

„Dem Engel der Gemeine zu Sardes schreibe: Das sagt, der die Geister Gottes hat und die sieben Sterne: Ich weiß deine Werke; denn du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot.“ Ja, unter den sieben Gemeinden, welche wie Morgensterne im ersten Jahrhundert der Kirche leuchteten, war auch Sardes, die alte Königsstadt Kleinasiens. Seit Christus dort als König der Gnade und Wahrheit eingezogen, konnte man sie um ihres Glaubens willen selig preisen. Und doch war ihr Glaube nicht lebendig, ihre Werke nicht völlig erfunden vor Gott; das Urteil lautete: „Du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot!“ „So du nicht wirst wachen, werde ich über dich kommen, wie ein Dieb“ ein Urteil, das, wie wir wissen, gar bald an der Gemeinde zu Sardes in Erfüllung ging, denn heute scheint der Halbmond über Sardes Trümmern!

Und nun, in dem Herrn Geliebte, schaut unser deutsches Christenvolk. Wir können es nicht leugnen: Sein Name, sein Ruhm ist mit seiner politischen Größe auch groß geworden unter den Völkern der Erde! Man preist unser Volk als das Volk der Denker und der Dichter, und in der Tat, unsere Väter, sie haben die Ideale alles Schönen, Guten, Edlen hoch gehalten, mit frischem Geist und lebendigem Gemütsleben alles erfasst. Man preist auch unser Volk als das Volk der echten Treue: sie ist ein Charakterzug, der seit alters her unserm Volke innewohnt. Man rühmt es insbesondere als das Volk des evangelischen Christentums, als das Volk der Reformation, und tiefer als anderswo hat das Evangelium seine Wurzel im Gemütsleben unsers deutschen Volkes geschlagen!

Und doch fragen wir, ob solcher Ruhm von unserm Volk noch in Wahrheit gilt, ob es in Wahrheit noch von sich sagen kann, dass es ein Volk Gottes ist, im Glauben und in Treue zu Jesu Christo, seinem Heiland! O, könnten wir den Abfall verschweigen, der von den Kreisen der sogenannten Gebildeten und Gelehrten bis in die untersten Schichten unsers Volkes geht, den Abfall von dem lebendigen Gott und seiner Gnade in Christo, da alles Leben unsers Volkes nur ein Sterben ist! Die vom eigenen Weisheitsdünkel berauschte, siegestrunkene Wissenschaft, die zur Magd der Sinnlichkeit herabgesunkene Kunst, der Tanz um das Götzenbild des Mammons und der schrecklichsten Fleisches- und Sinnenlust, das wüste Geschrei und Begehren der großen Massen nach einer Freiheit und Gleichheit ohne Gott, das verwüstete Familienleben, die zerrütteten Chen, die glaubenslosen Häuser, die entartete Jugend, die leeren Kirchen, die verlassenen und zerbrochenen Altäre, die entweihten Sonn- und Feiertage, - alles müsste uns daran erinnern, was unser Volk war und nun ist, und uns zu einem Bußtagsspiegel werden. Wo bist du, deutsches Christenvolk? Du Volk der hohen edlen Ideale, du Volk des frommen innigen Gemüts, der festen und wahren Glaubenstreue? Wie erkennt man dich kaum mehr, und deine Geisteszüge sind verwischt.

Wie bist du so gefallen, du schöner Morgenstern: Du hast den Namen, dass du lebst und bist tot!

Ja, lebendig und doch tot: welch ein Bußtagsspiegel für unser Volk, das sich seiner Weisheit, seiner Tüchtigkeit, seines Reichtums rühmt und dabei doch dem Tode der Selbstsucht, des Unglaubens, der Auflösung aller sittlichen und sozialen Lebensmächte verfallen ist, ein Volk ohne lebendiges Christentum ist eine Leiche mit geschmücktem Angesicht, eine Leiche, der das innere Leben, das Leben aus Gott fehlt!

Und des Volkes Seele wiederum, das ist die Gesamtheit der einzelnen Seelen: hier die Leichtfertigen und Gewissenlosen, die sich selbst verkauft haben um schnöden Lohn der Sünde; dort die Selbstgerechten, die da rufen: es ist Friede und hat keine Gefahr - und schlafen doch den Traum der Selbstgerechtigkeit am Abgrund des Verderbens; hier die Scheinchristen, von außen glänzend im Schein der Gesetzlichkeit, aber innen voll Lügen und Ungerechtigkeit, voll Moder und Totengebeine, dort die Halbchristen, die heute Gott dienen und morgen dem Mammon, heute Glauben haben und morgen zweifeln und Gottes Wort vergessen, verlassen, verachten! Wie? Muss nicht über ihnen allen das Urteil lauten: „Ich weiß deine Werke: du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot!“?

O! die Hand aufs Herz! Ach, prüfen wir uns in dem Bußtagsspiegel des Worts: Lebendig sein und doch tot! Ist unser Glaube mehr als totes Wissen, als fromme Rührung und Empfindung hier im Gotteshause, als die Macht der christlichen Erziehung und Gewohnheit? Ist es das Licht Christi, das dir leuchtet, die Flamme der Liebe und des Dankes, die in deinem Herzen glüht, der Geist der Wahrheit, der aus dir redet, in dir betet, seine Kraft, die dich still und zufrieden glauben, lieben und hoffen lehrt? Ist es das Leben, das du verborgen mit Christo in Gott und in der Liebe zu den Brüdern lebst? Dass du mit Paulus frohlocken kannst: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ und mit Johannes bekennen darfst, dass wir aus dem Tode ins Leben gekommen sind, denn wir lieben die Brüder? O! solange dieser Glaube nicht in uns lebt, solange ist er eitel, vergeblich, unfruchtbar und tot, solange sind unsere Werke noch nicht völlig erfunden vor Gott, solange spricht eine Stimme über uns das Urteil: Ich weiß deine Werke: du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot!

Ja: lebendig sein und doch tot, welch ein Bußtagsspiegel für uns alle, der auch uns sagt, dass wir noch nicht völlig in Christo sind!

2.

Darum ist's aber auch die Bußtagsmahnung, die, wie der Gemeinde zu Sardes, so heute noch allen Christengemeinden unsers Volkes gilt: Sei wacker und stärke, was sterben will!

Ach, es ist so viel unter uns, was sterben will! Es gleicht unser Volk einem großen Lazarett, in dem viele Tausende an der Schwindsucht ihres inneren geistlichen Lebens dem Tod entgegensiechen: der innerste Seelengrund bei so vielen was ist er anders, als ein langsames Sterbelager!

Da ist einer, der hatte bis dahin immer einen wohlwollenden, zur Hilfe bereiten, versöhnlichen Sinn im Herzen; aber er hat Undank geerntet, wo er Liebe säte! O, da geht ein kalter Strom über ihn, der die Glut seines Herzens zu löschen droht! Herr hilf, die Liebe will sterben in ihm! - Oder da hat ein anderer seinen Kindesglauben sich treu bewahrt, aber der Spott der Welt, der Zweifel der Anfechtung, die Wogen der Trübsal drohen ihn zu verschütten und zu begraben; er betet und seine Gebete kommen leer zurück, er ruft um Hilfe und findet keine Erhörung, und der Versucher spricht: „Was glaubst du noch? Was hoffst du noch? Was betest du noch? Segne Gott und stirb!“ Herr hilf, der Glaube will sterben in ihm! Oder da ist noch ein anderer, der hat sich stets bewährt im Handel und Wandel als ein Christ in rechtschaffener Gewissenhaftigkeit, aber endlich sieht er, dass er zurückbleibt, andre verbessern ihre Lage, die krummen Wege anderer führen zum Ziel, die schlichten und geraden nicht! Da droht er mit seiner bisherigen Handlungsweise zu brechen. Herr hilf, die Treue will sterben in ihm!

O, die Zeiten sind böse und die Macht der Versuchung ist groß. Ich sehe Kinder aufwachsen, von frühster Jugend an im Leichtsinn, in der Lüge, im Betrug, im Dienste der Sünde erzogen! Das Laster schleicht ihnen frühe und unverhüllt nach, und leider Gottes sie selbst fühlen es nicht wachsen, sinken dahin, eine Beute des Versuchers! Ich sehe Jünglinge und Jungfrauen zerfallen mit Gott und der Welt, losgelassen von den Banden frommer häuslicher Zucht, - und nach kurzem Kampfe welk und matt gehen sie in Zuchtlosigkeit und Verbrechen unter, den Weg zum Verderben. Ich sehe ganze Massen unsers Volks hineingerissen in den Strudel des Abfalls von dem lebendigen Gott, sich und andre belügend durch die Irrlehren einer Verführung, die ihnen auf den Trümmern aller göttlichen und menschlichen Ordnung des Staates, der Kirche, des Hauses, einen Himmel verspricht, der doch nur in Jammer und Elend, Blut und Tränen endet!

Ach, in solche Zeit sollte mächtig das ernste, mahnende Wort aus Jesu Mund hereinklingen: „So tue nun Buße; halte, was du empfangen und gehört hast!“ „Sei wacker und stärke, was sterben will!“ Ja, es ist wahrlich Zeit, dass das Gericht der Buße anhebe am Hause Gottes, dass ein jeder von uns an seine Brust schlage und gedenke, wovon er gefallen ist! Liebe Christen, dass ich es hineinrufen könnte in die Herzen unsrer wachenden Christen: Halte, was du empfangen und gehört hast! Halte, was du hast, dass dir niemand deine Krone raube! Dass ich es schreiben könnte über die Türen unsrer Häuser, unsrer Schulen und Kirchen: Sei wacker und stärke, was sterben will!

Hier in Christo und in seiner Gnade ist allein die Kraft, die uns aufrecht hält, wenn Todesfluten des Unglaubens und des Verderbens hereinbrechen über unser Volk! So stärkt eure Seelen in Kraft unsers Heilands und mit seinem Worte des Lebens zum Kampfe der letzten Zeiten, welcher den Gläubigen in Christo bestimmt ist:

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