Lang, Heinrich - 2. Die Buße.
Ephes. 5, 14:
Wache auf, der du schlafest und stehe auf von den Todten, so wird dich Christus erleuchten.
Das Waizenkorn muß in die Erde gelegt werden und ersterben, wenn es lebendig werden und Früchte bringen soll, und ein Weib muß viel Schmerzen leiden und große Traurigkeit haben, wenn der Mensch zur Welt geboren werden soll, und ebenso, meine christlichen Freunde, geht es nicht ab ohne gewaltige Geburtsschmerzen, wenn der neue geistige Mensch in uns geboren werden und erstarken soll. Es setzt gewaltige, Anstrengungen ab, ehe der Stein von dem alten Grade der Sünde weggewälzt ist, es gilt Kämpfe auf Leben und Tod, bis der alte natürliche Mensch ertödtet ist; aber es gibt keinen anderen Weg zum Licht, als durch Nacht, zur Freiheit, als durch Kampf und die Gottheit hat nach dem Ausspruch eines alten Heiden den Schweiß vor die Thüre der Tugend gelegt. Laß dich's darum nicht wundern, wenn Jesus, dessen Joch ja so sanft und dessen Last so leicht ist, sein öffentliches Auftreten ankündigt mit dem Ruf: „Thut Buße, denn das Reich der Himmel ist genahet,“ ärgere dich nicht an seinem Kreuz und seiner Dornenkrone und an seinem Ausspruch: „Wer mir nachfolgen will, der verläugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich,“ laß dich nicht abschrecken durch das härene Gewand, in welchem ein Johannes dem Herrn den Weg bereitet; sei getrost: für die Ueberwinder ist eine Palme bereit, die schon unter dem Schweiß des Kampfes zu ihren Häupten rauscht. Aus den Todeskrämpfen des alten Menschen erhebst du dich zu geistiger Erneuung, und wenn der Mensch einmal zur Welt geboren ist, so hat sich die Traurigkeit in Freude verwandelt.
Aber auf welchem Wege gelangt ein Mensch durch die Geburtsschmerzen des alten zu der Freude des neuen Lebens? Wie wird der Mensch wiedergeboren? Wie wird der Sünder bekehrt?
Auf diese Frage geben unsere Textesworte die Antwort:
- Der Schlafende wird erweckt.
- Der Erwachte wird erleuchtet.
l.
„Wache auf, der du schläfst und stehe auf von den Todten!“ so wird der Sünder angeredet. Also schläft der Sünder, also ist er todt, der Sünder! Er schläft; die Sonne der Gerechtigkeit, die in Jesus Christus aufgegangen ist, gießt ihre Strahlen wärmend und erleuchtend in die Herzen der Menschen, aber der Sünder schläft. Dumpf und gedankenlos geht er hin unter den dunkeln Freuden und den trüben Schmerzen des augenblicklichen, vergänglichen Lebens. Der Ernst eines Menschenlebens, die Zeichen und Mahnrufe der Zeit, der gewaltige Hammer der Ereignisse, die Flügelschläge eines neuen Geistes, die lauten Rufe der Helden im Streit, die für das Reich Gottes auf Erden kämpfen und am Tempel der Menschheit bauen, - Alles geht vorüber am Ohre des Sünders; denn er schläft. Die Sorgen und die Wollust des Lebens und der Betrug des Reichthums haben seinen Geist in Schlummer gewiegt; kein Donner des Gesetzes, kein Schrecken des Gewissens weckt ihn, - er ist todt in Sünden und Uebertretungen. Er ist todt; zwar weil er Kraft hat zu athmen, zu essen, zu gehen, zu stehen, zu kaufen und zu handthieren, so meint er, er lebe; aber er hat keine Kraft zu wirken, keinen Muth, aufzutreten unter Menschenfreunden, das Gemeinwohl zu fördern, für Wahrheit und Recht zu arbeiten, keine Fähigkeit, die Sünde zu bekämpfen, das Reich Gottes zu fördern in sich und außer sich, - denn er ist todt. „Wache auf, der du schläfest und stehe auf von den Todten!“ Aber wie mag das geschehen? Mögen die Todten auch auferstehen? Kann ein Mohr auch seine Haut wandeln oder ein Pardel seine Flecken? Kann man auch Trauben lesen von den Dornen und Feigen von den Disteln? Vermag ein steinernes Herz in ein fleischernes verwandelt zu werden? Bei Menschen scheint das unmöglich; aber bei Gott sind alle Dinge möglich. Ja derselbe Odem, der über die Todtengefilde der im Winterschlafe erstarrten Natur hinweht und ein tausendfaches Leben hervorruft, der weht auch belebend durch die Todtengefilde der Menschheit, daß die Todtengebeine sich bewegen und die Todten auferstehen zu neuem Leben; dieselbe göttliche Kraft, welche in dem vorher kalten und leblosen Samenkorn schafft und gährt, daß es Wurzeln nach unten schlägt und freudig nach oben zum Lichte dringt, durchströmt auch das kalte Menschenherz und vermag es aus einem steinernen in ein fleischernes zu verwandeln. Wenn einmal die Stunde erschienen ist, die Gott seiner Allmacht vorbehalten hat, da tritt erschreckt und bestürzt Alles zurück, was den Leichnam im Grabe gewaltsam zurückhalten wollte, der Stein fällt weg und der neue Mensch, geschaffen nach dem Ebenbilde Gottes in Gerechtigkeit und Heiligkeit, steht auf. Da wird dann ein schnaubender Saulus zu einem betenden Paulus, den die Liebe Christi dränget; die Donnerskinder Johannes und Jakobus werden stille Lammesnaturen, die ihren Nacken ruhig dem Beile darbieten und nur in der Sanftmuth Christi athmen; ein wankelmüthiger Petrus, den eine Magd zur Verläugnung Christi brachte, wird ein Held im Streit, der fröhlich von des Rathes Angesicht geht, weil er gewürdiget wurde, um Jesu willen Schmach zu leiden, und ein zagender Mönch, der lange unter dem Stabe Mosis geseufzt hat, wird ein Held des Glaubens, der die Säulen des Papstthums erschüttert.
O glückliches Menschenherz, dem zur rechten Zeit der geheimnißvoll belebende Ruf Gottes kommt: Stehe auf und lebe! Glückliche Seele, die aus der Nacht ihrer Sünden erwacht ist, in welche auf die Weckstimme des Geistes neues Lieben und neues Hoffen eingezogen ist!
Aber, meine christlichen Freunde, so geheimnißvoll das Walten des göttlichen Geistes, so wunderbar die Art und Weise ist, wie ein schlummerndes Menschenherz erweckt und plötzlich mit einem ungeahnten Drange erfüllt wird, so wenig wir Ort und Stunde bestimmen und dem göttlichen Geiste vorschreiben, können, - dennoch können wir die Wege ergründen und beobachten, auf welchen der göttliche Geist zu einem Herzen kommt. Wir sehen die Liebesseile, die Gott in die Welt ausgeworfen, hat, um Alle in seine Gemeinschaft zu ziehen; es ist nicht das willkürliche Thun eines Gottes, der den Einen weckt und erwählt, den Andern fortschlafen läßt und verwirft; Gott ist vielmehr nicht ferne von einem Jeglichen unter uns: in ihm leben, weben und sind wir Alle, und das göttliche Licht umleuchtet einen Jeden, der an's Licht der Welt geboren wird. Schau nur um dich, wie es seine Strahlen schon von frühe auf in deine kindliche Seele geworfen hat, und in deinem späteren Leben - wie viel Anlässe und Gelegenheiten für dich, erweckt und erleuchtet zu werden! Da ist vor Allem in dir die sittliche Anlage, die unverwüstliche Richtung auf das Gute, der inwendige Mensch, der, wenn du seine Rechte verletzest, in der Form des Gewissens zu dir redet. Du kannst diesen inwendigen Menschen zurückdrängen, seine Ansprüche zurückweisen, seine Stimme übertäuben, aber ausreißen aus deinem Herzen kannst du ihn nicht, und oft, wenn diese sittliche Kraft in dir fast nur noch wie ein Fünklein glimmt, das du nur noch auf einen Winkel deines Innern zurückgedrängt hattest, - plötzlich bricht der Funke hervor, entflammt sich zu einem Feuer, das erst den Altar in Besitz nimmt und dann, alles Unheilige zu verzehren, um sich greift. In diesem Fünklein liegt die Möglichkeit der Bekehrung, der allmähligen oder plötzlichen Umwandlung eines Sünders. Und um diesen inwendigen Menschen zu stärken, welch ein Netz von Mitteln und Anstalten, die unser Leben umgeben! Das Wort Gottes in der heiligen Schrift, in jedem ihrer Kernsprüche ein Ruf an das Sünderherz: wache auf! ein Feuer, das die Eisesrinden zerschmelzen macht, ein Hammer, der Felsen zerschmeißt! (Jerem. 23, 29.) Das vielfach verschlungene Gewebe unserer Gottesdienste, die sich wie ein Netz um uns legen und an unsern Herzen arbeiten; die heiligen Gesänge, die mit überirdischer Gewalt die Herzen emporheben aus dem Staube; das Wort der Prediger, die mit Bitten, Flehen, Warnen an öffentlicher Stätte rufen: Laßt euch versöhnen mit Gott! der feierliche Klang der Todtenglocke: Mensch, denk' an das Ende!
Das heilige Abendmahl, in welchem der Anfänger und Vollender unseres Glaubens sich uns darstellt mit dem todesbleichen Angesicht und dem blutigen Haupte, und uns erinnert an sein ganzes Liebesleben, damit das kalte Herz entbrenne - siehe da, lauter Stimmen, die bald mit dem Donner des Gerichts, bald mit dem Säuseln der Liebe dem Sünder ins Ohr rufen: Wache auf, der du schläfst und stehe auf von den Todten! Ueberhaupt, welche Kräfte des sittlichen Lebens strömen einem Jeden unter uns täglich zu aus der Verbindung mit unseren Mitmenschen in Familie, Gemeinde und Staat! Besonders aber Ein Mittel ist es, welches gar häufig dem göttlichen Geiste als Brücke dient, auf der er zum einzelnen Menschen gelangt, um ihn aus dem Schlummer zu wecken: das sind Leiden und Noth, Hemmungen des inneren und äußeren Lebens. Wenn der Fortgang deiner Geschäfte plötzlich gehindert, wenn das rollende Rad deiner Entwürfe und Pläne zum Stehen gebracht wird, wenn eine Krankheit dich auf das einsame Lager wirft, wenn der Tumult des Lebens, an dessen Strom du bisher selbstlos hingegeben warest, plötzlich schweigt: da wirst du gewaltsam aus dem Schlummer gerüttelt, das Auge, das sich an die Außenwelt verloren hatte, muß sich einwärts kehren, der Geist, der in den Außendingen sich vergessen hatte, muß in sich gehen.
„Siehe, das Alles thut Gott zwei oder drei Mal mit einem Jeglichen, daß er seine Seele herumhole aus dem Verderben und erleuchte ihn mit dem Licht der Lebendigen.“ (Hiob 33, 29 f.); das sind die oft unscheinbaren Fäden, die Gott in das Leben des einzelnen Menschen hineinverwoben hat, um daraus ein Seil zu knüpfen, an welchem der Mensch zum Genuß des Himmelreichs gelangt.
Aber in Beziehung auf die Art und Weise, wie der Mensch sich verhält gegen diesen Zug Gottes und den Ruf des Geistes, ist ein großer Unterschied zwischen der Natur und dem Menschen. In der Natur schafft Gott mit Nothwendigkeit, in der Menschenwelt unter der Form der Freiheit; wenn der warme Odem Gottes wieder durch die Natur weht, da muß Alles erwachen zu neuem Leben; aber der Mensch kann gegen den Stachel des Treibers ausschlagen; er kann gegen die Weckrufe des Geistes sein Herz verschließen und fortträumen in seinem Todesschlummer. Da „verstecken denn die Einen ihre Herzen, wenn sie seine Stimme hören,“ verachten die Einladung „und gehen wieder hin, Einer auf seinen Acker, der Andere zu seiner Handthierung;“ darum ruft Jesus im Tone der verschmähten Liebe seinem verstockten Volke zu: „Wie oft habe ich wollen deine Kinder versammeln, wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt.“ Andere, wenn der Geist ihnen sein gewaltiges: Heute! zuruft (Hebr. 3, 7.13), antworten: Heute noch nicht, aber morgen vielleicht oder übermorgen. Das ist der Felix, der den Apostel Paulus, als dieser von der Gerechtigkeit und von der Keuschheit und von dem zukünftigen Gerichte redete, mit der Antwort entläßt: „Gehe hin auf diesmal, wenn ich gelegene Zeit habe, will ich dich herrufen lassen,“ das ist der Agrippas, der sagt: „Es fehlt nicht viel, du überredest mich, daß ich ein Christ würde.“
Du aber, mein lieber Mitchrist, halte still dem Zuge des Geistes und merke auf seinen Ruf; wache auf, der du schläfest und stehe auf von den Todten, so
II.
wird dich Christus erleuchten.
Ist einmal der Sünder erwacht aus dem Schlafe des natürlichen Lebens, ist er durch die von allen Seiten auf ihn eindringenden Weckrufe auf sich selbst aufmerksam geworden, so wird er mit der Fackel der Lebensworte Jesu Christi in den dunkeln Schacht seines Innern, in den tiefsten Kern seines Wesens hinabsteigen, mit welchem er in der Tiefe der Gottheit wurzelt, „er wird in sich schlagen.“ Da wird es wie Schuppen von seinen Augen fallen. So sieht es also in meinem Innern aus? und mit diesem Herzen wagte ich es, sorglos und sicher Tage, Monate, Jahre dahinzuleben, als stünde mit mir Alles in Richtigkeit? hielt mich für gerecht und gut, weil ich einige Tugenden in mir anpflanzte, die sich aus meiner Natur fast von selbst ergaben und mit Leichtigkeit entwickeln ließen, weil ich aus Klugheit und Berechnung die üppigsten Schößlinge abschnitt und die wildesten Triebe und Leidenschaften im Zaume hielt; war zufrieden mit mir, weil andere Menschen mich als einen ordentlichen und gesitteten Bürger ansahen und nur Gutes von mir wußten und sagten, weil ich die Kirchengebräuche mitmachte, den Gottesdienst besuchte, dasjenige glaubte, was mir von Jugend auf in der Kirche gelehrt worden ist. So ließ ich Jahre verfließen, ohne auch nur einmal recht in das Innerste meines Herzens einzudringen; Feste und Bußtage kamen und gingen, Entschlüsse wurden gefaßt, dann und wann etwas Gutes ausgeführt, aber nichts Bleibendes, nichts Standhaftes, keine festen und sicheren Tritte auf dem Wege des Guten; immer der alte unfreiwillige Gehorsam gegen Gottes Gebote, immer der alte knechtische Geist der Furcht, immer das alte, liebe, natürliche Ich mit seiner sinnlichen Bequemlichkeit, seiner Selbstsucht, angefüllt von der Eitelkeit und dem Hochmuth des Lebens, aber nicht jener kindliche Geist, mit dem ich, dankbar für jede Gabe aus Gottes Hand, freudig ergeben im Leiden sprechen mochte: Abba, lieber Vater; immer das alte Seufzen unter dem Stabe Mosis, aber keine wahre Freudigkeit des geistigen Lebens, immer nicht jener Friede und jene Freude im heiligen Geist; also, wenn es hoch kam, ein fortwährendes Flicken neuer Lappen auf das alte Tuch, aber keine wirkliche Umwandlung, keine entschiedene Richtung des Willens auf das erkannte Gute. Weg denn mit allen Täuschungen und Blendwerken, mit denen das selbstgerechte Herz sich in süßen Schlummer einzulullen pflegt; gerade sei es herausgesagt: Ich bin der blinde Pharisäer gewesen, der Mücken seihet und Kameele verschluckt, der die Schüsseln auswendig rein hält, während sie inwendig voll Unrath sind; mein Herz ist das übertünchte Grab gewesen, äußerlich geschmückt und geziert, daß man wähnte, der üppigste Frühling habe da seine Lebensblüthen entfaltet, aber, genauer betrachtet, voll Moderduft und Todtenbeine. Mir also, mir gilt in vollstem Maße das Wehe, das Christus über die Pharisäer ausgerufen hat.
Das ungefähr wird die Sprache der Gedanken sein, die sich in dem Herzen des Sünders untereinander verklagen, wenn er anfängt, erleuchtet zu werden und in sich zu gehen, und wenn er so sein bisheriges Leben überschaut. Da wird ihn ein Gefühl übernehmen ähnlich demjenigen des verlorenen Sohnes, als er, fern vom Vaterhause, draußen saß auf öder Haide und den ganzen Jammer seines Zustandes durchschaute; eine „göttliche Traurigkeit“ wird seine Seele ergreifen, reuig wird er niedersinken und sagen: „Vater, ich habe gesündigt vor dir, ich bin hinfort nicht werth, dein Sohn zu heißen; - mache mich zu einem deiner geringsten Taglöhner.“
Wir aber, die wir dem Sünder auf seinem Wege bis hieher gefolgt sind, wir können ihm nur zurufen: „Glück zu, du bist auf dem einfachsten und richtigsten Wege; indem du es gewagt hast, in dein innerstes, reinstes Selbst hinabzusteigen, mit welchem du in der Tiefe der Gottheit wurzelst, wird dir von da ein Lebensstrom entgegenquellen, welcher, wie er für künftig die Kraft zu allem Guten in sich trägt, so zugleich die Macht hat, alle alten Wunden und Schäden des Gemüthes zu heilen und alle Flecken abzuwischen.“
Darum: wache auf, der du schlafest, so wird dich Christus erleuchten! Amen.