Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Herrlichkeit der evangelischen Kirche.
Predigt über Psalm 87., gehalten am Reformationsfeste, den 31. Oktober 1852.
Psalm 87.
Sie ist fest gegründet auf den heiligen Bergen. Der Herr liebet die Thore Zions über alle Wohnung Jakobs. Herrliche Dinge werden in dir geprediget, du Stadt Gottes, Sela. Ich will gedenken Rahabs und Babels unter denen, die mich kennen. Siehe, Philister und Tyrer sammt den Mohren, werden daselbst geboren. Man wird zu Zion sagen, daß allerlei Leute darin geboren werden, und daß Er, der Höchste, sie baue. Der Herr wird aufzählen im Verzeichniß die Völker: Diese sind daselbst geboren, Sela. Und sie werden singen, wie am Reigen: Alle meine Brunnen sind in dir.
Das Gedächtnißfest der Reformation kehrte uns mit dem heutigen Tage wieder. Dasselbe ist nicht das Geburtsfest unserer evangelischen Kirche, wie es als solches häufig bezeichnet wird. Unsre Kirche ist älter, als dreihundert Jahre. Es ist vielmehr nur das Fest ihrer Erlösung aus einem geistlich babylonischen Gefängniß, dem Diensthause Roms. Jedenfalls aber bleibt es ein Freuden- und Jubelfest; und als solches werde es heute auch von uns begangen! – Wir wissen wohl, daß Rom der entronnenen bis diese Stunde erbittert nachschreit, eine Abtrünnige sei sie, eine Ketzerin, die ihrer Mutter in’s Angesicht geschlagen habe, und nicht selig werden könne. Wir nehmen diese Schmähung als eine unverdiente mit ruhiger Fassung hin, und halten dafür, daß die evangelische Kirche ihren Grundzügen nach nichts Anderes als die Fortsetzung der urchristlichen, der apostolischen sei. Denn nicht der abgefallene wüste Haufe der Rationalisten, Neologen und sogenannten Denkgläubigen ist die evangelische Kirche, sondern die Gemeinschaft ist sie, welche in den Bekenntnissen wurzelt, für die vor dreihundert Jahren unsre Väter in Christo, Gut Blut und Leben einzusetzen freudig entschlossen waren.
Möge der verlesene Psalmtext, der in die Kirche des neuen Testamentes hinüberweist, die Herrlichkeit unsres evangelischen Kirchenthums uns beleuchten. Wir werden diese kennen lernen zuerst als eine Herrlichkeit des Grundes, auf dem unsre Kirche ruht; dann als eine Herrlichkeit des Besitzes, dessen sie sich rühmen darf; und endlich als eine Herrlichkeit der Aussicht, die ihr eröffnet ist.
Gebe der Herr uns auf unserm Betrachtungsgange das Geleit, und bringe Er uns den Reichthum der Gnade, zu dem wir gelangt sind, zu erneuertem Bewußtsein!
1.
“sie ist fest gegründet auf den heiligen Bergen,“ beginnt unser Psalm. – Ja, sie ist’s, die Kirche, die wir mit dankbewegtem Herzen unsre Mutter nennen. Der unwandelbare Fels, der ihr zum Fundamente dient, ist Gottes lauteres, ungefälschtes Wort. Sie steht erbaut auf dem Grunde der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist. Nicht so die Kirche Roms. – Wollt ihr Belege? Sie liegen vor der Hand. Gottes Wort bezeugt: „So halten wir nun, daß der Mensch gerecht werde durch den Glauben allein, der sei verflucht!“ – Gottes Wort: „Mit einem Opfer hat Christus in Ewigkeit vollendet, die da geheiliget werden.“ – Rom dagegen: „Christus muß immer auf’s neue geopfert werden; und so Jemand sagt, es werde in der Messe Gott nicht ein wahres und eigentliches Opfer dargebracht, und das Meßopfer habe keine versöhnende Kraft, der sei Anathema!“ – Gottes Wort: „Nehmet hin, und trinket Alle aus diesem Kelche.“ – Rom: „Allein den Priestern gehört der Kelch; den Laien gebührt es nicht, ihn zu berühren.“ – Gottes Wort: „Ihr sollt Niemanden weder „Vater“ noch „Meister“ heißen auf Erden; denn Einer ist euer Vater: der im Himmel; und Einer euer Meister: Christus.“ – Rom nennt einen sterblichen Menschen „heiliger Vater“, und dieser sich selbst „Supremo maestro“, d.i. den “obersten Meister.“ – Gottes Wort sagt: Ein Bischof sei „Eines Weibes Mann.“ Rom: „Keines Weibes Mann soll der Bischof sein.“ – Gottes Wort: „Die Waffen unsrer Ritterschaft sind geistlich, und nicht fleischlich.“ Rom: „Wenn die Ketzer nicht hören wollen, so muß das Eisen herbei, sie zu zwingen.“ Gottes Wort: „Christi Reich ist nicht von dieser Welt.“ Rom strebt, ein Staat im Staat zu sein. – Gottes Wort: „Die Schrift, von Gott eingegeben, kann den Menschen Gottes vollkommen machen, zu allem guten Werk geschickt.“ Rom: „Die Schrift reicht mit nichten zur Seligkeit aus; sondern ein Anderes, die kirchliche Satzung, im Laufe der Jahrhunderte vom Episkopat, d.i. den Bischöfen, gestellt, muß sie ergänzen.“ –
So liegt’s am Tage: Rom steht nicht lauterlich auf Gottes Wort, sondern größtentheils daneben, ja gegensätzlich zu demselben. Es weiß noch von einer andern Autorität, der es willkührlich oft in wesentlichen Punkten, vor derjenigen des Wortes den Vorrang einräumt. Der Apostel betet, daß das Wort “laufen“ und „allwärts gepriesen“ werden möge. Rom erhebt Protest gegen dies Gebet, und untersagt in mehr als einer päpstlichen Bulle den sogenannten Laien das Lesen der heiligen Schrift, und zwar aus Sorge, sie möchten schon beim ersten Blicke in das Evangelium sich überzeugen, daß sich die Kirche, der sie angehören, mit Gottes Wort im grellsten Widerspruche befinde. Worauf aber steht denn Rom mit seinen kirchlichen Dogmen und Institutionen? Auf breitester Grundlage größtentheils menschlichen Ursprungs. – Die römische Kirche vermißt sich, gleiches Ansehn mit der heiligen Schrift zuvörderst den Apokryphen zuzuerkennen, obgleich diese Bücher der Schriftlehre in sehr erheblichen Punkten entschieden widersprechen, und in Israel niemals dem Worte Gottes gleich geachtet wurden. Gleiches Ansehn mit der Schrift mißt sie sodann den Aussprüchen der Kirchenväter wenigstens in ihrer Uebereinstimmung bei, ohne sich jedoch auf die Lösung der schwierigen Frage einzulassen, wie in der bänderreichen von Gegensätzen wimmelnden Büchermasse jener Consensus zu ermitteln sei. Gleiches Ansehn vindicirt sie drittens den Beschlüssen der vorgeblich vom heiligen Geiste inspirirten Kirchenversammlungen, welche übrigens, ihrer gepriesenen Inspiration ohnerachtet, auch wohl einmal Dinge beschlossen haben, die der Papst als Ketzereien zu verdammen und zu verwerfen sich veranlaßt sah. Und endlich nimmt sie dasselbe Ansehn für die Erklärungen der „unfehlbaren“ Päpste in Anspruch, dieser Päpste, deren Leben nicht selten dergestalt von Laster überfloß, daß die römischen Theologen selbst die Vertheidigung dieser ihrer dreifach gekrönten Häupter zu übernehmen wenig Lust verspüren. In dem Allem, was ich eben genannt, ist nach dem Vorgeben Roms die untrügliche Lehre Christi ebensowohl enthalten, als in der Schrift; und wo letztere etwa jenen Satzungen widerspricht, da muß dies nur Schein sein, und die Schrift irgendwie durch Tortur einer willkührlichen und gewaltsamen Deutung gezwungen werden, denselben nicht mehr zu widersprechen. Es verschlägt der römischen Kirche nichts, daß z.B. die Lehre von der durch priesterliche Consecration hervorgezauberten Brodverwandlung im heiligen Abendmahle der Schrift überall vollkommen fremd ist. Nachdem diese unerhörte, auf die Förderung der Priesterherrschaft aber wohl berechnete, Idee im neunten Jahrhundert dem Mönche Paschasius Radbertus eingegeben, und dann auf einer Kirchenversammlung zum Dogma gestempelt ward, mußte sie nun auch, sie mochte wollen, oder nicht, in der Bibel gefunden werden. Nichts bedeutet’s dem Römerthum, daß die Schrift von einem unfehlbaren menschlichen Statthalter Jesu Christi auf Erden auch nicht im Entferntesten etwas ahnet. Ein in absichtlicher Fälschung untergeschobenes Aktenstück, gleichfalls im neunten Jahrhundert aus einer unheimlichen Werkstatt zu Tage tauchend, sprach jenen unerhörten Gedanken aus, und nun galt es, denselben um jeden Preis auch aus der heiligen Schrift herauszupressen. Manchen der römischen Satzungen widerspricht die Bibel freilich so grell, daß die päpstliche Curie selbst darauf verzichtet, hier eine exegetische Ausgleichung zu ermitteln. Aber auch aus dieser Verlegenheit weiß sie sich dadurch herauszuhelfen, daß sie sich geradezu darauf beruft, es schließe sich die göttliche Offenbarung in der Schrift nicht ab, sondern das Zeugniß Christi sei auch nach Abschluß des biblischen Canons durch seine Organe, die Bischöfe, ununterbrochen in der Kirche fortgegangen, und gehe in ihr fort bis diese Stunde; und Ihm stehe es doch wohl zu, so oft es Ihm beliebe selbst Manches, was die Schrift enthalte, wo nicht zu verbessern, so doch zu vervollständigen und zu ergänzen, und Neues hinzuzuoffenbaren. –
So bedarf es denn keines Beweises weiter, daß Rom mit Nichten auf Gottes Wort allein, ja, nicht einmal vorzugsweise auf Gottes Wort, sondern viel mehr noch auf der morschen Basis willkührlich menschlicher, und dem Worte tausendfältig widersprechender Fündlein und Satzungen mit seiner Lehre, seinem Kultus und seiner Verfassung gegründet stehe. Unsre evangelische Kirche dagegen rühmt sich mit vollem Rechte der reinen unfehlbaren Gottesoffenbarung als des einigen ewig unwandelbaren Fundamentes, auf dem sie ruhe. Auch sie dankt von Herzen Gott für das, was „kirchliche Ueberlieferung“ heißt; aber sie ordnet’s, wie sich’s gebührt, dem Worte Gottes unter, indem sie es nach diesem, als dem unbedingt entscheidenden Probiersteine, prüft, und mit Verwerfung des Unbiblischen nur das Schriftgemäße beibehält. Auch sie verpflichtet ihre Glieder auf Bekenntnißschriften von Menschenhand verfaßt; aber sie verpflichtet darauf nur, weil sie in ihnen den ungefälschten Ausdruck des Inhalts des göttlichen Worts erkannte. Sie giebt dieselben Jedermanns freier Prüfung preis, und würde sie verbessern, wo sie sich überzeugte, daß sie mit dem Buchstaben der Schrift nicht in vollkommenem Einklang ständen. Auf nichts will sie stehn und fußen, als allein auf dem unverkümmerten, lautern Wort, und empfiehlt darum Allen dessen Lesung und Erforschung in dem zuversichtlichen Bewußtsein, daß sich ihr Lehrsystem in diesem Wege nur als ein rein biblisches bewähren werde.
Aus diesem ihrem Gegründetsein auf die ungetrübte Wahrheit Gottes leuchtet euch der erste Wiederschein der Herrlichkeit unsrer Kirche entgegen. Die einzige Autorität, hoch über alle menschlichen Satzungen hinaus, ist ihr das Zeugniß des Herrn aller Herrn, niedergelegt in die Schriften alten und neuen Testaments. Und darum schon liebet der Herr „ihre Thore über alle Wohnungen Jakobs.“ Sie ist die Gehorsame, die, auf seine Stimme achtend, Ihm die Ehre gibt, die Ihm gebührt. Sie ist ihren Grundsätzen nach immer noch die urchristliche Kirche, die den Schauplatz der Erde nie geräumt; die Jahrhunderte hindurch nur gefangen saß; die auch während ihrer Gefangenschaft schon hin und wieder in den sogenannten Mystikern scheu und leise ihre Stimme ertönen ließ; ja die oftmals z.B. in den Albigensern, Waldensern und Hussiten ihre geistlichen Ketten schüttelte, ob sie sich denselben entwinden möchte; aber dann von der, die sie gefangen hielt, mit eisernem Fuße untertreten wurde; endlich jedoch vor dreihundert Jahren in Luther den Moses fand, der ihr die Banden löste, die Daumschrauben abnahm, und sie mit seinem “das Wort sie sollen lassen stahn“ herausführte aus ihrer Knechtschaft. Der Strick war zerrissen, und die Zionstochter frei. Sie ist’s bis diese Stunde. O singen wir dem Herrn ein Hallelujah!
2.
Die Herrlichkeit unsrer evangelischen Kirche ist ferner eine Herrlichkeit des Besitzes, dessen sie sich rühmen darf. – „Des Besitzes?“ höre ich euch befremdet fragen. „An Besitz steht sie doch wohl weit der römischen nach, deren die Gewalt ist, und die imposante Einheit; und die gottesdienstliche Pracht, und das Silber und Gold?“ – Allerdings dem Anscheine nach ist sie die Königin, und die unsrige die arme, geringe und schmucklose Magd. Aber wer heißt euch am Scheine haften? Zum Wesen der Kirche Christi gehört keine fleischliche Gewalt durch Bannspruch, Inquisition und Scheiterhaufen ausgeübt; sondern eine solche widerspricht vielmehr demselben. Eine äußerliche Einheit in Lehre, Cultus und Verfassung, durch menschliche Machtgebote erkauft, und durch unwahre Satzungen, wie durch gewaltsame Knechtung und Fesselung der Geister zu Stande gebracht, ist ohne Werth, und es fällt uns nicht ein, um sie die römische Kirche zu beneiden. Ein gottesdienstlicher Pomp, der die Anbetung im Geist und in der Wahrheit verdrängt, und das, was allein in Gottes Augen gilt, verdunkelt, wiegt in der Waage des Heiligthums nichts, sondern wird von dem richterlichen Wort getroffen: „Thue hinweg von mir das Geplärr deiner Lippen; denn ich mag deines Psalterspiels nicht hören;“ und Gold und Silber endlich gehören wohl zu eines Weltreichs Glanz und Kraft; kommen aber bei der Würdigung eines Kirchenthumes nicht in Betracht. Wäre sonst doch die apostolische Kirche die verächtlichste gewesen, die je bestanden.
Aber was hätte denn unsre evangelische Kirche als ihres Besitzthumes sich zu rühmen? Sie zählt zu ihren Schätzen zuerst das ewige Wort, auf dem sie erbauet steht. Sie hat dasselbe nicht wie Rom, als ein siebenfach versiegeltes Testament; sondern eröffnet besitzt sie’s, entsiegelt, und zu allstündlichem Genusse ihr dargeboten. Nicht hat sie’s, wie jenes, nur als Geheimschatz eines Clerus; sondern als Gemeingut der Gesammtheit ihrer Glieder. Sie hat’s nicht, wie Rom, in einer den Laien unzugänglichen Sprache, sondern fast in ebenso vielen Verdolmetschungen, als die Erde Völker zählt. Sie hat’s als eine offene Quelle, als einen unverzäunten Born, zu dem ein jeder hinzugerufen wird, daß er nach Herzens Lust und Begehren daraus schöpfe und trinke. Keine vorgebliche menschliche Autorität zwingt ihr ein bestimmtes Verständniß dieses Wortes auf; sondern sie ist an einen göttlichen Interpreten, den heiligen Geist, gewiesen, der sie in alle Wahrheit leiten werde. Ihr gilt das Wort: „Ihr habt die Salbung von dem, der heilig ist, und wisset Alles.“ Er selbst, der das Wort ihr gegeben, hat verheißen, sich zu ihr herablassen zu wollen, um ihr dasselbe auch auszulegen; und er stand seiner Zusage bis zu dieser Stunde. – Die evangelische Kirche hat den Kern und Stern jenes Wortes: die aus der römischen mit Anathemas verbannte Lehre von der Rechtfertigung aus Gnaden, d.i. die Lehre, daß, wer von Herzen an Jesum glaube, Vergebung aller seiner Sünden habe, und um des zugerechneten Verdienstes Christi willen vollkommen gerecht und tadellos vor Gottes Augen stehe. Sie hat darum für alle ihre lebendigen Glieder das Kleinod, denn kein anderes im Himmel und auf Erden zu vergleichen ist: den vollkommenen Frieden, diese liebliche Blüte des Rechtfertigungsbewußtseins; den Frieden vor Gott und mit Gott, zu welchem nach römischer Satzung, die die innere Beruhigung an ein Maaß persönlicher Heiligkeit und selbstgethaner Werke knüpft, niemand weder gelangen kann, noch soll, noch darf. In diesem Frieden aber hat sie weiter die Freiheit der Kinder Gottes, so wie die Kraft zu aller wahren Heiligung: denn an der erfahrenen Gottesliebe entzündet sich die Gegenliebe, die des Gesetzes Erfüllung ist. „Wem viel vergeben ward,“ spricht der Heiland, „der liebt auch viel.“ – „Wenn du mein Herz tröstest,“ singt der Psalmist, „so laufe ich (mit Willigkeit) den Weg deiner Gebote.“ – Unsre Kirche kennt nicht, wie die römische, ein Zwangsgebot, das sie Zeitlebens an ihrer Seligkeit und den Stand ihrer Gnade zweifeln heißt. Ihr wird vielmehr mit dem apostolischen Worte zugerufen: „Machet euern Beruf und eure Erwählung fest.“ Sie vernimmt die Kunde: „Der Geist gibt unserm Geiste Zeugniß, daß wir Kinder Gottes sind.“ – Sie empfängt Anleitung, mit Paulus zu frohlocken: „Ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstenthum, noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch keine andre Kreatur, mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die da ist in Christo Jesu, unserm Herrn.“ O, wie trifft es doch bei unsrer Kirche zu, was unser Psalm sagt: “Herrliche Dinge werden in dir geprediget, du Stadt Gottes, Sela.“ – Vermöge ihres Bewußtseins, im Schmucke des Gehorsams ihres Bürgen vor Gott zu stehn, und kraft des solcher Zuversicht entquillenden Kindschaftsgefühls ist unsre evangelische Kirche die freie, d.h. die nicht mehr aus Furcht, sondern aus Lust, nicht mehr aus knechtischer Lohnsucht, sondern aus kindesfröhlicher Dankbarkeit und Liebe dem Gesetze Gottes unterthänige. In der Gerechtigkeit, mit der sie sich bekleidet weiß, hat sie in allen ihren gläubigen Kindern offnen und unbeschränkten Zugang zum Gnadenthron, und braucht sich nicht erst weder nach menschlichen Mittlern, seien’s Priester oder verklärte Heilige, noch nach neuen Opfern umzusehn, indem ihr Christus Mittler genug ist, und sie mit Einem Opfer in Ewigkeit vollendet hat. Vielleicht wendet ihr ein, daß ja auch in der römischen Kirche gar Manche des Vorrechts solchen freien Zugangs sich erfreuen möchten. Und ich glaube, ihr irrt in dieser Voraussetzung nicht. Aber wisset, wenn Solche dort sich finden, so gehören sie schon ihrer Kirche nicht mehr an. Sie sind dem Geiste nach dem Römerthum entronnen, und wir zählen sie mit gutem Grunde zu den Unsern.
Doch unsre Kirche besitzt außer dem bereits Genannten des Köstlichen noch mehr. Der Reichthum ihrer Güter und Prärogative ist unermeßlich. Sie hat die Sakramente in ihrer ursprünglichen Gestalt. Wie Christus sie eingesetzt und verordnet hat, so sind sie ihr geblieben. – Sie bewahrte sich die schönen, fruchtbaren urchristlichen Gottesdienste, bestehend in lieblichem Gesang, in brünstigem Gebet, in erleuchteter Auslegung des göttlichen Wortes und in stiftungsgemäßer Communion. Sie besitzt, weil im Worte wurzelnd, die Gabe der Unterscheidung, durch welche sie vor dem argen Wahn und Mißgriff behütet bleibt, eine äußerliche Kirche mit dem Reiche Gottes, oder dem Leibe Christi zu verwechseln. Ihr gehören nur diejenigen wahrhaftig Christo an, die ihr Fleisch sammt Lüsten und Begierden kreuzigen, und die Feuertaufe des Heiligen Geistes empfangen haben. Bei ihr ist die demüthige Unterwerfung unter die weltliche Obrigkeit als unter Gottes Ordnung, wie die Schrift sie fordert, während die Curie Roms das Recht beansprucht, Könige ein- und abzusetzen, und Völker von den Eiden zu entbinden, die sie ihren Oberen geschworen. Unsere Kirche hat ihren unvergleichlich herrlichen geistlichen Liederschatz, und die tiefstgründende Theologie; denn was hievon auch bei Rom sich findet, gehört nicht eigentlich der römischen, sondern der noch im Evangelium wurzelnden katholischen Kirche an, die vor dreihundert Jahren nothgedrungen von der römischen sich trennte. Unsre Kirche rühmt ferner sich mit Recht, die Märtyrerkirche, die Kirche der Blutzeugen zu sein. Denn die tridentinisch-römische, d.h. diejenige Kirche, die vor drei Jahrhunderten im Gegensatz gegen die Reformation auf der Kirchenversammlung zu Trient ihre Satzungen fixirte und kanonisirte, pflegt Märtyrer wohl zu machen, aber selten nur zu liefern. Nicht minder verdient die evangelische Kirche den Namen der Missionskirche. Sie ist es, die der Herr mit dem großen Werke der Welteroberung für seine Fahnen, und der Welterneuerung durch seinen Geist betraute. An sie ergeht das Wort: “Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker;“ und ihr gilt die Verheißung: “Siehe, Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“
So frage ich euch denn, wenn es einer der genannten beiden Kirchen zusteht, sich für die Fortsetzung der urchristlichen zu halten, welche ist es, die sich hiezu berechtigt glauben darf? Ist es diejenige, welche dem Worte Gottes ein trügliches Menschenwort mit gleicher Geltung zur Seite stellt; oder die, welche die geoffenbarte Wahrheit Gottes rein, unverkümmert und ungetrübt bewahrte? Ist es die, welche die Kern- und Wesenslehre des Evangeliums, die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben, unterschlug; oder die, welche das Wort vom Kreuz so voll und unentstellt der Welt verkündet, wie die Apostel es verkündet haben? Ist es die, welche Dogmen, wovon die Schrift nichts weiß, wie das vom Meßopfer, von der Brodverwandlung, von der Anrufung der Heiligen u.s.w. bei sich einführte; oder die, welche sich nicht vermessen zu dürfen glaubte, über den klaren und unzweideutigen Lehrgehalt der göttlichen Offenbarung hinauszugehen? Ist es die, die eine Herrschaft anstrebt, der Herrschaft weltlicher Machthaber vollkommen gleich; oder die, die nur dienen will, wie ihr Meister, und nicht darnach trachtet, sich dienen zu lassen? Ist es die, die ihre Sache mit fleischlichen Waffen: mit Schwerdt, Interdict und dergleichen mehr zu halten und zum Sieg zu führen sucht; oder die, die sich aller Waffen begibt außer denen der Predigt des Evangeliums und des Gebets? Ist es die, die Gott dienen will mit einem bunten äußeren Gepränge; oder die, welche die Anbetung im Geist und in der Wahrheit als den Dienst empfiehlt, der Gott allein gefallen könne? - - Freunde, ich überlasse die Beantwortung aller dieser Fragen euch selbst; aber ich bin im Voraus gewiß, wie eure Entscheidung lauten werde und lauten müsse.
3.
Ist nun die evangelische Kirche ihrem Grundwesen nach die vom Herrn gestiftete, so ist, wie wir bereits angedeutet, ihrer auch die Verheißung. Wie sie herrlich ist dem Fundamente nach, auf dem sie steht, und dem Besitze nach, dessen sie sich rühmen darf, so ist sie’s nicht minder vermöge der unvergleichlichen Aussicht, die ihr eröffnet ward. Ihr gilt das Wort: “Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.“ Ihr, als Ganzem, der tröstliche Zuruf: “Fürchte dich nicht, du kleine Heerde; denn es ist des Vaters Wohlgefallen, dir das Reich zu geben.“ – An ihr wird sich bewahrheiten, was der Herr im weitern Verfolge unsres Psalmtextes spricht: “Ich will predigen lassen (nämlich durch dich, die Inhaberin meiner Wahrheitsschätze und die Heroldin meiner Gnade,) Rahab, (Egypten) und Babel, daß sie mich kennen sollen. Siehe, die Philister und Tyrer, sammt den Moren (die Gesammtheit der Heiden) werden daselbst (innerhalb der Kirche des ungetrübten Lichts) geboren (nämlich: zum neuen göttlichen Leben. Denn der Heilige Geist folgt nur der Predigt des lautern Evangeliums, und eine nachhaltige Anziehungskraft hat allein das Wort vom Kreuz in seiner reinen unverdunkelten Gestalt.) Man wird zu (oder von) Zion sagen, daß allerlei Leute (Leute aller Zonen, Farben, Sprachen und Bildungsstufen) darin geboren werden, (sind wir nicht schon so weit, daß es bereits gesagt werden kann?) und daß Er der Höchste sie baue. Der Herr wird - (so lauten die beiden letzten Verse unseres heiligen Liedes nach buchstäblicher Uebersetzung,) aufzählen im Verzeichniß (in seinem Familienbuche, in dem Register Seiner Erlöseten) - die Völker, (sprechend Diese sind daselbst geboren, Sela. Und sie werden singen wie am Reigen: Alle meine Brunnen (Heil- und Trostesquellen) sind in dir!“ - – Herrliche Aussichten, die die römisch-tridentinische Kirche als solche nichts angehn. Sie hat keine Zukunft, mindestens keine tröstliche. Das Fundament, auf dem sie steht, ist zerschellbar. Ihre Satzungen sind nicht mehr der Same, aus welchem dem Herrn Kinder geboren werden, wie „der Thau aus der Morgenröthe.“ Die Kirche des Worts dagegen wird bleiben, wie das Wort selbst, und ihre Grenzen erweitert sehen, nicht zur Linken blos in die Todeswüsten der Heiden, sondern auch, wie da und dort bereits geschieht, zur Rechten in das Gebiet des römischen Kirchenthums hinein. Die Kirche Roms hat trotz aller angewandten Mühe doch nicht vermocht, ganz gegen die erleuchtenden Einwirkungen der Reformation sich abzusperren. Sie, und namentlich ihr deutscher Sprengel, umschließt, wie einst, so auch heute wieder, eine große ungezählte Schaar, die zu tieferen Bedürfnissen erwacht, an den Beichtstühlen und Altären ihrer Priesterkirche keine Befriedigung mehr findet, und in dem Lichte, das aus unserer Kirche her sie bestrahlt, still und unvermerkt der Freiheit der Kinder Gottes entgegenreift. – Ja, wenn des Herrn Stunde wird gekommen sein, werden, wenn auch nicht der Gesammtheit des stolzen Klerus, doch Tausenden und aber Tausenden seiner Beicht- und Kirchenglieder – o helft durch Zeugniß, Fürbitte und Exempel schaffen, daß es bald geschehe! – die Schuppen vollends von den Augen fallen, und was wird das sein, wenn wir, unter dem frei entfalteten Panier des Kreuzes zu einer lichten Gotteskirche mit ihnen vereint, wie aus einem Munde mit einander singen werden: “Ja, alle unsre Brunnen sind in Dir, Herr Jesu!“ – Amen.