Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die evangelische Kirche.
Reformationspredigt über Galat. 4, 26.
Galat. 4, 26. Aber das Jerusalem, das droben ist, das ist die Freie, die ist unser Aller Mutter.
Morgen, theure Freunde, grüßt uns wieder der große, ewig denkwürdige Tag, an welchem einst, - 336 Jahre sind es hin, - auf die Pforte der Schloßkirche zu Wittenberg jene Hammerschläge sielen, unter deren immer noch die Welt durchtönenden Widerhall, wie einst unter Josuas Posaunenstößen die Mauern Jerichos, ein tausendjähriges Bauwerk des Wahns krachend zusammenstürzte, und Vieles, was seitdem wankt, aber bis heute sich noch zu halten wußte, einst, weil es in Gott nicht gründet, gleichfalls stürzen wird. Umklungen von dem tapfern Liedeshalle: „Eine feste Burg ist unser Gott;“ kehrt er morgen zu uns wieder, der ewig unvergeßliche 31. Oktober, der Jahrestag der beginnenden Reformation, welchen wir zwar erst heute über acht Tage in kirchlicher Feier begehen sollen, dem wir aber heute schon viel zu nahe stehen, als daß es uns gelingen könnte, die Gefühle des Dankes und der Freude, die Angesichts seiner sich unsrer bemächtigen, noch eine ganze Woche lang in unserm Busen zu verschließen. So sei denn diese Morgenstunde einer Vorfeier des Reformationsfestes geweiht; und der Herr lasse sich auch heute schon das Lobgetöne unserer Herzen in Gnaden Wohlgefallen! -
Das „Jerusalem, das droben ist,“ dessen unser Text gedenkt, ist, wie aus dem Zusammenhang unserer Stelle mit dem Vorhergehenden erhellt, nicht etwa die Gottesstadt jenseits der Wolken, der Wohnsitz der vollendeten Gerechten; sondern das geistliche Zion, oder, im Gegensatz zur alttestamentlichen Theokratie, die auf den Eckstein Christus gegründete apostolisch-neutestamentliche Kirche, mit welcher unsere evangelische ihrer Grundlage und ihrem lebendigen Theile nach ein und dieselbe ist.
Setzen wir uns darüber heute in's Klare, was die evangelische Kirche sei, und sehen wir zuerst, wie sie ward; dann, welcher Freiheit sie sich rühmt; und endlich, wie sie ihren Mutterberuf erfüllt.
Lasse der Herr unsere Betrachtung gesegnet sein, und entflamme Er durch sie neu in uns die Liebe zu der Kirche, deren Kinder zu sein wir den großen Vorzug haben!
1.
Fragen wir zunächst nach dem Geburtsschein der evangelischen Kirche, so lautet derselbe auf das Jahr 33 nach Christi Geburt. An jenem großen Pfingsttage zu Jerusalem trat sie unter der Feuertaufe des heiligen Geistes und durch dieselbe in's Leben. Seitdem ward sie auf Erden nie mehr vermißt. Sie begegnet uns, wenn wir nur ein Auge für sie haben, ebensowohl in der Kirchendämmerung der erstern, und in der Kirchennacht der letztern Jahrhunderte des Mittelalters, wie am hellen Sonnentage der urchristlichen Aera. Sie ist da, wo arme Sünder in göttlicher Traurigkeit nach Gnade dürsten, und zur Ruhe nicht gelangen, bis sie der Gnade Gottes gewiß geworden sind. Und ob sie auch, weil die Friedensquelle verschüttet ward, ungetröstet die Welt verlassen, so ist nicht die Befriedigung erst, sondern auch schon das erwachte Bedürfniß nach dem Evangelium die Signatur, an der jene Kirche erkannt wird. Sehr wahr und treffend muß die euch Allen bekannte Antwort heißen, welche jener evangelische Christ Englands dem römischen ertheilte, der triumphirend ihn mit der Frage anging: „Wo war denn deine Kirche vor 300 Jahren?“ Der Engländer erwiederte ruhig und fest: „Wo war dein Angesicht am heutigen Morgen, bevor du es gewaschen hattest?“ Auch vor der Reformation war die evangelische Kirche da; aber verkümmert in ungestilltem Hunger nach dem Brod des Lebens, friedensbedürftig, jedoch friedenslos, mit eisernen Jochen menschlicher Satzungen beschwert, und zu einem trostlosen Frohndienst-Leben verurtheilt. Gefangen war sie, ja unausgeboren noch, und nur erst als Embryo und dem Keime nach vorhanden. Später durchbrach sie ihre Hüllen, entfaltete sich, und gewann in Bekenntniß und eigenthümlicher Weise des Gottesdienstes eine scharf ausgeprägte Gestalt. Diese ihre Entfaltung und selbstständige Gestaltung aber ist es, die wir im Auge haben, wenn wir sagen, unsere evangelische Kirche, die allerdings ihrem innersten Kern und Wesen nach seit 18 Jahrhunderten schon besteht, sei vor 300 Jahren erst an's Licht der Welt geboren.
Wo trat sie ins Leben? Ihre Geburtsstätte war nicht die Halle der Akademiker, nicht die Studirstube des Gelehrten, und viel weniger noch der Sprechfaul emancipationssüchtiger Freiheitsschwindler; sondernder Buß-, Bet- und Thränen-Winkel. Nicht eine einseitige Verstandesthätigkeit, wie Manche sich's denken, sondern ein tiefes Herzensbedürfniß rief sie in's Dasein. Kommt und sehet's! In die düsteren Mauern des alten Augustinerklosters zu Erfurt führe ich euch ein. Hier treffen wir einen bleichen abgehärmten Mann; der Bruder Martinus ist es. Warum senkt er sein Haupt, und sieht so traurig? Er hatte einmal Ernst machen wollen mit dem Trachten nach seiner Seelen Seligkeit, und zu dem Ende sich eine tadellose Erfüllung aller göttlichen Vorschriften und Gebote zur Aufgabe gestellt. Auf diesem Wege lernte er aber nur im scheinenden und brennenden Lichte der Heiligkeit Gottes, das tiefe Verderben und die unendliche Gottentfremdung des eigenen Herzens kennen, und gerieth darüber in eine von Tage zu Tage sich steigernde Angst und Bekümmerniß. Er erkannte, wie es nun vor allen Dingen gelte, die Schuld zu tilgen, deren er sich vor Gott bewußt war, und sich Gott zu versöhnen. Aber je eifriger er sich darum bemühte, desto weiter wich der Friede von ihm, und desto mehr wuchs sein inneres Zagen. O bemerkt die Schatten des Grams auf der noch jugendlichen Stirn! Vernehmt die halberstickten Seufzer, die ohne Unterlaß seiner gepreßten Brust entsteigen! Das Evangelium verschuldet dies sein inneres Unglück nicht; aber die Kirche verschuldet's, deren getreuster und dienstbeflissenster Sohn er war, die aber das Evangelium ihm unterschlagen hat. In unbedingter Unterwerfung hat er auf's pünktlichste Alles ausgeübt, wozu die Kirche, damit er zur Ruhe gelange, ihm Anweisung ertheilte. Er hat gefastet, gebeichtet, gebetet, Messe gehört, sich kasteiet, Almosen gegeben, Gehorsam geleistet, und was Alles sonst gethan. Aber in allen diesen kirchlichen Uebungen fand er den heiß ersehnten Frieden nicht. Der Wurm, der in seinem Innern nagte, starb nicht an diesen Werken. Ach sehet den beklagenswerthen Mann, wie ihm im Vorgefühl des zukünftigen Gerichtes alle Gebeine erzittern; denn die Tröstung der verirrten Kirche, daß die Priesterherrschaft für seine Seligkeit hasten werde, scheint ihm nicht weniger eine Gotteslästerung nur zu sein, wie der Trost der blinden Welt, daß Gott es einst mit der Sünde schwacher Menschenkinder so gar genau und scharf nicht nehmen werde. O seht, wie er von dem Fluche des Gesetzes, den er über seinem Haupte donnern hört, darnieder geschmettert, sich am Staube windet, und der Verzweiflung nahe ist! - Da tritt ein alter Klosterbruder in seine Zelle, nimmt mitleidig des auch körperlich Erkrankten bebende Hand, und erinnert den unendlich Zerknirschten an das Wort des apostolischen Bekenntnisses: „Ich glaube an eine Vergebung der Sünden.“ Wie ein Schimmer des Morgenroths zuckt's alsobald durch Luthers Thränennacht; aber Tag wird's darum noch nicht in seiner Seele, obgleich der Tag schon hinter seiner Wand steht. Der Tag bricht ihm erst an, als er durch Gottes gnadenreiche Führung in einem entlegenen Winkel der Klosterbibliothek die mit einer Kette an die Mauer befestigte Bibel entdeckt. Dies theure Gottesbuch aber erblicken, darüber wie ein verschmachtender Hirsch über die sprudelnde Felsenquelle im Walde herfallen, und über der Vertiefung in die heilige Urkunde Zeit und Stunde vergessen, ist bei ihm eins. Er liest: „Des Menschen Sohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ Er liest: „Ich gebe mein Leben zum Lösegeld für Viele.“ Er liest: „Christus ist des Gesetzes Ende; wer an ihn glaubt, der ist gerecht.“ Erliest: „Wir werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade, durch die Erlösung, so in Christo Jesu geschehen ist?' Er liest: „Nicht aus den Werken, auf daß sich nicht Jemand rühme.“ Er liefet dies, und Anderes gleichtröstlichen Inhalts. Und er liest's nicht nur, sondern verschlingt es. Schuppe um Schuppe fällt von seinem Geistes-Auge, und seine Seele jauchzt laut auf: „Gefunden! Ich bin am Ziele!“ - Er umklammert das Kreuz, versenkt sich gläubig in Christi Opfer, und der heilige Geist giebt seinem Geiste Zeugniß, daß das Blut des Sohnes Gottes auch ihn „gewaschen habe von allen seinen Sünden.“ Er hat Frieden mit Gott durch den einigen Mittler Christus, und in diesem Frieden: Lust, Muth und Kraft, zu „laufen den Weg der Gebote“ dessen, der fortan seine ganze Liebe, wie seine ganze Freude und Hoffnung ist. Sehet, nun ist die evangelische Kirche ihrem Wesen nach ausgeboren da, wenn auch einstweilen erst in der einzelnen Persönlichkeit dieses Martinus Luther. Aber das Signal der Wittenberger Hammerschläge gesellte dem Einen binnen Kurzem Tausende und aber Tausende von Gleichgesinnten zu, und die evangelische Kirche, die erneuerte Kirche des Anfangs, trat als die auf dem Grunde der Apostel und Propheten erbaute, und darum allein in der Wahrheit wurzelnde kirchliche Glaubens- und Bekenntniß-Gemeinschaft in die Erscheinung.
2.
Die evangelische Kirche rühmt sich frei zu sein. Das „Jerusalem, das droben ist,“ heißt in unserem Texte „die Freie.“ Hier werde nun aber vorab jeder Gedanke an eine fleischliche Freiheit entfernt! Die Reformation war nicht Revolution, sondern das Gegentheil der letzteren. Luther dachte nicht daran, weder den Ordnungen seiner Kirche, noch seinem kirchlichen Oberhirten, dem Pabste, die Treue und den Gehorsam aufzusagen. Nichts lag seinen Absichten ferner, als ein Autoritätensturm irgend einer Art. Er begehrte nur, daß die Satzungen der Kirche von ihren Widersprüchen mit Gottes Wort gesäubert würden, und der Vater zu Rom das reine unverfälschte Evangelium unbehindert in der Kirche wolle walten lassen. Selbst da er schon von dieser als ein Ketzer ausgestoßen war, hörte Luther nicht auf, eine Wiedervereinigung mit ihr so ernstlich zu wünschen als anzustreben. Er machte nur, wie wir, die wir uns ja auch nicht absolut feindlich der römischen Kirche gegenüber stellen, ein Gleiches thun, den durchaus billigen Vermittlungsvorschlag, daß man auf den sogenannten ersten Papst, den Apostel Petrus, zurückgehn und dessen Aussprüchen für Lehre und Cultus in der Kirche ein unbedingt entscheidendes Ansehn einräumen wolle. Was aber bezeugt denn dieser Petrus? Vom Wege der Seligkeit sagt er: „Wir glauben durch die Gnade unseres Herrn Jesu Christi selig zu werden;“ von der Leitung der Gemeinen: „Seid nicht, als die über die Sprengel herrschen, sondern werdet Vorbilder der Heerde;“ von Kirche und Gottesdienst: „Als die lebendigen Steine erbauet euch zum geistlichen Hause, zum heiligen Priesterthum, zu opfern geistliche Opfer, die Gott angenehm sind durch Jesum Christum;“ vom Ablaß: „Wisset, daß ihr nicht mit vergänglichem Gold oder Silber erlöset seid, sondern mit dem theuren Blute Christi;“ von Christi Versöhnopfer, ob es öfter zu wiederholen sei: „Christus hat Einmal für unsere Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott brächte;“ von den Geistlichen, ob ihnen eine Mittlerstellung zwischen Christo und der Gemeine zuzuerkennen sei: „Ihr“ (nämlich ihr Gläubigen alle) „seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priesterthum, das heilige Volk;“ von der Herrschergemalt der Kirche, ob sie sich auch über die weltliche Obrigkeit erstrecke: „Seid unterthan aller menschlichen Ordnung um des Herrn willen, es sei dem Könige, als dem Obersten, oder den Hauptleuten, als den Gesandten von Ihm;“ von dem Verhältniß der Kirche zu Gold und Silber: „Weidet die Kirche Christi nicht um schändlichen Gewinnes willen;“ vom Cölibat Nun das Cölibat stößt Petrus thatsächlich um, und heiligt die Priesterehe durch seinen eigenen Vorgang, so wie er in gleicher Weise alle ungebührlichen Ehrenbezeugungen abweist und richtet, welche Diener der Kirche für sich in Anspruch nehmen, indem er, der große Apostel, dem Cornelius, der ihn fußfällig verehren will, mit heiliger Entrüstung zuruft: „Stehe auf; denn ich bin auch ein Mensch wie du!“ Von der Predigt endlich sagt Petrus: „So Jemand lehret, daß er es rede als Gottes Wort!“ Sehet, Solches lehrt der Mann, auf den die römische Kirche ihren Ursprung zurück führt, und den sie als den ersten ihrer Päpste bezeichnet. Nun sprechen wir zu unseren katholischen Brüdern: „Wohl her! reichen wir uns in diesem „ersten Papste“ und über seiner Lehre die Hand! Ja, kommt und unterwerfen wir uns beiderseits den Entscheidungen dieses apostolischen Kirchenhaupts, und unsere Union wird auf das herrlichste vollzogen, und der schöne heiß ersehnte Tag des „Einen Hirten und der Einen Heerde, vor der Thüre sein!“
„Also auch in der evangelischen Kirche noch Unterwerfung unter eine fremde Autorität?“ höre ich stutzend fragen. Aber Freunde, habt ihr euch denn bisher unter dieser Kirche ein zaun- und gitterloses Territorium gedacht, darin man weder einem Herrn, noch einer Reichsordnung begegne? Wohl ist sie frei, die Kirche; aber ihre Freiheit ist nichts weniger, als Zügellosigkeit und Willkühr. Entbürdung ist sie von dem Joche menschlicher Satzungen; aber zugleich Gebundenheit an das in den kirchlichen Bekenntnissen ausgeprägte unwandelbare Gotteswort. Sie ist Entlassung aus der Dienstbarkeit vorgeblicher menschlicher Mittler; aber zugleich rückhaltlose Hingegebenheit an den Mittler Gottes als an den einigen Seligmacher. Frei sind die Kinder der evangelischen Kirche im Genüsse des dreifachen großen Vorrechts: eines unmittelbaren Verkehrs mit dem Wort des Lebens, eines unbehinderten Zugangs zum Gnadenthron, und einer von menschlicher Genehmigung unabhängigen Zueignung des Bewußtseins ihrer Rechtfertigung vor Gott durch Christum. Wer aber eine andere Freiheit will, als diese: Glaubensfreiheit, Lehrfreiheit, Freiheit, nach eigenem Gelüste Gott zu dienen, und Freiheit von der Zucht der Liebe, welche die Kirche übt, der suche sich seine Freiheit anderwärts, als in unserer evangelischen Kirche, zu der er sich rebellisch verhält, ja von deren Gemeinschaft er sich, genau besehen, durch sein Emancipations-Gelüste schon geschieden hat. Die Freiheit der evangelischen Kirche ist eine göttlich beschränkte und begrenzte, und wehe dem, der die Zäune zu durchbrechen sich vermißt, in die der große Erzhirte selbst sie eingefriedigt hat.
3.
Die evangelische Kirche ist, wie unser Text sie nennt, eine Mutter, während die römische mehr eine Herrin ist. Jene gebiert Kinder, diese Knechte; jene beansprucht Liebe, diese nur Gehorsam. Nicht auf's Herrschen ist jene erpicht, sondern nur dienen will sie. Nicht genügt es ihr, ihre Angehörigen unterthänig nur zu wissen; auch zutraulich will sie sie sehen, fröhlich und zufrieden. Darum hat sie kein Geheimniß vor ihnen, sondern erschließt ihnen ihr tiefstes Innere. Darum verkürzt sie ihnen nicht den Trost des Evangeliums, sondern reicht ihnen denselben ganz und unverkümmert, wie er aus der Hand Gottes hervorgegangen ist. Darum ist sie nicht darüber aus, die Gnade durch gesetzliche Beschränkungen zu verdunkeln; sondern läßt Gnade Gnade sein, wie Verdienst Verdienst. Darum enthält sie den sogenannten „Laien“ nicht einen Theil der ihnen durch Christum erworbenen Bundesgüter im abgeschlossenen Kreise einer vornehmen Priesterkaste vor, sondern setzt ihre Kinder in den vollen Besitz und Genuß des ihnen göttlich zugedachten ungetheilten Erbes ein. Und wenn sie dann frohlocken: „In dem Herrn habe ich Gerechtigkeit und Stärke,“ so verdrießt sie das so wenig, daß sie sich dessen vielmehr von Herzen freut. Und wenn sie eines freien und vollendeten Gewissens in Christi Blut sich rühmen, und im Glaubenshinblick auf ihre mit Einem Opfer geschehene ewige Vollendung auf den Flügeln überschwänglicher Wonne über den Höhen der Erde schweben, so sieht sie nicht etwa grämlich und scheel darein, als ob sie eifersüchtelnd besorgte, unter den unmittelbaren Tröstungen des Herrn möchten die Kinder zu unabhängig werden von. ihren, der Kirche, priesterlichen Diensten und Vermittlungen; sondern nimmt an der Freude der göttlich Getrösteten herzlich Theil, und ruft ihnen mit den Worten des Apostels zu: „Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich euch: freuet euch!“
Ein holdes, liebseliges Wesen ist die Gottestochter Jerusalem, die evangelische Kirche, die euch Alle in eurer Wiege schon so freundlich grüßte, und, wie einst die Königstochter Pharaos das Knäblein Moses, so euch von der Verderben drohenden Zeitfluth aufnahm, und durch die Taufe an das heiligste Mutterherz im Himmel bettete. Freilich, schlief sie einmal, die Mutter-Kirche; aber nun ist sie wieder erwacht, und waltet auf's neue mütterlich nah und fern. Denn wer ruft wieder so laut von tausend Kanzeln herab zu Jesu, dem einigen Seligmacher? Wer streut wie ein Himmelsmanna die Millionen heiliger Schriften über die Erde aus? Wer sammelt die Schaaren unmündiger Kindlein in freundliche Asyle, um sie spielend dem guten Hirten zuzuführen? Wer besucht Jesum in seinen gefangenen, wer richtet ihn aus dem Staube empor in seinen verwahrlosten , wer erquickt ihn mit Wassern des Lebens in seinen verschmachtenden Brüdern? Wer ist's, die, wenn ihr über die Leerheit und Nichtigkeit alles dessen, was die Welt zu bieten hat, verzweifeln wollt, euch Schätze der Ewigkeit zuträgt, die den Tand der Erde euch leicht vergessen machen? Wer tritt zu euch hin, wenn ihr weinend an den Särgen und Gräbern eurer Lieben steht, und trocknet euch so theilnehmend und mütterlich die Thränen? Wer entbietet sich euch als treue Freundin und Trösterin, wenn die Welt euch einsam eure Straße ziehen läßt? Wer streckt im Dienste der erbarmenden Liebe die Mutterarme selbst weil über Land und Meere aus? Wer geht mit aufopfernder Barmherzigkeit in Wäldern und Wüsten den Söhnen der Wildniß nach, um auch ihnen das Himmelbrod zu brechen? Wer entsagt, um sie zu retten, jedem irdischen Behagen, jedem Vorzug und Reiz der gebildeten Welt? Wer stirbt für sie in den Boten die sie entsendet, und befruchtet den Acker der fernen Heidenwelt mit ihrem Märtyrerblute? Wer ist's, die also sich bethätigt und solche Thaten thut? Die evangelische Kirche ist's! - „Aber die römische nicht minder!“ höre ich sagen. O, wir sind gar nicht gewillt, dies unbedingt zu leugnen; nur wissen wir, daß die evangelische Kirche wie weiland, so auch heute, viele ihrer Kinder noch im römischen Kirchenkleide einhergehen hat; und wie könnte es uns einen Augenblick Wunder nehmen, daß diese auch das Ebenbild ihrer freilich von ihnen selbst noch unerkannten Mutter an sich tragen? Uebrigens stirbt die Kirche Roms als solche im besten Falle nur den Tod einer Heroin für ihre Ehre; den Tod zärtlicher Mutterliebe für ihre Kinder stirbt nur die evangelische. O Heil uns! Das stille Walten der letzteren umgiebt auch uns wieder spürbar und segensreich! Die Kirche brennt vor Verlangen, die Abtrünnigen unter euch dem Bischöfe ihrer Seelen wieder zuzuführen, den Irrenden den einzigen Friedensteig zu zeigen, den Zweifelnden in ihrem Gedanken-Labyrinthe zurecht zu helfen, und den Bekümmerten die Quelle alles Trostes und aller Ermuthigung zu entschleiern. Eure Kinder will sie tränken mit der lauteren Milch des Evangeliums; o sendet sie ihr nur Euren Sterbenden, - meldet nur, wo sie liegen! - begehrt sie tröstendes Geleit zu geben auf ihrer letzten Fahrt. Sie erachtet es für ihre Speise und ihren Trank, Schmerzen zu lindern, Schäden zu heilen, Wunden zu verbinden, und Thränen zu trocknen. Ja sagt, bethätigt sie sich nicht auch in diesem Augenblicke wieder unter uns, die holdselige, und nicht allein das in Austheilung des göttlichen Worts, sondern auch noch in bedeutenderer Weise? Sehet, den heiligen Tisch hat sie auf's neue unter uns bereitet, und vernehmt, wie sie uns so freundlich zuruft: „Kommet her Alle, die ihr durstig seid, und nehmet umsonst, beide, Wein und Milch!“ Immer und überall erscheint und erweist sie sich als Mutter. Helfen, Erretten, Erfreuen und Segnen ist ihre Wonne.
Morgen kehrt ihr Geburtstag wieder. Mögen in unsern Herzenskirchlein dann alle Freudenglocken mit Macht zusammenschlagen! Eine dichte Weihrauchwolke des Danks und des Preises steige aus unsern Hütten zum Herrn empor, und in unserm Innern erklinge Aehnliches, wie Luthers Hochgesang:
„Sie ist mit lieb, die werthe Magd,
Und kann ihr nicht vergessen.
Lob, Ehr' und Zucht von ihr man sagt,
Sie hat mein Herz besessen.
Ich bin ihr hold.
Und wenn ich sollt
Groß Unglück han,
Da liegt nichts an.
Sie will mich des ergötzen
Mit ihrer Lieb' und Treu an mir,
Die sie zu mir will setzen
Und thun all' mein Begier.“ -
Als Angebinde aber für die holdselige Himmelstochter sei an ihrem Jahresfeste von uns Allen auf Gottes Altar das Gelübde niedergelegt, daß wir uns in Glauben und Liebe, in Bekenntniß und Leben bis in den Tod als ihre wahren und treuen Kinder wollen erfinden lassen. Dazu helfe uns Gott in Gnaden! - Amen.