Kähler, Carl Nikolaus - Auslegung der Epistel Pauli an die Kolosser in 36 Betrachtungen - 17. Betrachtung
Was ist Wahrheit? lautet die bekannte Pilatusfrage. Was ist Wahrheit und wo finden wir sie? Sollen wir zu den Weisen dieser Welt gehen, um sie zu finden? Aber wohin gehen denn die Weisen dieser Welt? Suchen sie die Wahrheit nicht in Christo, sondern gehen ihre eigenen Wege, und stellen sich in ihrem Forschen nach Wahrheit neben Christum oder gar über ihn, so ist ihre Weisheit leerer Trug, der, wenn wir uns ihm hingeben, uns täuscht und ins Verderben führt. Was brauchen wir auch zu einer solchen trügerischen Weisheit uns zu wenden? Ist nicht in Christo alles vereinigt, was uns not tut zu uns ferm Seelenheile für diese und für jene Welt? und haben wir nicht, wo wir anders Christen sind, dies Heil in vollem Maße bereits bei ihm gefunden? Lasst uns doch nicht zu den löcherichten Brunnen der Welt gehen, um aus ihnen das zu schöpfen, was wir Gott sei Dank! - bereits in uns tragen oder doch, falls wir's nicht schon in uns trügen, von unserm Herrn und Heilande erlangen können! Das ist es, was der Apostel uns in den folgenden Worten bedeuten will.
Kol. 2. V. 9. 10:“Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig, und ihr seid vollkommen in ihm, welcher ist das Haupt aller Fürstentümer und Obrigkeit.
Christus die alleinige Quelle alles Heils, das ist der Grundgedanke jener Worte, den Paulus so ausführt, dass er hinweist:
- auf die Fülle der Gottheit, die Christo,
- und auf die Fülle des Göttlichen, das uns inwohnt durch Christum.
1.
„Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig.“ Schon einmal hat der Apostel auf die göttliche Würde Christi hingewiesen (Kap. 1,15-20.). Er wiederholt hier, was er dort gesagt. Denn es kommt vor allem darauf an, dass wir uns über die Person Christi nicht täuschen. Steht nicht die Überzeugung bei uns fest, dass in Christo beides, Gott und Mensch, vereinigt ist, lassen wir seine Gottheit aus den Augen und erkennen in ihm nur den Menschen, wenn auch einen noch so vorzüglichen, so ist schon das Fundament unsers Glaubens ein verkehrtes, und das Haus unsers Glaubens, das dann auf Sand gebaut ist, steht in Gefahr, bei dem ersten Wind stoß einer falschen Philosophie über den Haufen geworfen zu werden. Ist es dagegen unsere Überzeugung, dass Gott in Christo war und ist, so folgt von selbst, dass wir die Quelle unsers Heils nirgends sonst zu suchen haben als in ihm. Hört denn, was Paulus von Christo sagt: die ganze Fülle der Gottheit wohnt in ihm leibhaftig. Unter der Fülle einer Sache ist nach hebräischer Art zu reden alles zu verstehen, was zu der Sache gehört und erfordert wird. Was in der Erde ist und was darauf wohnt (Psalm 24, 1.), das ist die Fülle der Erde. Was bedeutet denn die Fülle der Gottheit? Alle Eigenschaften und Vollkommenheiten, alle Ehre und Herrlichkeit, die der Name „Gott“ in sich schließt. Es wird noch hinzugefügt: die ganze“ Fülle. Denn die Gottheit lässt sich nicht teilen, dass etwa dem einen dieser, dem andern jener Teil verliehen würde, dem einen die Liebe, dem andern die Macht, dem dritten die Weisheit; und ob sie geteilt werden könnte, so wäre sie doch in Christo ungeteilt vorhanden. Das bezeugen auch andere Sprüche der heiligen Schrift. Jesaia 9, 6: Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben, welches Herrschaft ist auf seinen Schultern, und er heißt Wunderbar, Rat, Kraft, Held, Ewig-Vater, Friedefürst.“ Joh. 1, 14: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ 1 Timoth. 3, 16: „Kündlich groß ist das Geheimnis, Gott ist offenbart im Fleisch.“ So wissen wir denn nun, was wir an und in Christo haben. Alles, was in Gott ist, das ist auch in ihm, so dass wir in seine Gottheit, wie in einen Brunnen, den Eimer unsers Glaubens senken können, um daraus zu schöpfen, was und wie viel wir wollen. Um aber anzuzeigen, dass die Gottheit ganz anders in Christo wohnt, als in uns, braucht der Apostel das Wort „leibhaftig, das ist, wesentlich“ - die Fülle der Gottheit wohnt in ihm wesentlich. Bemerke den Unterschied zwischen ihm und uns. Auch in den Gläubigen wohnt Gott, und sie sind der göttlichen Natur teilhaftig worden (2 Petri 1, 4.). Aber das ist eine Mitteilung von oben und nicht ein wesentlicher Teil unserer menschlichen Natur. Du bist Mensch und diesen Titel kann dir niemand streitig machen, auch wenn dir jene Gabe von oben fehlt, wie es denn wirklich viele gibt, die der geistlichen Gaben nicht teilhaftig worden sind. Und ob sie ihrer teilhaftig werden, so bleiben sie dennoch Menschen und werden nicht Gott, wie gottverwandt sie auch werden mögen. Bei Christo aber ist die Gottheit nicht eine Gabe und Mitteilung, die er als Mensch etwa bei seiner Taufe oder später empfangen hätte, sondern sie ist der Kern und Mittelpunkt seines ganzen Wesens. Sie ist unzertrennlich von ihm, und ist von Anfang an ihm eigen gewesen, so dass, als er Mensch ward, er diese göttliche Natur mit sich hinübernahm in seine Menschheit. Wie Leib und Seele zusammen der Mensch sind, und dieser aufhörte ein Mensch zu sein, wenn ihm entweder die Seele fehlte oder der Leib, so ist es dem Menschen Jesus ganz wesentlich und lässt sich gar nicht von ihm scheiden, dass er die volle Gottheit in sich trägt. Darum hebt die Gottheit den Menschen Jesus, dem sie inwohnt, weit hinaus über alles, was Mensch auf Erden und was Engel im Himmel heißt. Deshalb müssen wir nun auch die Gottheit als in Christo wohnend, das heißt, in ihm bleibend denken. Das Wort „Wohnen,“ welches der Apostel braucht, weist zurück auf die Herrlichkeit Gottes, die zur Zeit des alten Testaments in einer Wolke über den Flügeln der Cherubim in der Hütte des Stifts, und nachmals im Allerheiligsten des Tempels wohnte (2 Mos. 40, 34. 1 Kön. 8, 11.). Zugleich aber und ganz vornehmlich bedeutet dies Inwohnen eine Dauer, und ist wider diejenigen Irrlehrer gesagt, welche behaupteten, es sei über Christum nur für eine gewisse Zeit, nämlich von seiner Taufe an bis zu seinem Tode, ein Äon oder höherer Geist gekommen und habe ihn dann wieder verlassen. Denen entgegen lehrt Paulus, dass in Christo die göttliche Natur mit der menschlichen ewig und unzertrennlich verbunden sei, daher wir auch lesen (Apg. 1, 11.), dass Christus mit eben dem verklärten Leibe, den er mit sich in den Himmel genommen, einst wiederkommen werde, und auch Phil. 3, 21. wird von seinem verklärten Leibe geredet, dem er unsern nichtigen Leib ähnlich machen will. Wo du demnach die Gottheit Christi hinsetzt, da musst du zugleich seine Menschheit mit hinsetzen, und wo seine Menschheit, da auch seine Gottheit. Sie sind eins geworden und bleiben eins in Ewigkeit. So wisse nun, dass du in diesem Christus die lebendige Quelle hast, daraus alles Heil für dich fließet in Zeit und Ewigkeit. Deshalb sollst du ihn auch über alles und über alle schätzen und liebgewinnen, und nicht zu der verkehrten Weisheit dieser Welt laufen, um bei ihr zu suchen, was du ungleich besser und reichlicher bei deinem Erlöser findest,
2.
und bereits gefunden hast. Denn auch auf die Fülle des Göttlichen, das wir in Christo gewonnen haben, weist uns der Apostel hin, indem er sagt: „Ihr seid vollkommen, seid erfüllt in ihm, welcher ist das Haupt aller Fürstentümer und Obrigkeit.“
Von Natur sind alle Menschen unreine Gefäße, angefüllt mit Ungerechtigkeit. Wenn aber die Seele errettet wird von der Obrigkeit der Finsternis, und versetzt in das Reich des Sohnes der Liebe, so wird sie gereinigt durch den Glauben, und ein heiliges Gefäß, welches Gott anfüllt mit göttlichem Sinn und Leben. Zwar wird sie nicht mit derselben Fülle der Gottheit erfüllt, wie der Heiland, so wenig wie ein See den großen Ozean in sich fasst; aber doch nimmt sie aus der Fülle Christi Gnade um Gnade (1 Joh. 1, 16.). Alles was ihr not tut zu ihrer Rechtfertigung und Heiligung, das wird ihr zu Teil; die Gaben der Heiligung aber sind Erkenntnis des Willens Gottes (Kor. 1, 9.), Liebe Gottes (Röm, 5, 5.), Früchte der Gerechtigkeit (Phil. 1, 11.), Freude und Friede (Röm. 15, 13.), allerlei Gottesfülle (Eph. 3, 19.). Es mangelt dem Frommen nicht an irgend einem Gut. Doch bleibt bei aller Fülle das Stückwerk, wenn aber das Stückwerk aufhören wird, so wird kommen das Vollkommene (1 Kor. 13.). Woher nun diese uns inwohnende Fülle? Paulus sagt, wir haben sie „in ihm,“ in der Gemeinschaft mit Christo, in welchem alle Fülle wohnt und der alles in allem erfüllt. Je inniger diese Gemeinschaft, desto größer die Fülle in uns. So gesegnet, können die Heiligen zu der Welt sagen, was Jakob zu Esau sagte: „Ich habe genug, behalte, was du hast.“ Sie brauchen sich auch nicht zu einer falschen Philosophie zu wenden, noch selbst zu den Engeln ihre Zuflucht zu nehmen, wie die Irrlehrer zu Kolossä taten, sondern haben genug an der Weisheit und Majestät Christi, der nicht nur das Haupt seiner Kirche ist (Eph. 5, 23.), sondern auch das Haupt aller Fürstentümer und Obrigkeit, das heißt, aller, auch der höchsten Ordnungen der Engel, wie auch Petrus sagt (1 Petri 3, 22.): „Welcher ist zur Rechten Gottes in den Himmel gefahren, und sind ihm untertan die Engel, und die Gewaltigen, und die Kräfte.“ Fragt die Schrift, fragt, wenn ihr anders Christen seid, euer Herz und eure innere Erfahrung, ob ihr nicht genug habt an Christo. Ja, wir haben alles in ihm, gelobt sei der Name unsers Herrn Jesu Christi!