Goetz, Christoph Wilhelm - Kurze Betrachtungen über die Leidensgeschichte Jesu - Neunzehnte Betrachtung.
Auf, Seele, nimm des Glaubens Flügel,
Und eile mit nach Golgatha,
Dein Jesus geht zum Todeshügel
Und pflanzet deine Wohlfahrt da,
Er geht für dich zu sterben hin,
Komm, Seele, und begleite ihn.
Ihn drücket schwer die Kreuzesbürde,
Noch schwerer meine Missetat,
Die er, dass ich versöhnet würde,
zu tragen übernommen hat,
Erwache, Seele, werd' erweicht,
Da Jesum deine Last so beugt. Amen.
Text: Joh. 19,16.
Da überantwortete er Jesum, dass er gekreuzigt würde, sie nahmen aber Jesum und führten ihn hin.
Das Todes-Urteil ist gesprochen! Zum Richtplatz wird der Heilige geführt. Neues Leiden erwartet ihn auf diesem Gang. Ohnehin schon bis zur Ohnmacht ermattet, wird ihm auch noch das schwere Kreuz, an welchem er bluten soll, aufgebürdet. Endlich sinkt er erschöpft nieder. Welch ein Jammer-Anblick! Einige Frauen, welche sich unter dem Volkshaufen, der ihn begleitete und an dem grässlichen Schauspiel sich ergötzte, befanden, rührt das Elend des Gerechten. Sie weinen. Da spricht der Herr das ernste Wort zu ihnen: Ihr Töchter von Jerusalem, weint nicht über mich, sondern weint über euch selbst und eure Kinder. Tadelte er mit diesen Worten das Gefühl des Mitleids, das sich dadurch kund gab? O gewiss nicht! Aber eines wollte er damit offenbar sagen: ein größerer Schmerz liegt euch noch näher, o dass ihr diesen beweintet! Und welcher könnte das sein?
Wem soll unser größter Schmerz gelten?
Diese Frage lasst uns ernst erwägen.
Nicht dem Leiden Anderer. Nicht dem Missgeschick, das uns selbst trifft; sondern unserer Verblendung und Sünde soll unser größter Schmerz gelten.
I.
Je zartfühlender, je liebevoller jemand ist, desto stärker sind seine Gefühle, desto empfänglicher ist er für tiefe Eindrücke, desto leichter wird er bewegt, erschüttert und bis zu Tränen gerührt. Sehr nahe geht uns, im Fall diese Beschaffenheit des Gemüts die unsrige ist, das traurige Schicksal Anderer. Wir können keinen, weder unverschuldet noch verschuldet, Leiden, Misshandlungen, Qualen oder gar den Tod erdulden sehen, ohne vom heftigsten Schmerz ergriffen zu werden. Ja es erfüllt schon unser Innerstes mit demselben, wenn wir nur durch andere vernehmen, dass hie oder da ein Mensch einem schweren Geschick, einer unmenschlichen, grausamen Behandlung erliegen musste. Mit aller Stärke regt sich unser Mitgefühl und wir weinen wohl eben so schmerzliche, oder noch schmerzlichere Tränen, als wenn uns selbst tiefbeugende Leiden getroffen hätten. Das sind die Tränen einer edlen Teilnahme, die dem Menschen so wohl anstehen, ihn so menschlich zeigen und vornehmlich daran erinnern, dass er das Bild des Allheiligen an sich trägt, der ja auch nur Erbarmung und Liebe ist. Solche Tränen innigen Mitleids, menschlicher Teilnahme weinten die Frauen, die Jesu zur Schädelstätte nachfolgten. Der Anblick des Heiligen, der jeden seiner Schritte durch Wohltaten und Segnungen, der verschiedensten Art bezeichnet hatte, der so freundlich und mild gegen alle war, von allen nur wollte, was recht und gut ist, dessen Haupt nun eine Dornenkrone verwundet, dessen göttliches Antlitz Blut bedeckt, der, gebeugt unter der Last des Kreuzes, allenthalben die Spuren der ausgesuchtesten Qualen, die ihm widerfuhren, an sich trägt; dieser Jammer-Anblick ergriff jene Frauen. Und doch sagt Jesus: Weint nicht über mich, weint über euch selbst und eure Kinder. Über sich selbst sollten sie weinen? Etwa über ihr eigenes Missgeschick? Der Herr kannte sie vielleicht, wusste von ihrer Dürftigkeit, von mancherlei Bedrückungen, mancher Erdennot;, die sie zu erdulden hatten. Sollten diesem allen ihre Tränen gelten?
II.
Wenn wir aufgeregt sind durch das Elend Anderer, durch die Teilnahme an dem, was sie zu erdulden haben; dann sind wir sehr geneigt, das Trübe, Schmerzliche, was in unserm eignen Leben liegt, aufzusuchen. - Der Schmerz Anderer ruft so natürlich die Erinnerung an eigne trübe Erfahrungen in uns hervor; es stellt sich uns überdies die Möglichkeit dar, ein gleiches Geschick, als das ist, welches wir betrauern, in Zukunft selbst noch ertragen zu müssen, und wir fühlen dann einen Schmerz über uns selbst. Auf manchfache Weise wird fast jeder im Leben zu dem Kampf mit Leiden und Erdennot gerufen; ja es gibt wohl kaum einen, der nicht besonders schmerzliche Erfahrungen zu machen gehabt hätte; einzelne scheinen ohnehin gleichsam bestimmt zu sein, alles Herbe und Bittere vereinigt erdulden zu müssen, und sie werden eben dadurch ein Gegenstand des Mitleids. Wie nun der Schmerz, der diese Teilnahme erzeugt, edel und schön genannt werden kann, so darf der Schmerz über eigene Leiden gerecht genannt werden. Niemand verargt es dem Kranken, der vielleicht seit Jahrzehnten an das Lager gefesselt ist, dass er unter seiner Bürde seufzt. Niemand spottet der Träne, welche der Arme, von Not und Kummer gepeinigt, weint. Keinen befremdet der namenlose Schmerz, der die Menschen am Grab ihrer Geliebten Tränen vergießen heißt. Niemand zürnt über den Jammer des Unglücklichen, der vielleicht in wenig Stunden, durch das Toben der Elemente, die Früchte eines ganzen mühevollen Lebens verlor. Ja es gibt einen gerechten Schmerz über eigenes Unglück, aber unser größter gilt nicht den Übeln, die uns treffen. Gerade das, was die Menschen oft am wenigsten beweinen,
III.
ihre eigne Verblendung und Sünde - das ist das Beweinenswürdigste, dem soll unser größter Schmerz gelten.
Den Frauen, die den Herrn nach der Richtstätte begleiteten, und die, bewegt durch seine Leiden und den Jammeranblick, den er gewährte, weinten - denen rief er zu: Weint nicht über mich, weint über euch selbst und eure Kinder. Euch, das liegt in seinen Worten, euch ist ein größerer Schmerz näher. Von den Übeln, die jetzt zu beweinen sind, ist das das Geringste, dass ich Schmerzen erdulde und blute. Aber dass ihr und euer Volk, in unbegreiflicher Verblendung, mich, der ich kam, euch zu erlösen, zu erretten, der ich kam, euch zeitliches und ewiges Heil zu erwerben, dass ihr mich ausstoßt und damit zugleich euern Frieden und euer Heil, das ist das Beklagenswerteste. Weint über euch und eure Kinder. Weint, dass ihr Kinder geboren, die dem Mörder verzeihen und den Schuldlosen verdammen, die laut verlangen, dass das Blut des Gerechten über sie komme, die durch einen blinden Hass gegen die Wahrheit, das Zeugnis von ihrer Finsternis; von ihrer Feindschaft gegen das Licht, von ihrem Abgefallensein von Gott, von ihrer Verworfenheit an den Tag legen. - Ja dies wird sie und euch zu Grunde richten, denn die Sünde ist der Leute Verderben. Es wird die Zeit kommen, in welcher man sagen wird: Selig sind die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren haben und die Brüste, die nicht gesäugt haben. Dann werden sie anfangen zu sagen, zu den Bergen: Fallt über uns und zu den Hügeln: Deckt uns! - Ja das Beweinenswerteste, das Beklagenswerteste ist die eigene Verblendung und Sünde. Der soll unser größter Schmerz gelten.
Es ist traurig, andere leiden zu sehen, aber bei weitem trauriger durch Torheit und Sünde auch nur einem unserer Brüder Jammer bereitet zu haben. Es ist schmerzlich, Trübes zu erfahren, Übles zu erdulden, aber bei weitem das Schmerzlichste ist, sich selbst, als den Urheber desselben, anklagen zu müssen. Nicht alle Tränen über fremdes Missgeschick sind edel, nicht jeder Schmerz über eignes Leiden ist gerecht. Viele weinen mit den Trauernden und sie hätten Ursache, ihres Herzens Härtigkeit und Lieblosigkeit zu bejammern, da sie weinen, statt zu helfen und Elend zu mindern. Viele weinen trostlos über ihren Verlust und sie sollten ihre Mutlosigkeit, ihre Glaubensleere beweinen, welche sie die Fügung der höchsten Liebe auch im Schmerz zu erkennen hindert.
Ach so oft trauern die Menschen nur über die Folgen ihrer Sünde; statt dass sie ihre Torheit und Verblendung am meisten beseufzten.
Der Verschwender weint über den Verlust seines Guts; dass er von dem Anvertrauten einst keine Rechenschaft ablegen kann und, von irdischer Lust gefesselt, den Himmel verlor, das beklagt er nicht. Der Müßiggänger beseufzt seine Armut; die Vergeudung der Zeit betrauert er nicht. Der, welcher unbezähmten Leidenschaften folgt, beklagt vielleicht das Dahinschwinden seiner Kraft; für die tausendfachen Versündigungen an Gott und an Menschen, deren er sich schuldig machte, hat er keine Tränen. Wie vielfach ertönt in unseren Tagen die Klage über das Missglücken aller Unternehmungen, über den Mangel an Segen und Wohlfahrt im Hause; aber der Mangel an Gottesfurcht, welcher dies alles bewirkt, wird nicht betrauert; Händeringende Väter wollen um der Schande, um des Jammers willen, den ihnen ihre Kinder bereiten, vergehen; aber dass sie die Keime des Ungehorsams, der Eitelkeit und des Stolzes, der Irreligiosität in sie selbst setzten, beweinen sie nicht. Ach, weint über euch selbst, müssen wir allen diesen zurufen, die ihr euer Elend beklagt und doch nicht sehen wollt, dass ihr es selbst verschuldet, dass es die Strafen der Sünden sind!
Es ist dem Menschen angeboren, sich zu entschuldigen und nichts verbrochen haben zu wollen. Selbst der Missetäter möchte gerne den Schein erhalten, dass er nicht das Übelste beabsichtigt. Das, Geliebte, das ist eben unser Nichterkennen, unsere Verblendung, das ist unsere Sünde und die Macht der Finsternis an uns. Das ist das Beweinens, das Beklagenswerteste; dagegen lasst uns kämpfen. Klar muss der Blick werden in unser Inneres. Lernen wollen wir, weinen über uns selbst; dann haben wir den Grund gelegt zu der beseligendsten Freude, die aus wahrer Reue und Erneuerung unseres inwendigen Menschen hervorgeht.
Heiland der Welt, zum Tode Gerüsteter, hilf dass es Tag werde in unserm Herzen! Nimm die Binde weg, die uns zu sehen wehrt! Erkennen hilf uns, was uns hindert, zu dir zu kommen, und mit entschlossenem Mut hilf uns ausstoßen, was neben dir in uns regieren will! - Hilf uns weinen über uns selbst, damit wir uns einst mit dir ewig freuen! Amen!