Göbel, Karl - Der Sterbeseufzer des Erzvaters Jakob.
(Silvesterpredigt).
Wenn der Apostel Paulus sagt: Ich sterbe täglich1), so will er damit nicht bloß ausdrücken, dass er in täglicher Lebensgefahr sei, um das Evangelii willen, sondern auch, dass er in einer fortgesetzten Tötung seines alten Menschen begriffen sei. In letzterer Beziehung sollten wir Alle von uns sagen können: Wir sterben täglich. Aber es weiß leider nicht Jedermann, was es mit der Tötung des alten Menschen und dem täglichen Absterben der Sünde auf sich hat. Am heutigen Tage dagegen können, ja müssen alle Menschen ohne Ausnahme von sich sagen: Ich sterbe jährlich; denn der Jahresschluss ist ein Tag, an welchem uns das stete Absterben und Verwesen unseres äußeren Menschen lebhaft vor die Seele tritt. Der irdische Leib verfällt von Jahr zu Jahr mehr und auch das Seelenleben, obwohl es nicht zum äußeren Menschen als solchem gehört, aber wegen des innigen Zusammenhangs zwischen Leib und Seele mit dem Leibe sich entwickelt und schwindet - auch das Seelenleben, sagen wir, ist dem täglichen Sterben unterworfen. Diesem täglichen und jährlichen Sterben von Leib und Seele geht zur Seite ein beständiges Ersterben der Lebensverhältnisse, man stirbt allmählich auch der Welt ab; sie wird uns nach und nach fremd, sie nimmt mit der Zeit eine Gestalt an, in die wir uns nicht mehr finden können. Endlich, nachdem wir Lebenslang am Sterben gewesen, kommt der Zeitpunkt, wo wir wirklich sterben. Dieser Gedanke soll uns aber weder unmutig noch ängstlich stimmen, und nicht in empfindelnder, weinerlicher Weise von uns aufgefasst werden, sondern im Gegenteil uns stählen und erheben, dass wir stark werden und fest, ja freudig und getrost, weil ja dem Verwesen des äußeren Menschen eine tägliche Erneuerung des inwendigen Menschen zur Seite geht, die, weit entfernt durch Ersteres Schaden zu leiden, vielmehr wesentlich dadurch gefördert wird. Das Weizenkorn kann keine Frucht bringen, es ersterbe denn. Kommt bei einem Menschen, der mit und unter dem täglichen Sterben sich von Tag zu Tag innerlich erneuert hat, endlich das letzte Stündlein, dann leuchtet häufig die innere Herrlichkeit durch die äußere zerfallende Hülle hindurch, wie das Angesicht des Stephanus im Sterben wie eines Engels Angesicht anzusehen war. Dies Durchleuchten der inneren Herrlichkeit beim Sterben ist, bei Gläubigen an Wort und Gebärde bemerkbar. Ein Exempel davon gibt uns unser Text, der uns an das Sterbebett des Erzvaters Jakob führt. Er steht aber 1. Mos. 49,48 und lautet daselbst;
Herr ich warte auf dein Heil!
Die verlesenen Worte des Jakob sind ein Sterbeseufzer, mit dem er die Segenssprüche, die er über seine zwölf Söhne auf seinem Totenbett weissagt, unterbrach. Aber dieser Sterbeseufzer enthält zugleich den Grundton und Wahlspruch seines ganzen Lebens. Es gibt zweierlei Art zu leben, die von der Einen Art warten aufs Heil, die von der Andern tun das nicht; die Einen trachten nach dem, was droben ist, die Andern nach dem, was auf Erden ist. Versündigungen fallen bei beiderlei Art vor, aber mit dem wesentlichen Unterschied, dass bei denen, die aufs Heil warten, die Sünde nicht herrscht, sondern bekämpft wird und im Absterben begriffen ist, während die Andern unter der Herrschaft der Sünde stehen, also ihr ganzes Leben in ohnmächtiger Knechtschaft unter der Sünde zubringen. Es gibt auch zweierlei Arten zu sterben, selbst wenn man selig stirbt. Exempel davon sind der Patriarch Jakob und der Schächer am Kreuz. Darin ist zwar ihr Sterben gleicher Art, dass beide im Glauben, beide selig in Hoffnung sterben; aber während bei dem Einen Leben und Sterben ein Ganzes bilden wie Reise und Ziel, sind sie bei dem Andern entgegengesetzt wie Nord und Süd, wie böse und gut. Was Jakob auf dem Sterbebett aussprach: „ich warte auf dein Heil,“ ist der Grundton seines ganzen langen Lebens gewesen; die Sterbeworte des Schächers am Kreuz, „Herr gedenke an mich, wenn du in deinem Reiche kommst,“2) stehen dagegen mit seinem Wandel und seiner Vergangenheit in dem grellsten Widerspruch; denn er stirbt zwar wie ein Frommer, aber er hat gelebt wie ein Übeltäter und ist nur wie ein Brand aus dem Feuer gerettet.
Weil aber beim Erzvater Jakob Leben und Sterben im Einklang stehen, müssen wir
- einen Blick auf des Erzvaters Leben werfen, ehe wir
- seine Stimmung im Tode betrachten.
#Natürlich heben wir aus Beidem nur diejenigen Momente hervor, die zu einer Silvesterbetrachtung sich eignen.
I.
Jakobs Leben, wie das aller seiner Väter war eine Pilgerschaft, was er selbst ausspricht in der Antwort an den Pharao, der nach seinem Alter gefragt hatte: Die Zeit meiner Wallfahrt ist hundert und dreißig Jahr, wenig und böse ist die Zeit meines Lebens und langt nicht an die Zeit meiner Väter in ihrer Wallfahrt3). Sein Leben nennt er
1) eine Wallfahrt, d. h. eine Pilgerlaufbahn unter dem Leitstern der göttlichen Verheißung. Eine Reise ist zwar das Leben aller Menschen, sie mögen wachen oder schlafen, sitzen oder gehen; die Lebensreise geht unaufhaltsam fort, sie mögen wollen oder nicht, und endlich kommen sie ans Ende, wo sie weggerissen werden aus dem Lande der Lebendigen. Eine Reise ist also unser aller Leben, aber eine Fremdlingschaft, eine Wallfahrt nach der Heimat ist nur das Leben der Patriarchen und ihres geistlichen Samens, der Kinder Gottes. Ein Mensch Gottes ist auf Erden nicht zu Hause, sondern wohnt nur in Hütten, er sucht ein himmlisches Vaterland droben und ist hier unten nur wie ein Gast zur Herberge. Ein Pilger Gottes hat nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist, sondern trachtet nach dem, das droben ist und nicht nach dem, was auf Erden ist. Sein Wandel d. h. sein Bürgerrecht, seine Heimat, ist im Himmel. Jakob war ein Hebräer, d. h. ein Jenseitiger, oder ein Ausländer, der weder in Kanaan, noch in Ägypten, noch überhaupt irgendwo auf Erden heimisch war. Er hatte das Heimweh nach der himmlischen Gottesstadt, deren Schöpfer und Baumeister Gott ist. Das war der rechte Pilgersinn. Während seiner Reise auf Erden findet der pilgernde Jakob aber Stationen zum Himmel. Die erste Station zum Himmel fand Jakob, als er zu Bethel im Traume die Himmelsleiter sah und der Herr zu ihm sprach: Und siehe ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land; denn ich will dich nicht lassen, bis dass ich tue Alles, was ich geredet habe4). Auf solchen Stationen und wenn man auch nur einen Stein zu Häupten hat, schmeckt man die Kräfte der zukünftigen Welt, eine Empfindung die Jakob in den Worten ausspricht: „Gewiss ist der Herr an diesem Ort. Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes denn Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.“ Eine zweite Station zum Himmel fand Jakob auf dem Rückweg aus Mesopotamien nach Kanaan, als er seinen Weg zog und ihm die Engel Gottes begegneten. Und da er sie sah, sprach er: Es sind Gottes Heere; und hieß dieselbige Stätte Mahanaim 5). Eine weitere Ruhestunde in seinem Pilgerlauf feierte Jakob, als ihm die frohe Botschaft wurde, dass sein Sohn Joseph noch lebte, und er sprach: Ich habe genug, dass mein Sohn Joseph noch lebt, ich will hin und ihn sehen, ehe ich sterbe6). Hieraus ist zu entnehmen, dass einem Pilger Gottes keineswegs alle irdische Freude und Erquickung versagt ist, sondern auch im irdischen Leben Feierstunden eintreten, wo Gott abwischt die Tränen von den Augen und das Warten der Gerechten Freude wird. - Jakob tut als Pilger Gottes gewisse Tritte, er ficht nicht in die Luft, er macht keinen Umweg, keine Kreuz- und Querzüge und was als solche erscheint, ist doch in Wirklichkeit nur ein Stück Wallfahrt, denn er wird geleitet von der Verheißung. Alles dient ihm zum Besten, er stößt sich nicht an einen Stein, er kommt sicher nach Mesopotamien, sicher nach Kanaan zurück trotz alles Grimmes des Laban und des Esau, er gelangt sicher nach Gosen, um dort im Frieden sein Haupt niederzulegen. Die Sicherheit kam von dem Licht und der Klarheit her, die ihm der Leitstern der Verheißung bot.
2) Jakob nennt ferner die Zeit seines Lebens wenig und böse. Darin unterscheidet sich Jakobs Leben von dem Leben seiner Väter, dass er böse Zeiten zu erleben hatte. Woher kam das? Fiel sein Leben etwa in schwerere Zeitläufe als das Leben seiner Väter? Das kann man nicht sagen. Woher denn die böse Zeit, die er durchzumachen hatte? Antwort: Jakob hat in seinem Leben viele Fehler gemacht, deren Folgen er zu ertragen hatte und dadurch wurde sein Leben ein leidensvolles. Seinem natürlichen Menschen nach hatte er eine Neigung zur List und Verstellung - und diese böse Anlage verführte ihn, manches Unrecht zu begehen. Er hatte seines Bruders Esau Schwachheit benutzend um den Spottpreis des Linsengerichts die Erstgeburt von ihm erkauft, seinen alten blinden Vater hintergangen, bei Laban wenigstens nicht edel, sondern listig gehandelt, um sich Vermögen zu erwerben und so auf mancherlei Weise dem sündlichen Hang seines alten Menschen nachgegeben. Für diese Vergehungen wurde er von Gott in der Folge hart gezüchtigt und diese Züchtigungen machten die Zeit seines Lebens zu einer bösen. Jakob hatte seinen Vater Isaak hintergangen und zur Vergeltung dafür musste er erleben, dass seine Söhne ihn wieder hintergingen, indem sie zweiundzwanzig Jahre lang gegen ihn in der schändlichen Lüge verharrten, Joseph sei von wilden Tieren gefressen worden. Jakob hatte seinen Bruder Esau erst übervorteilt und dann überlistet und dadurch die Rache seines Bruders in solchem Grad erweckt, dass er mit Zurücklassung all seiner Habe fliehen musste. Er, der Sohn eines Hirtenfürsten, der Erbe der Erstgeburt, der Empfänger des Segens, musste bei Nacht und Nebel ohne andere Habe als seinen Stab fliehen und hatte Nachts nicht einmal ein Reisebündel unterm Kopf, sondern einen bloßen Stein. Zwanzig Jahre musste der Sohn und Erbe fern vom Vaterhause bei habsüchtigen Verwandten als Knecht dienen. So machten die Versündigungen, deren Folgen dem Jakob nicht erspart wurden, seines Lebens Zeit zu einer bösen. Aber der treue Bundesgott hat die Fehler seines im Grunde des Herzens gottesfürchtigen Jakob wieder gut gemacht; der Herr hat seinen Knecht zwar gezüchtigt, aber nicht zu Schanden werden lassen, sondern im Gegenteil ihn, nachdem er ihn geläutert und von seinen Gebrechen geheilt hatte, zu Reichtum und Ansehen gelangen lassen, ja ihn so ehrwürdig gemacht, dass der König Pharao sich von dem alten Erzvater, obwohl derselbe nur als heimatloser Pilgrim in sein Land kam, segnen ließ. Der Herr hatte den Jakob gedemütigt, und dadurch groß gemacht. Gott hatte ihn aus allen Verlegenheiten und Nöten, in die Jakob sich selbst hineingearbeitet hatte, herausgerissen, Er hatte ihn zahlreiche Proben göttlicher Durchhilfe erfahren lassen, ihn gereinigt von allen Schlacken und fertig gemacht zum Sterben. Wie wertgeachtet der früherhin so listige und verschlagene, aber trotz dem im innersten Kern seines Lebens fromme, gedemütigte und gläubige Jakob in den Augen Gottes war, erhellt daraus, dass Gott sich nicht schämt, Jakobs Gott zu heißen, dass er ihn nebst Abraham und Isaak schon vor ihrer Auferstehung unter die Lebendigen zählt, deren Gott Er ist und in Ewigkeit bleiben will.
II.
Lasst uns nun, nachdem wir einen Blick auf das Leben Jakobs geworfen haben, auch zusehen, wie ein Patriarch stirbt, dessen Gott sich nicht schämt, sein Gott zu heißen. Er spricht, sich im Segnen seiner Söhne unterbrechend, seine Stimmung bei herannahendem Tode in den Worten aus: Herr ich warte auf dein Heil. Er stirbt segnend, gesegnet und hoffend.
1) Wenn man den Segen, den der sterbende Jakob über seine zwölf Söhne spricht, näher ins Auge fasst, so weiß man nicht, was man mehr bewundern soll, seine Größe als Erzvater, oder als Prophet, oder als Mensch. Als Vater zeigt Jakob auf dem Sterbebett keine Spur von der Schwäche, von der er im Leben nicht frei war, indem er die Frevel seiner Söhne nicht gestraft hatte, wie sichs gebührte. Was im Leben versäumt war, holte er beim Sterben nach, als er gewaltig und rücksichtslos ihnen ihre Sünden vor Augen stellt und Strafen über sie verhängt. Dem Ruben spricht er das Erstgeburtsrecht ab, Levi bekommt kein Erbteil, und sein wie Simeons Zorn wird verflucht, Benjamin, der Geliebte, wird einem reißenden Wolf verglichen. Als Prophet weissagt der sterbende Jakob Dinge, die in den fernsten, auch für uns noch zukünftigen Zeiten erst ihre Erfüllung finden werden. So z. B. wenn er spricht: Es wird das Zepter von Juda nicht entwendet werden, noch der Meister von seinen Füßen, bis dass es zur Ruhe komme und Gehorsam der Völker7). Diese Weissagung ist bis jetzt nur zum Teil erfüllt, denn zwar ist der Zepter bei Juda, weil der Löwe aus Juda ihn führt; zwar ist der Meister, der Gottheld aus Juda gekommen, zwar sitzt er zur Rechten Gottes des Vaters und ist König über das Haus Jakobs ewiglich; aber zu seiner Ruhe ist das leibliche wie das geistliche Israel bis jetzt noch nicht eingegangen. Dass es aber dereinst sicherlich zur Ruhe eingehen wird, dafür bürgt die Allmacht seines Herrn, dem Alles übergeben ist von seinem Vater, der gesetzt ist über Alles, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden über Gegenwärtiges und Zukünftiges. Das gegenwärtige Heil, soweit es damals erschienen war, besitzend, auf das zukünftige Heil wartend, stirbt Jakob als ein gläubiger Mensch. Jakob glaubt als Mensch an das persönlich ihm geschenkte Heil und hofft und wartet auf den zukünftigen Heiland. Groß stirbt er als Mensch; denn wer so segnen kann, muss
2) selbst gesegnet sein. Segnen zu dürfen ist nicht bloß eine prophetische Gabe, sondern eine priesterliche Machtvollkommenheit, die Gott den begnadigten Menschen verliehen hat. Wer segnen will, der muss selbst mit dem Frieden Gottes, in dessen Namen er segnet, gesegnet sein. Er muss sich mit Gott versöhnt wissen und der gewissen Zuversicht sein, dass Gott Alles vergeben und vergessen hat, was die kindliche Gemeinschaft stören könnte. Wer segnen kann, aus dessen Herz muss alle Unruhe, alle Pein weggenommen sein, jeder Stachel, den die Sunde in die Seele geworfen hatte, muss herausgezogen und jede Wunde geheilt sein.
3) Gleichen Schritt mit dem Glauben geht die Hoffnung bei Jakob. Er stirbt gläubig und hoffend. Ich warte auf dein Heil. Er weiß, dass das Warten des Gerechten Freude werden, dass die Hoffnung derer, die auf den Herrn harren, nicht verloren sein wird. Er kennt Gott als den Gott der Hoffnung. Er wartet im Leben, er wartet im Tod. Er weiß, dass sich nicht gleich nach dem Tod die Verheißung erfüllt, sondern dass noch viel Zeit verstießen und sein Voll viel Trübsal haben wird. Aber so wenig die Strafpredigt über seine Söhne seinen persönlichen Frieden mit Gott stören konnte, eben so wenig kann das Warten auf das zukünftige Heil die Freude über das gegenwärtige Heil stören.
Wenn wir nun von dem Sterben des Jakob eine Anwendung auf uns machen wollen, müssen wir sagen: So gesegnet, so segnend, so hoffend, wie Jakob sein Leben beschloss, sollen wir das alte Jahr beschließen. Wenn wir zurückblicken auf das vergangene Jahr, werden wir uns vieler Fehler, vieler Versäumnisse, vieler Versündigungen anzuklagen haben und es vielleicht schmerzlich empfinden, dass wir unter den Folgen dieses oder jenes Vergehens, dessen wir uns schuldig gemacht haben, leiden und diese Leiden ins neue Jahr mit hinüber nehmen müssen. Aber diese schmerzliche Demütigung soll uns doch den Besitz und Genuss des Heils und Segens nicht stören. Und das um so weniger, als wir nicht bloß mit Jakob sagen können: ich warte auf dein Heil, sondern mit Simeon: meine Augen haben deinen Heiland gesehen. Das Heil, das in Vergebung der Sünden besteht, ist ja in der Zeit des Neuen Testaments viel völliger angeboten und mitgeteilt wie unter dem Alten Bund. Soviel muss jeder, auch wenn er sich noch nicht im vollen Besitz und Genuss des Heils und Friedens weiß, bekennen, dass die heilsame Gnade über ihm waltet; denn wenn der Herr mit ihm gehandelt hätte nach seinen Sünden und ihm vergolten nach nach seiner Missetat, so wäre er verloren und es müsste mit ihm aus sein. Nun ist es aber in Wirklichkeit noch nicht gar aus mit uns, denn die Gnadenfrist währt noch fort und dieser Umstand muss uns Bürgschaft sein, dass wir noch unter dem Schutz und Schirm der Gnade stehen und die Darbietung des Heils fortwährt. Wer aber eine Stufe weiter gekommen ist und seiner Versöhnung mit Gott im Glauben gewiss ist; wer der festen Zuversicht lebt, dass seine Rechnung mit Gott abgeschlossen ist, weil Christus Alles für ihn bezahlt hat, was sollte den auch mitten in der Züchtigung hindern, sich für einen Gesegneten des Herrn zu halten und in völliger Bereitschaft aufs zukünftige Heil zu warten?
Nicht bloß gesegnet, sondern auch segnend sollen wir das alte Jahr beschließen. Zunächst haben wir Gott zu segnen für alle seine geistlichen und leiblichen Wohltaten. Wer mit prüfendem Blick in seine Vergangenheit zurückschaut, wird Ursache haben, für Alles zu danken; vorzugsweise aber für die vergangenen Leiden wegen der friedsamen Frucht der Gerechtigkeit, die sie bringen. Ein alter Jünger Christi hat einmal zu mir gesagt: „jeder Christ soll hebräisch können.“ Damit wollte er, in Beziehung darauf, dass man das hebräische rückwärts liest, soviel sagen, als: Jeder Christ soll in sein Leben rückwärts blickend die Taten des Fingers Gottes bedenken und er wird nicht umhin können, den Herrn dafür zu segnen. Segnend sollen wir uns ferner gegen unsern Nächsten verhalten und alles aus dem Herzen verbannen, was diese segnende Stimmung stören will. Soll doch die Sonne des Tages nicht über unserm Zorn untergehen, wie sollten wir den Kreislauf des Sonnenjahres neu beginnen mit altem Zorn, Hass oder Bitterkeit?! Endlich sollen wir das alte Jahr hoffend beschließen. Wie unendlich reich und nahe ist die uns dargebotene Hoffnung im Vergleich mit dem, was dem Jakob als Gegenstand der Hoffnung dargeboten war. Wie dunkel musste er in die Zukunft hineinschauen, da er noch nicht sprechen konnte: Ich sehne mich abzuscheiden und bei Christo zu sein. Ihm war noch nichts von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, offenbart, und darum musste es ihm ungemein viel schwerer fallen, zu hoffen, dass weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch keine andere Kreatur ihn von der Liebe Gottes scheiden werde. Weil uns das Hoffen so viel leichter gemacht ist als den Erzvätern, darum sagt mit vollstem Recht ein Prediger: „Der Blick lebender und sterbender Christen soll sich nie in finsteren Trübsalen endigen oder verlieren. Sehen wir Gericht, Trübsal, Verderben, Zerrüttung vor uns, so sollen wir nach den Anzeichen des prophetischen Wortes auch noch weiter hinausschauen und auch auf das Heil sehen, welches durch Christum endlich ausgerichtet wird. Wir warten aber nach den Weissagungen der Propheten darauf, dass Er in seinem Reich noch auffallender komme und seinen Namen glänzender verherrliche und am Ende der Tage aller Not der Seinen mit einem Mal ein Ende mache.“ Amen.