Gessner, Georg - Eins ist noth.
Predigt
über Lucas 10, 42.
von
Dr. Georg Gessner,
Antistes in Zürich,
Text: Luc. 10, 42.
„Eins aber ist noth; Maria hat das gute Theil erwählet, das soll nicht von ihr genommen werden.“
In dem Wort unsers Herrn, das wir euch vorlasen, lag wohl allerdings zunächst der Sinn: Es ist ja an Einem genug, warum machst du dir dann mit vielem Sorge? Daß aber Jesus damit zugleich das Nachdenken auf etwas Höheres, Geistiges leiten wollte, sehen wir offenbar aus der Anwendung, die Er davon sogleich auf das Benehmen der lernbegierigen Maria macht: Sie hat den bessern Theil erwählt, eine wichtigere und viel nothwendigere Sorge liegt ihr an; und darum soll ihr auch das, woran sie ihre edlere Freude hat, nicht entzogen werden.
Wie oft haben wir es im Leben Jesu bemerkt, mit welcher Weisheit er seine Antworten gerne so faßte, daß sie das Nachdenken aufregen, und auf Höheres, Geistiges leiten sollten. Martha mußte in dem Worte Jesu unfehlbar die Zurechtweisung finden, die ihre zu weit gehende Sorge für äußere Bewirthung bedurfte.
Aber Maria, die eine so offene Empfänglichkeit für das hatte, was ihr Herr und Lehrer das Nothwendige nannte, muß das Wort gewiß in geistigem Sinne gefaßt haben. Und wie oft wiederklang es wohl auch nachher in ihrem Herzen: Eins ist noth!
Möge es auch in unserm Herzen Anklang finden! daß wir ernst nachdenken, was dieß Eine sei, dann können, müssen wir es einsehen, daß es uns noth sei. Oder ist ihm nicht also? eine Menge von Menschen hat wohl eine oberflächliche Kenntniß davon, aber sie fühlen nicht, daß es wirklich unumgänglich nothwendig sei, und darum ist ihre Sorge dafür nicht eine ernste, und darin liegt auch der Grund, daß sie es nicht erreichen.
Messen wir unsern Ernst, unser Streben auch in den Dingen dieses Lebens; wie ganz anders, wie viel dringender ist es, wenn die Noth uns einleuchtest, wenn sie es uns fühlen läßt, daß Alles dran liegt, alle unsre Kräfte müssen aufgeboten werden, um z. B. einen Schaden, ein Unglück von uns abzuwenden, Rettung zu erringen; oder einen wichtigen Vortheil, ein Gut uns eigen zu machen, wenn es uns unverkennbar ist: „Entweder - oder! Entweder wir dringen durch zur Rettung aus dem Verderben, zum Erringen eines großen Gewinnes, dringen durch zu unserm Heil und unserm Glücke, oder wir verscherzen Glück und Ruhe und Wohlfahrt! O wie anders werden wir ringen, streben und kämpfen, wenn die Noth uns dazu anspornt, als wenn wir nur die allenfalls vernünftige Ueberlegung machen, daß dieses oder jenes wohlgethan sein möchte. Die Noth dringt zur Anstrengung, zum Opfer; wo die kalte Ueberlegung nur dann handelt, wenn uns nicht allenfalls etwas Störendes in den Weg tritt.
Was sagt uns denn das Wort Jesu von einem Nothwendigen?
Er fordert uns auf zum ernsten Nachdenken, was unser Herr als das Eine was noth ist, erklären könne; und treibt uns unaufhaltsam dazu an, dieß Nothwendige zu unserer ersten und letzten Sorge zu machen.
Eins ist noth! und dieses Eine
Mache du uns, Herr, bekannt,
Daß sich Sorg' und Kraft vereine,
Es zu suchen unverwandt.
Das Wort Jesu: Eins ist noth fordert erstens uns auf nachzudenken, was dies Nothwendige sei.
I.
Sehen wir Maria mit unverwandter Aufmerksamkeit auf die Worte Jesu horchen, und hören wir Jesum eben dieses Aufmerken, Nachdenken, Aneignen seines Wortes, als das Höhere, Wichtige, den besten Theil erklären, der nicht wieder entzogen werde, so müssen wir wohl uns kräftig auf das hingezogen fühlen, was Er für uns als das erklärt, das mehr als alles andere noth thut. Es ist das, was wir nur von ihm lernen, nur durch Ihn erhalten können, und das, was dann von uns abhängt, wodurch wir es uns eigen machen.
Das thut vor Allem uns noth, daß wir uns selbst kennen, wer wir sind: daß in uns aufgeregt werde das Bedürfniß nach Licht und Heil. Darum weist unser Herr immer mir so viel Ernst und Milde zur Demuth, zum Erkennen und Fühlen unserer geistigen Gebrechlichkeit - darum preist er die Armen im Geiste selig, als denen er das Reich der Himmel zusichern kann. Aber das eben ist noth, daß in uns die Frage recht lebendig und tief gefühlt sich ausspreche: Was muß ich thun, daß ich selig werde.
Dann wird uns die Antwort: Glaub' an den Herrn Jesum Christum, so, wie dieser Glaube sich als That und Leben beweist. Wer an ihn glaubt, der glaubt an den Vater, der ihn gesandt hat. Wer ihn gesehen, ihn erkannt hat, der hat den Vater gesehen, erkannt, und dieß ist ewiges Leben, das die Menschen den erkennen, der allein wahrer Gott ist, und den, welchen er gesandt hat, Jesum Christum. So bringt es uns, wenn wir, wie Maria uns zu den Füßen Jesu setzen, um ihn zu hören, nicht blos zur Erkenntniß unser selbst, unserer Dürftigkeit und Armuth, sondern auch zur Erkenntniß dessen, der allein uns helfen kann, weil er die Allmacht, und helfen will, weil er die Liebe ist; und dessen, durch den er uns diese Hülfe bereitet hat, wenn wir an ihn glauben; ihm unser Vertrauen, unser Herz und Leben hingeben.
Saget, Geliebte! ob es nicht für uns Alle noth ist: das Eine Nothwendige, was unendlich wichtiger ist, als alles andere, daß wir diese Erkenntniß uns eigen machen, die in all unser Dunkel ein Friedenslicht bringt; diesen Glauben in uns beleben, der uns selig macht? Und wenn diese Erkenntniß in uns klar geworden, dieses Licht des Evangeliums uns erleuchtet hat, wenn dieser Glaube in uns zum Leben durchgedrungen, nicht nur zum Leitstern auf unserm Pfade, sondern zur Wandelskraft auf demselben in uns geworden ist, dann wissen wir, was wir durch den erhalten, der uns von Gott gemacht ist zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung.
Dann spricht sich in uns die Ueberzeugung lebendig aus, und wird wirksam und kräftig, daß wir durch ihn mit dem Vater in eine belebende Verbindung getreten sind, die uns immer mehr herausreißt und rettet aus den Gewinden und Schlingen des Irrthums; die uns Kraft gibt, zu wandeln auf der Bahn der Gerechtigkeit, und die Gerechtigkeit uns eigen macht, die von Gott kommt im Glauben an Jesum Christum. Dann wird diese Verbindung mit Gott uns, wenn gleich nicht auf einmal zur vollendeten Heiligkeit erheben, doch uns Muth und Treue und Kraft geben, nach der Heiligung zu ringen, daß wir laufen und nicht erliegen, daß wir wandeln und nicht müde werden. Dann wird uns die selige Ueberzeugung durchdringen, dulden Paulus frohlockend sagen machte: Wir haben die Erlösung durch Christi Blut; nämlich die Vergebung der Sünden, nach dem Reichthum der Gnade Gottes; ihn drang es auszusprechen: Christus lebt in mir! ich lebe im Glauben an den Sohn Gottes.
Saget, Geliebte, ob es nicht für uns alle noth ist - das Eine Nothwendige, was wichtiger ist als alles andere, daß wir diesen Glauben uns eigen machen; damit wir durch diesen Glauben das Leben haben in seinem Namen.
Aber Erkenntniß und Glauben muß mit uns ins Leben eingehen, darf nicht bloßes Wort und eiteles Gerede, auch nicht ein vorübergehendes Gefühl bleiben, die Erkenntniß muß unsere Leiterin werden auf dem Wege des Lebens; der Glaube, der aus ihr hervorgeht, muß die Kraft werden, die uns stark macht zu wandeln auf dem Lebenswege, auch da, wo er schroff und steil wird, wo es Anstrengung und Opfer fordert, ohne Ermattung ihn fortzuwandeln, wo die schwere Pflicht, alle unsere Sorgfalt und Wachsamkeit, das Zusammennehmen unserer Kraft, die immer scharf ritzenden Dornen unsere beharrliche Ausdauer, und des Lebens verwundene Pfade und dunkele Schluchten, oder die sengenden Gluthen des Leidens und der Trübsal allen unsern Muth, unsere ganze Ergebung in Anspruch nimmt.
Unsere Erkenntniß muß Glaube, unser Glaube muß Liebe, und so alle drei in uns zum wahrhaften Leben werden; so daß wir nicht mehr uns selbst leben, sondern aus tief gefühlter, dankbarer Liebe dem, der uns zuerst geliebet hat. So wird Erkenntniß, Glauben und Liebe zum heiligen Eins. Bezeichnet es mit welchem Namen ihr wollet. Wohl am besten mit dem Namen des christlichen Lebens. Denn worin besteht das christliche Leben? Doch wohl darin, daß unsere Erkenntniß klar, unsere Ueberzeugung von dem, was wir erkannt haben, fest, unser Glaube durch die Liebe thätig sei. Dies verdient erst den Namen des geistigen Lebens; des Lebens in Gott und mit Gott.
Saget, Geliebte! ob es nicht für uns Alle noth, das Eine Nothwendige, unendlich wichtiger sei, als alles andere, daß dieses Leben, das ewig bleibt, in uns Wurzel gefaßt habe?
Das also muß unser Herr sich gedacht haben unter dem Einen was noth ist.
II.
Wenn es wahr ist, daß das Nachdenken, zu dem das Wort Jesu uns aufruft, uns das sagt, was wir berührten, das als das Eine Nothwendige bezeichnet, so laßt uns nun auch fragen, was Jesus damit in uns bewirken wolle. Es kann wohl nichts anderes sein, als daß Er die ernste, treue Sorge für das, was noth ist in uns anregen will.
Wenn wir in bloß irdischen Dingen auf irgend eine Weise zum Gefühl der Noth gekommen sind, wenn wir wissen, das muß nun sein, wenn nicht unser Glück verscherzt, wenn nicht ein großer und wichtiger Gewinn soll verloren werden, dann lassen wir alles andere, was uns sonst auch mit Recht anliegen mag, wir lassen Alles und werfen unsere ganze Sorge auf das, was noth thut. Willst du einem unvermeidlich dir drohenden Unglück und Jammer entgehen, siehst du das Verderben über dich kommen, wie ein Bewaffneter, wirst du dich dann mit Nebendingen abgeben, oder durch irgend etwas das dir auch sonst nicht unwichtig wäre, dich aufhalten lassen, um dein Leben zu retten? Oder wenn ein Glück, ein hoher Gewinn dir vor Augen steht, aber jetzt muß er ergriffen sein, damit er nicht vorübergehe, und nie wiederkehre, wirst du so unweise sein können, um nicht zu erkennen, das ist es nun, was noth thut? Wirst du nicht entschlossen sein: ich will alles bei Seite setzen, alle meine Sorge und Kraft darauf wenden, mir dieß eigen zu machen. Ach, warum sind wir denn gemeiniglich so lau, so gleichgültig, so sorglos für das Eine Nothwendige? Warum lassen wir uns von tausend Sorgen um das Eitele, Vergängliche, Nichtige einnehmen, so einnehmen, daß wir darauf unsere ganze Sorge wenden, und das hingegen vernachläßigen, dafür nicht sorgen, wovon uns doch ein vernünftiges, ruhiges Nachdenken unüberhörbar sagt, das ist das Eine Nothwendige, dem Alles soll aufgeopfert werden.
Diese Thorheit hat wohl ihren Grund darin, daß, wenn wir es auch einsehen, es eingestehen müssen, daß das, wovon wir sprachen, das Eine Nothwendige sei, wenn wir es auch nicht läugnen, keine Einwendung dagegen machen können oder wollen, o wie oft fehlt es uns an dem tiefen durchgreifenden Gefühl, daß es wirklich Noth ist. So sind wir dem Menschen gleich, dem die drohende Gefahr zwar bekannt gemacht wird, er kann nichts dagegen einwenden, aber er will sich immer wieder bereden: nur jetzt noch nicht, aber seine Sehnsucht, seine Anhänglichkeit an das, dem er entfliehen sollte, hat ihn mit ehernen Ketten gebunden, er ist wie jenes Weib Loths, schon auf dem Wege zu seiner Rettung, aber er sieht zurück, und indem er seine Sehnsucht nach dem Verlassenen nährt, erstickt er die Sorge für seine Rettung, und das Verderben überfällt ihn.
O Menschen, so machen wir's unzählige Male, wie klar auch unsere Einsicht sei von dem hohen Werthe dessen, wonach wir streben sollen, wenn es nicht in uns zum dringenden, lebendigen Bedürfniß geworden, so ist unsere Sorge nicht so ernst, so treu, so anhaltend, daß sie dem Verderben zu entrinnen, oder den hohen Gewinn für unsern innern Menschen zu ergreifen vermag.
Sorget für das Eine Nothwendige, so ruft uns der zu, der das Gewissen uns eingegraben hat. Und wenn dieß Gewissen mit aller seiner Kraft in dir sprechen, nicht immer wieder durch tausend Dinge soll beschwichtigt werden, durch die mannichfachen Beredungen, daß die Gefahr, die uns droht, noch nicht so nahe, oder der Gewinn, der uns vorliegt, nicht so groß sei, daß wir uns sollten gedrungen fühlen, alles d'ran zu geben, so genügt es beinahe nie, daß nur seine Stimme sich mit jener Erkenntniß des Einen Notwendigen verbinde, sondern es muß die ganze Last der Noth, der wir entgegen gehen, uns vor dem Auge stehen, und unabweislich unser Gemüth ergreifen. Sieh darum läßt die ewige Weisheit und Liebe die Menschen oft ins heiße, bange Gedränge kommen, damit sie suchen den Erlöser, damit sie wachen und beten, damit ihr Ernst im Kampfe und ihre Ausdauer beharrlich werde. - O wenn Gott dich in solche Lage kommen läßt, wenn dein Gewissen dir mit unwiderstehlicher Gewalt den Jammer zeigt, in den dich die Sünde stürzt, aus dem nur Einer dich erlösen und retten kann, o dann erkenne darin den ernsten Ruf: Sorge, o sorge zu rechter Zeit für das Eine Nothwendige; damit nicht die Nacht, wo du nicht mehr sorgen kannst, mit allen ihren Schrecken dich übereile. Liebe und Treue ist es, heilige Vatertreu, die dich so nicht nur erkennen läßt, was das Eine Nothwendige sei, sondern mit heiliger Gewalt dich dringt, dafür zu sorgen, daß du deinem Verderben entfliehest zu rechter Zeit.
Aber auch das ist heilige Liebe und Vatertreu, wenn dir vielleicht in einzelnen, seligen und heiligen Augenblicken etwas von dem namenlosen Glücke vorschwebt, das dein Herr und Heiland eben darum das Eine nennt, was noth ist, weil es alles, alles unendlich übertrifft, was sonst dir anliegen, dich anziehen und fesseln möchte. Ja Gnade, unendliches Erbarmen ist es, wenn dein Gott dich die Fülle des Reichthums der vergebenden und beseligenden Liebe, die unaussprechliche Wonne des Gedankens fühlen läßt: Selig und erlöst bist du, Gottes Kraft hebt deine Schwäche, du sollst durch den, den der Vater gesandt hat, damit wir durch ihn leben, gehoben werden zum bleibenden ewigen Leben. Werden dir solche Augenblicke, solch ein Vorgeschmack des Himmels, o so erkenne darin den dringenden Ruf deines Gottes: Sorge für das Eine, was noth ist, was dann, wenn sonst alles schwindet, woran du so oft dein Herz hängst, was dann dir nicht nur bleibt, sondern im ewigem Wachsthum immer herrlicher und vollkommener dein Eigenthum werden wird.
O meine Theuren, lassest uns recht ernst, recht aufrichtig uns fragen: Ist die Sorge, die treue beharrliche Sorge für das eine Nothwendige uns recht eigen geworden? Oder lassen wir sie immer und immer wieder gestört werden durch das Streben nach eitlen Dingen, die dennoch nie unser Herz befriedigen, sondern es leer lassen, und am Ende verschwinden, wie der Rauch im Winde? Lassen wir nie die ernste Sorge für das Eine Nothwendige in uns gestört werden durch das Haschen und Streben nach dem, was am Ende gar uns Verderben bringt? Dir und mir dringe das Wort des Herrn jeden Tag tiefer in's innerste Gemüth ein: Eins ist Noth! - Ja, säume nicht, denn Eins ist Noth! Amen!
Quelle: http://glaubensstimme.de/doku.php?id=verzeichnisse:quellen:karlshuld