Gerok, Karl von – Andachten zum Psalter - Psalm 67.
(1) Ein Psalmlied, vorzusingen auf Saitenspielen. (2) Gott sei uns gnädig, und segne uns; er lasse uns sein Antlitz leuchten, Sela. (3) Dass wir auf Erden erkennen seinen Weg, unter allen Heiden sein Heil. (4) Es danken dir, Gott, die Völker; es danken dir alle Völker. (5) Die Völker freuen sich und jauchzen, dass du die Leute recht richtest, und regierst die Leute auf Erden, Sela. (6) Es danken dir, Gott, die Völker; es danken dir alle Völker. (7) Das Land gibt sein Gewächs. Es segne uns Gott, unser Gott. (8) Es segne uns Gott, und alle Welt fürchte ihn.
Es ist ein ehrwürdiger, majestätischer Segen, der nun seit mehr als 3000 Jahren im Namen des lebendigen Gottes ausgesprochen wird über das Volk des Herrn; jener uralte Kirchensegen, den Gott einst durch Mose schon dem Aaron anbefohlen hat: Also sollt ihr sagen zu den Kindern Israel, wenn ihr sie segnet: Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr erhebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden! (4. Mos. 6, 24-26.) Wieviel tausendmal ist dieser Segen schon ausgesprochen worden über einer versammelten Gemeinde; wieviel priesterliche Hände sind dabei erhoben worden und wieviel fromme Stirnen haben sich dabei zur Erde geneigt! Wieviel tausendmal ist er ausgesprochen worden einst von der Stiftshütte her über das Volk Israel, von Aaron, dann im Tempel zu Jerusalem vom Hohenpriester, dann von den Aposteln über die ersten Christengemeinden, dann von christlichen Priestern und Predigern über die versammelte Gemeine bis auf diesen Tag! Wie oft ist das „Herr segne uns“ schon erschollen auch in diesen Kirchenhallen, von jener Kanzel und von diesem Altar! Viele Lippen, die ihn einst ausgeteilt, sind längst verstummt; viele Herzen, die ihn einst empfangen haben, schlagen längst nicht mehr. Aber der Segen selbst ist noch frisch und wirksam und klingt heute noch so kräftig von priesterlichen Lippen und klingt heute noch so tröstlich in gläubige Herzen wie einst vor Jahrtausenden, denn es ist nicht ein menschlicher Segenswunsch, sondern eine göttliche Segensgabe, von Gott selbst seinem Volke zugedacht, von Gott selbst an seinem Volke wahrgemacht von einem Geschlechte zum andern; wen du, Herr, segnest, der ist gesegnet. Darum wie dieser Segen immer wieder über uns ausgesprochen wird im Namen des Herrn, so dürfen auch wir selber diesen Segen vom Herrn immer wieder uns erbitten mit gläubigem Herzen; dürfen für uns und die Unsrigen, für unser Haus, für unsere Gemeinde, für die ganze Christenheit, für die ganze Menschheit den Segen Gottes erflehen im Leiblichen und im Geistlichen. Denn ohne den sind wir nichts und haben wir nichts und können wir nichts. „An Gottes Gnad und reichem Segen ist aller Menschen Tun gelegen;“ so sah ich neulich auf einer steinernen Tafel in einer Weinbergsmauer eingeschrieben; und fürwahr das passt nicht nur für unsere Weinbergsmauern, sondern das dürfte über jeder Haustür, über jeder Werkstatt, über jeder Schulstube und Studierstube, über jedem Arbeitszimmer und jeder Stubentür, ja das dürfte und sollte in jedem Menschenherzen eingeschrieben sein. An Gottes Segen ist alles gelegen. So wollen wir denn auch um Gottes Segen recht fleißig bitten, wollen nie aufstehen des Morgens und uns nie niederlegen des Abends, wollen uns nicht zu Tische sehen und nicht an die Arbeit gehen, ohne den Segen von oben zu erflehen für uns und andere, im Leiblichen und im Geistlichen. Da kommt uns denn unser 67. Psalm freundlich entgegen, und wir wollen von ganzem Herzen darein einstimmen; denn dieser Psalm ist nichts anderes als eine
Bitte um göttlichen Segen;
- im Geistlichen, V. 2-5; - im Leiblichen, V. 6-8.
1) Im Geistlichen, V. 2-5.
V. 2: „Gott sei uns gnädig und segne uns; er lasse uns sein Antlitz leuchten, Sela.“ Da wendet der fromme Sänger sein gläubiges Aug und seine bittenden Hände empor zum Urquell alles Segens. Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, vom Vater des Lichts! Darum „Gott sei uns gnädig und segne uns!“ Und Gnadengabe ist alles, was von oben herab uns Gutes zukommt, denn wir sind deren keines wert, das wir bitten, haben's auch nicht verdient; darum „Gott sei uns gnädig und segne uns!“ Und wie kann er uns besser segnen und himmlischer erquicken, als wenn er sich selbst uns zu erkennen, sich selbst uns zu genießen gibt in seiner Huld und Liebe, in seiner Majestät und Herrlichkeit, wie der Sänger fleht: „Er lasse uns sein Antlitz leuchten! Sela.“
Wie es der größte Schmerz ist für ein frommes Menschenherz, wenn Gott sein Antlitz vor ihm verbirgt, seine Gnadengegenwart ihm entzeucht, wenn es klagen muss mit David (Ps. 13): Warum verbirgst du dein Antlitz vor mir? d. h. warum darf ich deine Liebe nicht mehr schmecken, deine Nähe nicht mehr fühlen, deine Hilfe nicht mehr erfahren wie sonst? - so ist alles Glück und aller Segen für eine fromme Seele darin enthalten, wenn Gott ihr sein Antlitz leuchten lässt, d. h. wenn er seine Vaterliebe und Gotteshuld wie eine helle Frühlingssonne ins Herz hineinscheinen lässt. Wohl können wir Gottes Antlitz und Herrlichkeit nicht schauen mit unserem blöden Menschenauge; er wohnt in einem Lichte, da niemand zukommen kann, und auch die Seraphim und höchsten Himmelsgeister beten vor ihm an mit verhülltem Angesicht, weil sie den vollen Anblick seiner Majestät nicht ertragen können. Aber dennoch lässt der große unnahbare Gott freundlich sein Antlitz uns leuchten, lässt Strahlen seiner Herrlichkeit und Sonnenblicke seiner Freundlichkeit und Leutseligkeit herniederfallen in unsere Erdendämmerung.
Er lässt sein Antlitz uns leuchten schon in der Natur. Wenn nach trüben Wintermonaten die holde Frühlingssonne wieder am blauen Himmel glänzt, dann ist's ein Widerschein von Gottes Huld und Herrlichkeit. Wenn vom nächtlichen Himmelsgewölbe die Sterne herniederfunkeln, dann ist's als blickten Gottes Augen uns an. - Er lässt sein Antlitz uns leuchten in den Führungen unseres Lebens. Wenn nach trüben sorgenvollen Tagen wieder Ruhe und Freude in unserem Hause einkehrt, oder ein plötzliches Glück, eine unerwartete Freude uns widerfährt, dann ist's, als ob Gottes Antlitz uns leuchtete, dann erfüllt er auch an uns die trostreiche Verheißung: Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen; aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser. (Jes. 54,8.)
Und wo er endlich am allerschönsten, am allerdeutlichsten und freundlichsten sein Antlitz uns leuchten lässt, das braucht man einem Christen nicht erst zu sagen: In seinem Sohne Jesu Christo und dessen gnadenreichem Evangelium. Wer mich sieht, der sieht den Vater; so hat der holdselige Menschensohn selber gesprochen. Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit; so bezeugen von ihm seine Apostel, die mit leiblichen Augen in sein holdseliges Antlitz blicken durften. Und heute noch schaut uns aus dem Evangelium dieses holde Heilandsantlitz an, so dass wir jeder bedrängten Seele, die nach Gottes Gnade seufzt und nach Gottes Antlitz verlangt, zurufen dürfen: Komm und siehe; sei getrost, du darfst es schauen, hienieden schon im Geiste schauen; schau nur deinen Heiland an, wie er dir im Evangelium begegnet; schau ihn an, wie er die Kinder segnet und die Sünder aus dem Staube hebt; schau ihn an, wie er dem Sturm gebeut und den Lazarus aus dem Grabe ruft; schau ihn, wie er auf dem Berge predigt und wie Maria zu seinen Füßen sitzt; schau ihn, wie er am Kreuze blutet in der Dornenkrone und wie er im Glanz der Auferstehung unter seine Jünger tritt mit dem Friedensgruß; wer ihn sieht, der sieht den Vater; des Vaters Antlitz leuchtet dich an aus Jesu Mienen; Gottes Allmacht und Majestät, Gottes Weisheit und Heiligkeit, Gottes Liebe und Erbarmung schauen dich an aus diesen Jesusaugen, sprechen dich an aus diesem Jesusmund, winken dir zu mit dieser Jesushand. Ja wer ihn sieht, der sieht den Vater.
Heil uns, des Vaters Ebenbild, der nun im Himmel thronet,
Hat hier auf Erden hehr und mild gewandelt und gewohnt,
Und seine Huld und Herrlichkeit umhüllt ein schlichtes Pilgerkleid.
Und fröhlicher und seliger als die Frommen des alten Bundes dürfen wir nun bitten und flehen: „Gott sei uns gnädig und segne uns; er lasse uns sein Antlitz leuchten.“
V. 3: „Dass wir auf Erden erkennen seinen Weg, unter allen Heiden sein Heil.“ In deinem Lichte schauen wir das Licht, haben wir in einem früheren Psalme gelesen. Das ist der geistliche Segen davon, wenn das Antlitz Gottes uns leuchtet, dass es nun auch in unserem Herzen helle und Licht in unserem Geiste wird, dass wir nun Gottes Wege erkennen auf Erden. Was heißt das, auf Erden erkennen Gottes Wege? Das heißt wohl zuerst die Wege erkennen, die Gott auf Erden geht; die Gerichte Gottes erkennen, dass sie lauter Gerechtigkeit, die Führungen Gottes erkennen, dass sie lauter Liebe sind. Dein Tun ist lauter Segen, dein Gang ist lauter Licht, auch dein Wehtun ist nur Wohltun, auch deine dunklen Wege führen zum Lichte, zum ewigen Lichte. O selig, wer so Gottes Wege auf Erden erkennt! Und durch wen, Geliebte, und in wem können wir besser die Heils- und Liebeswege Gottes erkennen, als in Jesu Christo; der uns seinen eingebornen Sohn geschenkt, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Im Lichte des Evangeliums werden auch unsere Lebenswege uns hell und heiter, dass wir erkennen: Gott, dein Weg ist heilig, und von Herzen sprechen: Was Gott tut, das ist wohlgetan! Auf Erden erkennen Gottes Weg - das heißt aber auch erkennen den Weg, den wir auf Erden gehen sollen, dass wir Gott wohlgefallen. Nicht mehr im Dunklen tappen, nicht mehr in der Finsternis wandeln wie die Heiden, sondern den Pfad kennen, der zum Leben führt; das heißt: auf Erden Gottes Wege erkennen. Wie kann ein Mensch seine Wege unsträflich gehen? Wenn er sich hält, Herr, nach deinem Wort. Und wer hat uns den Weg am deutlichsten gezeigt, der zum Leben führt? Wer anders als abermals der, der der Weg ist und die Wahrheit und das Leben. Der, welcher uns ein Vorbild gelassen hat, dass wir sollen nachfolgen seinen Fußstapfen. Darum, dass wir erkennen auf Erden den Weg Gottes,
Jesu geh voran auf der Lebensbahn,
Und wir wollen nicht verweilen, dir getreulich nachzueilen;
Führ uns an der Hand bis ins Vaterland!
Aber nicht nur uns, sondern auch die führe zum Heil, die jetzt noch ferne sind: „Unter allen Heiden sein Heil!“ Wer vom Heile Gottes schon etwas verschmeckt und von seinem Segen etwas erfahren hat, o der muss ja wünschen, dass alle Welt daran Teil bekomme. Darum bitten wir, so oft wir des Segens in himmlischen Gütern gedenken, den Gott uns durch Christum geschenkt hat, dass sein Licht und Recht je mehr und mehr hinausgehe auch unter die Heiden, damit erfüllt werde die Verheißung beim Propheten Jesaias 2,2: Und geschehen wird es in der letzten Zeit, dass gegründet steht der Berg des Hauses des Herrn als das Haupt der Berge und erhoben über die Hügel und dass zu ihm strömen alle Heiden und hingehen werden viele Völker und sprechen: Wohlan lasst uns gehen zum Berge des Herrn, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen, denn von Zion wird die Lehre ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. Dann wird auch erfüllt sein:
V. 4: „Es danken dir, Gott, die Völker; es danken dir alle Völker.“ Dann wenn alle Welt seines Segens voll ist, dann wird auch alle Welt voll sein von seinem Preise, dann werden alle Knie sich ihm beugen und alle Zungen bekennen: In dem Herrn habe ich Gerechtigkeit und Stärke. Dann wird sein selig Regiment sich ausbreiten über die ganze Erde:
V. 5: „Die Völker freuen sich und jauchzen, dass du die Leute recht richtest und regierst die Leute auf Erden, Sela.“ Ja das wird ein selig Friedensreich sein, wenn alle Völker sich beugen dem Zepter des lebendigen Gottes, wenn sein Gesetz auf der ganzen Erde gilt, dann wird man's auch auf der ganzen Erde erkennen: Wohl dem Volke, des der Herr sein Gott ist. Freilich bis dahin gilt es noch manchen Tag und manches Jahr und manches Jahrhundert wohl zu beten: Herr, dein Reich komme; es komme je mehr und mehr zu uns, deinen Christen, dass wir auf Erden erkennen deinen Weg; es komme je mehr und mehr zu den Heiden, dass auch ihnen dein Antlitz leuchte und sie deines Heiles sich freuen. Doch getrost, wir haben ein festes prophetisches Wort: Du wirst dein herrlich Werk vollenden, Der du der Welten Heil und Richter bist; Du wirst der Menschheit Jammer wenden, So dunkel jetzt dein Weg, o Heil'ger, ist;
Drum hört der Glaub nie auf dir zu flehn,
Du tust doch über Bitten und Verstehn!
Und der das Größere gibt, der kann und wird auch das Kleinere nicht versagen; der seine Menschen segnet mit allerlei geistlichem Segen in himmlischen Gütern, der wird sie auch im Leiblichen nicht darben lassen; auch um diesen leiblichen Segen fleht, auch auf diesen leiblichen Segen hofft der Psalmist, wenn er fortfährt zu bitten:
2) Ums Leibliche, V. 6-8.
V. 6: „Es danken dir, Gott, die Völker; es danken dir alle Völker.“ Hier stimmt der Psalmist noch einmal die Harfe des Dankes an im Namen aller Völker, und den Segen, für den er dankt, nennt er:
V. 7: „Das Land gibt sein Gewächs; es segne uns Gott, unser Gott.“ Es haben zwar etliche Ausleger gemeint, unter diesem Gewächs des Landes sei auch wieder geistlicher Segen gemeint, Früchte der Gerechtigkeit, die da reifen sollen unter den Strahlen der göttlichen Gnadensonne. Aber davon war ja schon im ersten Teil des Psalms die Rede. Und weil doch wir arme Menschen auch die leibliche Notdurft brauchen und weil der himmlische Vater in seiner Liebe seinen Kindern gerne zum geistlichen Segen auch das leibliche Brot spendet, so dürfen wir wohl auch im Leiblichen den Segen des Allmächtigen erflehen für unser armes Volk; dürfen wohl in diesen Tagen des erwünschten Frühlings, wo man so sehnlich von Tag zu Tag auf Laub und Blüten hofft, uns erfreuen an der Verheißung: Das Land gibt sein Gewächs; dürfen wohl im Rückblick auf so manche schwere Jahre des Mangels flehen: Es segne uns Gott, unser Gott; er wolle endlich auch im Leiblichen wieder seinen Segen ausschütten über unsere Fluren und Berge, damit die Welt wieder inne werde: Der alte Gott lebt noch; damit der Kleinglaube und Unglaube beschämt werde und alle Welt ihm danke und alle Welt ihn fürchte. Ja
V. 8: „Es segne uns Gott, und alle Welt fürchte ihn.“ Willst du des Segens Gottes wieder würdig werden, dann, o Welt, fürchte den Herrn! Beuge dich ihm wieder in Demut und Gehorsam, diene ihm wieder in frommer Treue, dann wird auch sein Segen wieder bei dir einkehren und sein Antlitz dir leuchten. Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch das übrige alles zufallen. Hilf uns dazu, treuer Gott; pflanze deine Furcht immer mehr auch in unsere Herzen, damit wir dein Volk werden und du unser Gott seiest:
Darum du Gott der Gnaden, du Vater aller Treu,
Wend allen Seelenschaden und mach uns täglich neu,
Gib dass wir deinen Willen getreulich stets erfüllen,
Und steh uns kräftig bei!
Amen.