Gerok, Karl von - Aus ernster Zeit - 7. Predigt auf den Sonntag nach dem Christfest.
(Gehalten am Neujahr 1871.)
Luk. 1, 49. 50.
Er hat große Dinge an mir getan der mächtig ist, des Name heilig ist. Und seine Barmherzigkeit währt immer für und für bei denen die ihn fürchten.
Ein Jahr liegt hinter uns wie wir noch keines erlebt haben und so ereignisreich und bedeutungsvoll wohl keines mehr erleben werden. Dutzende von Jahren rauschen hin ins Meer der Ewigkeit: sie lassen keine bleibende Spur zurück auf der wandelbaren Erde, unter dem vergesslichen Menschengeschlecht; das Jahr 1870 hat tiefe blutige Fußstapfen unsrem Erdball eingedrückt und seinen Namen mit ehernem Griffel eingegraben in die Tafeln der Geschichte. Dutzende von Jahren sind an uns selbst schon vorübergegangen: wir haben sie vergessen mit ihren kleinen Leiden und Freuden; aber das gestern beschlossene Jahr wird keines von uns vergessen mit seinen weltgeschichtlichen Ereignissen, die so tief hereingreifen in unser eigenes Herz und Leben.
Und noch sind diese Ereignisse nicht abgeschlossen. Ein neues Jahr liegt vor uns mit Aufgaben und mit Entscheidungen, mit Hoffnungen und Erwartungen, wie sie noch selten ein Jahr vom andern als Erbschaft überkommen hat. Ein Riesenkampf ist im Gang zwischen zwei Völkern, der zum Austrag kommen muss im Laufe dieses Jahres. Eine Blutsaat ist ausgestreut, deren kostbare Ernte zu Tage kommen soll, wenn der Schnee dieses Winters zergangen sein wird. Weltgeschicke sind im Lauf, die sich erfüllen müssen, und wenn menschlicher Trotz mit der letzten Kraft der Verzweiflung dem rollenden Rade der Zeit in die Speichen fällt, aufhalten wird ers nicht, es geht über ihn weg und zermalmt ihn. Nicht so wir. Wir schauen rückwärts heut auf das alte Jahr mit dem dankbaren Bekenntnis: Der Herr hat Großes an uns getan. Wir blicken heut vorwärts in das neue Jahr mit dem getrosten Vertrauen: Seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende. So groß die Zeit mit ihren Aufgaben und Sorgen: noch größer ist Gott mit seiner Macht und Gnade. Darum wohl Allen die auf ihn trauen. So meints auch unser in Ehrfurcht geliebter König mit dem schönen Losungswort, das er uns heut auf die Lippen gelegt hat. In vollem Einklang mit seinem Volk ist er bisher hingeschritten durch diese große Zeit. Von dem entschlossenen Marschbefehl an sein Heer in Sommers Mitte als es Deutschlands Verteidigung galt gegen den äußeren Feind, bis zu der hochherzigen Thronrede an seine Stände beim Jahresschluss, womit er des deutschen Reichs innere Einheit seinerseits besiegelte: was er verfügt und getan es hat freudigen Widerhall gefunden im Land, in den Schlössern und Burgen der Fürsten und Ritter wie in Stadt und Dorf bei Bürgern und Bauern. Auch was der König heut uns sagt an heiliger Stätte, es soll kräftig widerhallen in unsern Herzen. „Der Herr hat große Dinge an mir getan der da mächtig ist, des Name heilig ist. Und seine Barmherzigkeit währt immer für und für bei denen die seinen Namen fürchten.“ Das sind Worte aus dem Lobgesang der Maria beim Glückwunsch ihrer Freundin Elisabeth über ihre hohe Bestimmung, die Mutter des Welteilands zu werden. Und nun:
Der Lobgesang der Maria ist heute auch der Lobgesang unsres Vaterlands:
1) beim Rückblick auf das was der Herr bisher an uns getan;
2) beim Hinblick auf das was wir künftig von ihm hoffen.
Tausendmal sei dir gesungen,
Herr, mein Gott, solch Lobgesang,
Weil es mir bisher gelungen;
Ach lass meines Lebens Gang
Ferner noch durch Jesu Leiten.
Nur gehn in die Ewigkeiten;
Da will ich, Herr, für und für
Ewig, ewig danken dir!1)
Amen.
1)
„Meine Seele erhebe den Herrn und mein Geist freut sich Gottes meines Heilandes, denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Er hat große Dinge an mir getan. Er stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhebt die Elenden“. So heißt es in jenem Lobgesang der so unerwartet begnadigten, so wunderbar gesegneten Maria. Und dieser Lobgesang gilt er nicht Satz für Satz und Wort für Wort heut auch von unsrem so lange erniedrigten, noch im letzten Sommer so frech beleidigten und nun von Gott so hoch begnadigten Deutschen Vaterland? Darf nicht auch unser Fürst und Volk mit freudigem Danke heut bekennen: Der Herr hat große Dinge an mir getan?
Zwar so lang man noch mitten in der Entwicklung der Ereignisse steht, kann man ihre ganze Größe und volle Tragweite nicht so überschauen; wie ein großartiges Gebirge erst aus der Ferne seine majestätischen Umrisse recht zeigt. Aber gerade ein Jahreswechsel erhebt uns ja auf einen höheren Standpunkt und gibt uns einen weiteren Umblick. Zwar große Erfolge verlangen auch große Opfer und die großen Opfer, welche die Gegenwart jedem auferlegt, dem Höchstgestellten wie dem Geringsten im Land, sie können uns manchmal das Herz schwer und das Auge trüb machen und können auch einen redlichen Mann hie und da zum Zweifler machen gegenüber den Ereignissen der Zeit. Aber wenn wir dann das Schwere was wir zu tragen haben, wieder vergleichen mit dem viel Schwereren wovor Gottes Gnade uns behütet hat, da drängt sich uns doch immer wieder das dankbare Bekenntnis auf die Lippen: der Herr hat Großes an uns getan! Ja er hat große Dinge an uns getan schon in dem wovor er uns bewahrt hat. O wie traurig ist der heutige Neujahrsmorgen aufgegangen drüben im unglückseligen Frankreich über einer belagerten Hauptstadt, über einem verwüsteten Lande, über einem zertrümmerten Throne, über einem geschlagenen Heere, über einem hungernden Volke. Wie schaudert uns bei dem Gedanken: das Alles hätte auch über uns können verhängt sein. Mindestens dasselbe war uns zugedacht von einem rücksichtslosen Feinde. Und nun - kein feindlicher Fuß hat unsern Boden betreten, es sei denn um in die Gefangenschaft zu gehen. Kein Kanonendonner hat unsere Täler durchschüttert, es sei denn um unsre Siegesfeste zu verkünden. Kein Fuß breit Erde ist unsrem Vaterland entrissen, sondern alter Raub ist ihm zurückerobert. Kein Feuerfunke der Zwietracht, hereingeworfen ins Land, hat gezündet, sondern wo der Feind Hass gesät hatte, ist Liebe aufgegangen, und wo er zu trennen dachte, hat er erst recht zur Vereinigung geholfen. Denn, meine Freunde, nicht nur in dem wovor er uns bewahrt, noch vielmehr in dem was er uns schenkte, hat der Herr Großes an uns getan. Großes nach außen und Großes nach innen. Dieser glorreiche Feldzug gegen das kriegerischste Volk der Erde, eine fünfmonatliche Kette von Siegen ohne eine einzige verlorene Schlacht steht er nicht ohne Beispiel da in der Geschichte? Dieses Neujahrsfest unsrer Heere und Heerführer, gefeiert im Herzen des Feindeslands, unter den Wällen von Paris, in jener königlichen Sommerresidenz, von wo seit 200 Jahren so viel politische Schmach und sittliches Unheil ausgegangen ist über unser Vaterland dies alles wenn es auch auf seinen letzten Abschluss noch wartet, ist es nicht ein Wunder vor unsern Augen, zwingt es uns nicht das Bekenntnis ab: der Herr hat Großes an uns getan?
Und nun nach innen - von was jene ersten Befreiungskriege zu Anfang des Jahrhunderts nicht hatten befreien können, was seither die Schmach Deutschlands, die Quelle seiner Ohnmacht, der Bundesgenosse seiner Feinde, der Schmerz seiner besten Bürger war, die innere Zerspaltung der Nation ist überwunden in Einem begeisterten Aufschwung seiner Fürsten und Völker, und was der Traum unsrer Jugend, das Rätsel für unsre Staatsmänner, der Spott der Klugen war seit Menschengedenken, das deutsche Reich, mächtig nach außen, einig nach innen, wieder auferstanden aus langem Todesschlaf, und wenn auch der Schlussstein noch fehlt, doch in seinen Fundamenten gegründet zu gedeihlichem Weiterbau, ist das nicht abermals ein Wunder vor unsern Augen und zwingt uns das freudige Zeugnis ab: Er hat große Dinge an uns getan der da mächtig ist und des Name heilig ist!
Oder haben das Alles Menschen getan? Wohl sind Menschen dabei Gottes Werkzeuge gewesen und Gottlob, dass es an Menschen nicht gefehlt hat Gottes Gedanken zu verstehen und seinen Willen zu vollstrecken und dass man diesmal nicht mit dem Dichter zu klagen hatte: Aber der große Moment findet ein kleines Geschlecht!
Dank unsern Fürsten für das was sie großherzig geopfert für eine große Sache; die Geschichte wirds ihnen nicht vergessen und ihre Völker werdens ihnen danken durch doppelte Liebe und Treue.
Dank unserem Volk für den freudigen Mut und die ausharrende Geduld, mit welcher es die Lasten trägt, die der Krieg ihm auferlegt, und die Opfer bringt, die das Vaterland von ihm fordert.
Dank unsern Staatsmännern für das schwere und schöne Tagewerk das sie im vorigen Jahre vollbracht haben, so dass was das Schwert gut gemacht, diesmal von den Federn nicht wieder verdorben, sondern erst recht besiegelt worden ist.
Dank unsern Heeren von ihren trefflichen Führern bis herunter zum letzten Mann, für eine Umsicht in der Leitung, eine Tapferkeit im Gefecht, eine Ausdauer in Strapazen, eine Mannszucht im Feld, eine Opferwilligkeit bis in den Tod, die es beweist vor Freund und Feind, was ein Volk in Waffen vermag.
Dank, den heißen Dank des Vaterlands, unsern braven Verwundeten, unsern tapferen Gefallenen, die ihr junges Leben freudig drangesetzt und mutig hingeopfert haben für ihre Lieben daheim, die, nachdem sie den vorigen Jahresmorgen noch hoffnungsvoll mit uns begrüßt, heute ruhen unterm kalten Schnee, im frühen Grab.
Dank unsern Frauen und Jungfrauen, unsern Helfern und Pflegern für jeden Dienst der rettenden Bruderliebe, dadurch sie Balsam träufeln in die Wunden dieser Zeit.
Sie alle haben Großes getan. Aber in dem allem und über dem Allem verehren wir das Walten Dessen, vor dem unser König und sein Volk heute dankbar bekennt: Er hat große Dinge an mir getan der da mächtig ist und des Name heilig ist. Oder ist es nicht recht sichtbar der lebendige Gott, der hereingegriffen hat in die Geschichte unsrer Zeit? Sind es nicht die Ratschlüsse des Allmächtigen, welche wir bewundern in den überraschenden Ereignissen, die am vorigen Neujahrstag der kühnste Dichter sich nicht träumen ließ, der klügste Staatsmann nicht voraussah; so dass einmal Gottes altes prophetisches Wort wieder erfüllt ward (Jer. 17, 7. f.) Plötzlich rede ich wider ein Volk und Königreich, dass ich es ausrotten, zerbrechen und verderben wolle. Und plötzlich rede ich von einem Volk und Königreich, dass ich es bauen und pflanzen wolle? Sind es nicht die Gerichte des Heiligen und Gerechten die wir erkennen müssen im plötzlichen Zusammensturz eines auf Lüge und Gewalttat gebauten Regiments, in der gründlichen Demütigung eines maßlosen Übermuts, so dass wirs wieder bestätigt finden wie in den Tagen eines Pharao und Sanherib: „Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn; er stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhebt die Elenden, die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer.“
Nicht uns, Herr, nicht uns, sondern Deinem Namen die Ehre! Das muss unser Lobgesang bleiben beim Rückblick auf Alles was Gott an uns und durch uns getan hat unser Leben lang und zumal im verflossenen Jahr. Ebendarum lobsingen wir heut unsrem Gott auch
2)
im Hinblick auf das was wir künftig von ihm hoffen, indem wir mit Maria sprechen: „Seine Barmherzigkeit währt immer für und für bei denen die seinen Namen fürchten.“
In Nebel gehüllt liegt heute die Zukunft vor uns. Was wird das Jahr das so ernst beginnt, uns bringen in seinem weiteren Verlauf? Einen Wunsch, Eine Hoffnung, Eine Bitte haben wir Alle fürs neue Jahr: es möchte uns den Frieden bringen: einen rechten Frieden, der wert ist all der blutigen Opfer die fallen mussten und der uns die Bürgschaft gibt einer dauerhaften Ruhe auf lange hinaus. Es möge uns auf ein trübes Weihnachten, auf ein ernstes Neujahr, ein fröhliches Ostern bringen und einen ruhigeren Sommer als der vorige war. Es möge uns unsre Söhne und Brüder wohlbehalten wieder bringen, die noch draußen stehen im kalten Feld, im blutigen Kriege; das ist der erste, gemeinsame Wunsch, in welchem Millionen Herzen heute zusammenstimmen nah und fern. Und wer will sie zählen alle die besonderen Wünsche und Hoffnungen, Sorgen und Schmerzen für Leib und Seele, für Haus und Amt, für sich und Andere, die jedes Einzelne sonst noch mitbringt ins neue Jahr? Wer will Antwort geben auf alle die tausend Fragen die das unruhige Menschenherz an die Zukunft stellt beim Anbruch eines neuen Jahrs?
Die Zukunft ist stumm. Aber Gottes Wort redet. „Seine Barmherzigkeit währt immer für und für bei denen die seinen Namen fürchten. Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf wie er geredet hat unsern Vätern“. Das ist die gemeinsame Antwort auf unsre Fragen und Bitten, das ist der große Neujahrstrost für die ganze Welt. Jahre verrauschen, Throne stürzen, Reiche fallen, Generationen vergehen, aber Gottes Barmherzigkeit währt für und für. Seine Verheißungen leuchten unverrückt wie die Sterne des Himmels herab auf die wandelbare Welt und strahlen Trost und Friede hinein in jedes gläubige Herz heut wie zu Marias Zeit. Wunden bluten und Tränen fließen so lang noch Menschenherzen klopfen auf Erden, und heute mehr als je. Aber Gottes Barmherzigkeit währt für und für. Er wird keine Seele ungetröstet lassen die an ihn sich gläubig hält; er wird der aus tausend Wunden blutenden Menschheit endlich sich erbarmen und zu rechter Zeit zu den Wogen der Trübsal sprechen: Bis hierher und nicht weiter! Jedes Jahr bringt seine Aufgaben, jeder Tag hat seine Plage auch im neuen Jahr. Aber Gottes Barmherzigkeit währt für und für. Der bis hierher geholfen, wird auch ferner helfen; Seine Kraft ist in den Schwachen mächtig; wohl allen die auf ihn trauen. Davon zeugt uns der Name, den uns das jüngste Christfest verkündet hat, den auch das Neujahrsfest als der Namenstag unsres Heilands in Erinnerung bringt, dafür zeugt uns der Name Jesu unsres Seligmachers, der Name Immanuel, das ist: „Gott mit uns!“ Gottes Barmherzigkeit währt für und für „über die so seinen Namen fürchten.“ Lasst uns das zum Schluss nicht überhören, meine Geliebten.
Kein Gottvertrauen ohne Gottesfurcht. Weil wir Gott wieder fürchten gelernt haben in den Stürmen dieser Zeit und in seinem Heiligen Namen in den Kampf gezogen sind, darum ist seine Gnade mit uns gewesen und seine Barmherzigkeit über uns reich geworden bis auf diesen Tag. Und weil sich der Herr uns so kräftig bezeugt hat in seinen gnädigen Heimsuchungen und heiligen Gerichten, darum wollen wir ihn auch künftig von Herzen fürchten und ihm dienen mit neuer Treue. Gottesfurcht selbst zu üben in jedem Stand, Gottesfurcht nach Kräften zu pflegen im ganzen Land, das sei unsre gemeinsame Aufgabe im neuen Jahr. Glücklich das Land, wo Gottesfurcht wohnt auf dem Thron und in der Hütte! Gesegnet das Jahr, wo die Saaten der Gottesfurcht grünen und reife Früchte bringen bei Hoch und Nieder! Selig der Mensch, der Gott fürchtet von ganzem Herzen, der darf nichts sonst fürchten, nicht das Leben mit seinen Stürmen, nicht den Tod mit seinen Ängsten, nicht die Ewigkeit mit ihren Schrecken. Wer Gott fürchtet, der darf auch auf Gott vertrauen, denn der Name des Herrn ist ein festes Schloss; der Gerechte läuft dahin und wird beschirmet. Wohlan denn, in der Furcht des Herrn und in Gottes Namen mutig der Zukunft entgegen! Der Name Gottes und Jesu Christi sei die Krone über unsres Königs Schloss und das Panier über unsrem Vaterland und der Stern über unsern Pilgerwegen;
Unsre Wege wollen wir
Nun in Jesu Namen gehen,
Geht uns dieser Leitstern für,
So wird Alles wohl bestehen
Und durch seinen Gnadenschein
Alles voller Segen sein.2)
Amen.