Gerok, Carl von - Predigt am 2. Advent.
Der große Tag des Herrn
(1848.)
Matth. 25,31-46.
Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle heilige Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit, und werden vor ihm alle Völker versammelt werden. Und er wird sie von einander scheiden, gleich als ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet; und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt. Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt. Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich beherbergt. Ich bin nackend gewesen, und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen, und haben dich gespeist? Oder durstig, und haben dich getränkt? Wann haben wir dich einen Gast gesehen, und beherbergt? Oder nackend und haben dich bekleidet? Wann haben wir dich krank oder gefangen gesehen, und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten, und ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt Einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln. Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränkt. Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt. Ich bin nackend gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet. Ich bin krank und gefangen gewesen, und ihr habt mich nicht besucht. Da werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich gesehen hungrig, oder durstig, oder einen Gast, oder nackend, oder krank, oder gefangen, und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: was ihr nicht getan habt Einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan! Und sie werden in die ewige Pein gehen; aber die Gerechten in das ewige Leben.
Es war ein liebliches Adventsbild, das vor acht Tagen uns dargestellt ward: Christus als ein milder Friedenskönig, sanftmütig und demütig, auf einem Eselsfüllen einreitend zu den Toren von Jerusalem. Ein anderes, ein majestätisches, ein furchtbar prächtiges Adventsbild rollt der Seher Johannes vor uns auf in seiner Offenbarung im 19. Kapitel. Und ich sah den Himmel aufgetan und siehe ein weißes Pferd, und der darauf saß, hieß treu und wahrhaftig und richtet und streitet mit Gerechtigkeit. Seine Augen sind wie eine Feuerflamme, auf seinem Haupte viele Kronen; sein Kleid mit Blut besprengt; sein Gefolge das Heer im Himmel auf weißen Pferden, angetan mit weißer und reiner Seide; aus seinem Munde hervorgehend ein Schwert, dass er damit die Heiden schlüge; sein Name ein König aller Könige und ein Herr aller Herren. Das ist ein Bild aus der letzten Adventszeit des Herrn, wo derselbe König, der dort zu Zion kam sanftmütig und demütig, wiederkommt majestätisch und herrlich als Richter der Welt!
Haben wir des einen Bildes uns erfreut, so dürfen wir auch vom andern uns nicht abwenden. So gewiss der Herr gekommen ist, so gewiss wird Er wieder kommen am Ende der Tage. Zwischen diese beiden Adventszeiten sind wir hineingestellt mit unserem Leben; beide predigen uns, beide rufen uns zu, die eine aus der Vergangenheit herauf, die andere aus der Zukunft herüber: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.
So lasst uns denn heut nicht überhören den Posaunenton des Weltgerichts, der, wenn auch aus weiter, weiter Ferne her, an unser Ohr klingt mitten durchs Geräusch der Gegenwart. Lasst uns heut aus dem bunten Gewühl und Gedränge unserer flüchtigen Erdentage einmal festen Auges hinblicken auf den großen Tag des Herrn. Unser Thema sei:
Der große Tag des Herrn
- mit seiner großen Offenbarung,
- mit seiner großen Rechnung,
- mit seiner großen Scheidung und
- mit seiner großen Entscheidung.
Tief im Staub ring ich die Hände,
Gnädig dich zum Sünder wende,
Herr, gedenke mein am Ende!
Zu den Schafen mich geselle,
Fern den Böden und der Hölle,
Mich zu Deiner Rechten stelle. Amen.
Der große Tag des Herrn sei heute das Thema unserer Betrachtung. Der große Tag des Herrn
1) mit seiner großen Offenbarung.
So viel liebliche und majestätische Offenbarungen der heilige Gott Seiner Welt schon zugedacht hat von der grauen Urzeit an, wo Er mit Noah im Regenbogen und mit Moses im Wetter redete, bis da Er über dem Haupte Seines Eingebornen sprach: Siehe, das ist mein lieber Sohn, den sollt ihr hören! und bis auf den heutigen Tag, wo Er sich uns immer noch offenbart in Seinem Wort und in Seiner Welt, in mächtigen Völkerschicksalen und in verborgenen Menschenführungen noch eine, die größte, gewaltigste Offenbarung Gottes steht der Welt bevor. Das ist die, von welcher der Herr weissagt in unserem Text: „Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in Seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit Ihm, dann wird Er sitzen auf dem Stuhl Seiner Herrlichkeit und werden vor Ihm alle Völker versammelt werden.“ Höre es, o Erde, nimm's zu Ohren, o Welt: des Menschen Sohn wird kommen, wird wieder kommen! Er ist nicht verschollen in der Welt; Er hat nicht Abschied genommen auf ewig von der Erde dort als er vom Ölberg gen Himmel fuhr; Er hat Sein letztes Wort noch nicht gesprochen mit der Welt, Sein letztes Amt noch nicht ausgerichtet an der Menschheit. Die Gläubigen sollen nicht ewig Sein warten, die Ungläubigen sollen nicht ewig Sein spotten; Er wird halten, was Er in Seiner tiefsten Schmach Seinen Feinden ins Antlitz geweissagt: „Ich sage euch von nun an wird es geschehen, dass ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur rechten Hand der Kraft Gottes und kommen in den Wolken des Himmels“ (Matth. 26,64.). „Er wird wiederkommen! Und wird kommen in Seiner Herrlichkeit!“ In der Herrlichkeit, die Ihm gebührt als Dem, welchem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden; in der Herrlichkeit, die Er beim Vater hatte, ehe denn der Welt Grund gelegt war; in der Herrlichkeit, in der Ihn jetzt nur die Engel droben anbeten und die vollendeten Gerechten anschauen: in der wird Er herniederkommen. Bis jetzt hat die Welt von Seiner Herrlichkeit wenig gesehen. Da Er im Fleisch wandelte, trug Er den königlichen Stern Seiner Majestät verhüllt unterm Knechtsgewand, und nur hin und wieder in den Wundern, die Er tat, und die an Ihm geschahen, im Glanze der Christnacht, im Sturm auf dem Meere, am Grabe des Lazarus und auf dem Berge der Verklärung, am Morgen der Auferstehung und am Tage der Himmelfahrt blitzte ein Strahl dieser Herrlichkeit hervor, also dass Seine Jünger sagen konnten: wir sahen Seine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit.
Auch jetzt ist Seine Herrlichkeit verhüllt vor der Welt. Wohl wird sie Seinen Gläubigen im Herzen kund; wenn Er ein stolzes Sünderherz niederschlägt mit Seiner Siegesmacht, dass es aufschreit: ich elender Mensch, wer wird mich erlösen vom Leibe dieses Todes! oder wenn Er eine gläubige Seele erquickt mit dem Vollgefühl Seiner Gnade, dass sie aufjauchzt: Wer ist wohl wie Du, Jesu, süße Ruh? wenn Sein Wort über eine andächtige Gemeinde hinklingt tröstend, erleuchtend, heiligend, stärkend, beseligend, dass hundert Herzen es zugleich fühlen: Ja, Du hast Worte des ewigen Lebens! oder wenn Sein Wort draußen Sieg um Sieg erficht über die Macht der Finsternis an den Grenzen der Heiden, dass immer neue Seelen hinzugetan werden zu Seiner Gemeinde - da offenbart sich auch die Herrlichkeit des Menschensohnes. Aber doch eine innere, verborgene Herrlichkeit, von der die Welt nichts sieht und nichts will. Der Herr der Herrlichkeit ist noch ein für Millionen unbekannter und von Millionen verachteter Mann, Sein Wort ist noch Tausenden ein Ärgernis und eine Torheit, Sein Reich ist noch ein Kreuzreich, und der schlechteste Flittertand der Welt gilt mehr in den Augen der Menge als Er, der Herr der Herrlichkeit mit Seinem ganzen Himmelreich. Das wird anders werden; Er wird kommen in Seiner. Herrlichkeit, wie der Blitz wird sie Allen in die Augen leuchten, dass alle Knie sich Ihm beugen, alle Zungen bekennen müssen, dass Christus der Herr sei, zur Ehre Gottes des Vaters.
„Er wird kommen und Seine heiligen Engel mit Ihm.“ Die himmlischen Geister, die so hoch über uns Menschen stehen und doch vor dem Menschensohne nur Knechte und Vasallen sind; die Ihn verkündigten, ehe Er kam; die Ihm Loblieder gesungen, da Er geboren ward; die Ihm gedient, da Er den Versucher besiegt; jene Legionen, die ihm zu Dienst gestanden hätten in Seiner Leidensnacht, und die damals trauernd ferne bleiben mussten, weil Er leiden und sterben sollte nach dem Willen des himmlischen Vaters; sie, die am Ostermorgen der Welt die Kunde zugerufen: Christus ist auferstanden! sie, die nach der Himmelfahrt den Jüngern verkündet: Er wird wiederkommen, wie ihr Ihn habt gen Himmel fahren sehen! - diese himmlischen Heerscharen, diese leuchtenden Legionen seliger Geister und göttlicher Helden die werden Sein königlich Gefolge und Seine glorreiche Thronwache sein an Seinem großen Tag. „Und dann wird Er sitzen auf dem Stuhl Seiner Herrlichkeit und werden vor Ihm alle Völker der Erde versammelt werden.“ Alle Völker werden gezogen werden vor Seinen Richterstuhl, werden Zeugen Seiner großen Herrlichkeit sein. Jetzt noch ist Seine große Herrlichkeit dem größten Teile der Menschheit unbekannt. Ganze Völker und Menschenalter sind hingestorben, ohne Seinen Namen auch nur zu hören. Noch heute leben und sterben Millionen, denen der Name Jesu nicht gepredigt ist, und wieder andern Millionen wird er gepredigt, aber sie glauben nicht an ihn. Das wird anders werden. Alle sollen Ihn schauen, Alle sollen vor seinen Stuhl gestellt werden. Die Augen, die einst sich nach Ihm sehnten: „ach, dass der Herr aus Zion käme und Sein gefangenes Volk erlöste,“ und haben sich schließen müssen, ohne Ihn zu sehen, und die Augen, welche Ihn hienieden in Knechtsgestalt wandeln sahen und sahen keine Gestalt noch Schöne an Ihm; die Herzen, die hier nichts von Ihm sehen und nichts von Ihm hören wollten in ihrem Trotz und Leichtsinn, und die, welche Ihn nicht sahen und doch lieb hatten. Seine Freunde und Feinde, Seine Verächter und Seine Verehrer, die, welche in Ihn gestochen haben und uns Sein Wort für eine Fabel erklärten, wie die, welche Seine Erscheinung lieb hatten und auf Seinen Tag sich freuten - sie Alle werden vor Seinen Thron gestellt werden, sie Alle werden Seine Herrlichkeit schauen, werden Ihn schauen nicht bloß als den Lehrer von Nazareth, nicht bloß als den Dulder von Golgatha, sondern als den Richter der Welt, als ihren Richter; auch wir, meine Lieben, wir Alle, die wir hier sind, werden ihn schauen, von dem wir so viel gehört, so viel gesprochen, und aus dem wir uns doch vielleicht so wenig gemacht; werden Ihn schauen, der so lang unser Freund, unser Lehrer, unser Führer, unser Tröster sein wollte, werden Ihn schauen als unsern Richter! Wird's uns ein Anblick zur Freude sein oder zum Schrecken? Wird uns Seine Herrlichkeit in die Augen blitzen wie ein verzehrendes Feuer, oder wird sie uns mild ins Antlitz leuchten, wie eine erwünschte, freundliche Sonne? werden wir Ihn empfangen mit einem: Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn, oder mit einem: Ihr Berge, fallet über uns? Das kommt auf uns an. Wohl Allen, die auf Ihn trauen! wohl Allen, die Sein Wort annehmen und Seine Erscheinung lieb haben und Seine Gebote halten und auf Seine Offenbarung warten!
Dann, wann der Richter wie ein Blitz Vom Himmel niederfährt,
Wann aller Sünder Lust und Witz In Heulen sich verkehrt,
Dann kommt Er dir als Morgenstern Mit süßem Gnadenschein;
Dann gehst du mit deinem Herrn zu Seinen Freuden ein.
Aber zuvor kommt die große Rechnung.
Das ist das Zweite, was der große Tag des Herrn mit sich bringt
2) eine große Rechnung.
„Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist usw.“ So wird der Herr einen Jeden auf Seiner heiligen Waage wägen, einen Jeden messen mit Seinem untrüglichen Maßstab, und ihm die Rechnung seines Lebens stellen. Jetzt, meine Lieben, weiß Keiner unter uns, was er vor Gott wert ist. Was die Welt für ein Urteil über uns fällt, was unser eigen Herz über uns urteilt, das gilt noch nicht in der Waage des ewigen Richters. Die Welt ist oft verblendet, unser Herz ist meist bestochen in Seinem Urteil. Aus dem Munde des Herzenskündigers erst werden wir's erfahren, in dem Lichte jenes großen Tages wird's offenbar werden, was an uns ist.
Und wonach wird der Richter fragen? mit welchem Maßstab wird Er messen? Wird unser Geld und Gut in Seiner Waage wiegen? oder wird unser Stand und Amt ins Gewicht fallen? wird Er uns messen nach unseren Kenntnissen und Geschicklichkeiten? oder wird Er nach glänzenden Heldentaten fragen? oder wird's darauf ankommen, wie oft wir zur Kirche gekommen und zum Tisch des Herrn gegangen? oder wie fromm wir haben reden, und wie gottselig wir uns haben gebärden können? Oder werden andächtige Rührungen und gute Vorsätze die Waagschale niederziehen? Von dem Allem ist nicht die Rede im Munde des königlichen Richters, sondern von ganz anderen Dingen. Hungrige speisen, Durstige tränken, Nackende kleiden, Kranke und Gefangene besuchen, das ist's, wonach der Herr den Wert eines Menschenlebens misst. An tätiger Bruderliebe, daran erkennt Er die Seinen. Wo diese Liebe fehlt, da gelten die glänzendsten Gaben nichts; die blendendsten Werke nichts; der ehrbarste Wandel nichts; das frommste Geschwätz nichts; das tiefste Wissen nichts. Wo diese Liebe ist, da wird auch eine kleine Kraft zum Segen, da ist auch eine geringe Gabe kostbar in den Augen des Herrn; da soll auch ein Trunk Wasser, um Seinetwillen gereicht, nicht unvergolten bleiben.
Liebe Christen! nach diesem Maßstab gemessen, nach dem Maßstab der uneigennützigen Bruderliebe - was ist wohl unser Leben wert? Wenn nur das gilt vor dem Herrn, was wir in Liebe gewirkt - o, wie verwerflich muss da so manches kalte, selbstsüchtige Herz, wie unnütz muss da so manches eitle, im Dienst des Eigennutzes verschwendete Leben, wie verächtlich muss da so viel selbstsüchtiges Tun und Treiben, wie eitel muss da so viel Schein- und Maulchristentum erscheinen in Seinen heiligen Augen! Bei wie Manchem unter uns würde da, wenn der Herr heute sein Herz und Leben auf die untrügliche Waage des oberen Heiligtums legte, das Urteil ausfallen, wie dort bei Belsazar: Man hat dich gewogen und zu leicht erfunden! -, lasst uns diese Entdeckung nicht aufsparen auf jenen großen Tag; heute, jetzt wollen wir in uns gehen und uns fragen, für wen hab ich denn bisher gelebt, für mich oder für die Brüder? Was hat mich getrieben bei meinem Tun und Lassen: Eigennutz und Selbstsucht, oder brüderliche Liebe und herzliches Erbarmen? Habe ich meinen Mammon wie meine Geistesgaben angewendet im Dienste der Menschheit, oder nur im Dienste der Eitelkeit, der Genusssucht, meines Ich? Ist wohl auch nur Ein Tag in meinem Leben, der einst für mich zeugen wird am großen Tag des Gerichts durch ein Werk der Liebe, in Gott getan? ist auch nur Eine Seele, an der ich mir einmal ein recht herzliches Vergelt's Gott! verdient, die einmal für mich auftreten wird vor dem Thron des Weltenrichters? Vergesst's nicht, daran wird man erkennen auch am großen Tag des Herrn, dass ihr Christi Jünger seid, so ihr Liebe unter einander habt! Übt eure Bruderliebe, so lang ihr noch könnt; wirkt Gutes, so lange es noch Zeit ist. Ach, es ist ja jetzt Zeit zum Gutestun mehr als je, bei so viel Not, die uns rings umgibt. Vergesset nicht das Wort des Apostels: lasst uns Gutes tun und nicht müde werden, denn seiner Zeit werden wir auch ernten ohne Aufhören. (Gal. 6,9.)
Aber freilich, liebe Christen, diese Liebe, diese herzliche, ungefärbte Bruderliebe muss noch eine tiefere Quelle haben. Was ihr getan habt dem Geringsten unter meinen Brüdern, das habt ihr mir getan, spricht der Richter. „Seine Brüder“ nennt Er unsere Brüder! Nur als Seine Brüder, nur in Ihm, nur um Seinetwillen können wir unsere Brüder recht lieben. Keine rechte Bruder-Liebe ohne Liebe Gottes und Christi; keine wahrhaft gute Tat ohne frommen Sinn; kein christlich Leben ohne christlichen Glauben. Das wird doch keines unter uns wähnen, dass der Herzenskündiger an jenem Tag nur das äußere Werk ansehen werde: den Trunk Wasser, das Schnittlein Brot, den Fetzen Kleid, das Stück Geld, das wir dem Nächsten gereicht, und werde nicht auch nach dem Herzensgrund fragen, aus dem die Gabe geflossen? das wird Keines unter uns glauben, dass der Gesetzgeber des neuen Testaments, der, welcher die Bergpredigt einst gehalten, hier eine eitle Werkheiligkeit predigen wolle, dabei man durch ein paar leichte Liebeswerke, durch ein paar hingeworfene Almosen sich den Himmel erwerben könnte? Nein, wohl wird Er fragen nach solchen Proben unseres Christensinnes, aber die Quelle und Wurzel, daraus solche Proben hervorgehen müssen, das ist und bleibt die herzliche, demütige, kindliche, dankbare Liebe zu Ihm und dem Vater, und nur mit einem solchen Herzen können wir bestehen vor Seinem allsehenden Auge. Darum, liebe Christen, Ihn, unsern Gott und Heiland lasst uns lieben in den Brüdern; lasst uns denken, es ist Sein Gebot: Liebt einander; es sind Seine Kinder, die meiner Liebe empfohlen sind; es ist Seine Liebe, die mich treiben soll, die Liebe, mit der Er mich zuerst geliebt, so unaussprechlich geliebt, die soll ich Ihm vergelten an den Brüdern; dann mögen auch unsere Kräfte schwach und unsere Werke mangelhaft sein, so wird auch über uns der gnädige Richter sprechen: du hast getan, was du konntest, gehe hin im Frieden, und wir werden nicht zu Schanden werden bei der großen Rechenschaft.
Stell uns Herr, die Ernte für, Dass wir gern auf Hoffnung säen;
Was wir tun und tun es Dir, Lässt Du nicht umsonst geschehen:
Hat man kein Verdienst davon, Gibt die Gnade dennoch Lohn.
Denn nach dem Erfund dieser Rechenschaft wird sich dann auch ergeben
3) die große Scheidung.
„Und Er wird sie von einander scheiden, gleich als ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu Seiner Rechten stellen, und die Böcke zur Linken.“
Fürwahr, eine große, eine wichtige Scheidung. Hienieden, Geliebte, ist auch Allerlei, was die Menschen von einander scheidet. Da sind Unterschiede der Zeit und des Orts; liebende Herzen werden getrennt und stellen sich Berg und Tal dazwischen; verwandte Seelen sind durch Jahrhunderte von einander geschieden. Da sind Unterschiede der Sitten und Sprachen; unter wie vielen Völkern, in wie vielen Sprachen wird nur heute das Evangelium verkündet; welcher Abstand zwischen einer Sonntagsgemeinde hier in der alten Christenheit und drüben bei neubekehrten Heiden! Da sind Unterschiede der Bildung und des Geistes; der Gebildete sieht herab auf den Ungebildeten, der Geistreiche dünkt sich hoch zu stehen über den Armen am Geist. Da sind Unterschiede des Standes und Vermögens; Hoch oder Nieder, Reich oder Arm, ein hoher Titel oder ein grober Kittel was macht das für Scheidewände zwischen Mensch und Mensch!
An jenem Tag wird's anders sein! Da fragt man nicht: Reich oder arm? Herr oder gemeiner Mann? schwarze oder weiße Haut? Da gilt nur Eines: gehörst du dem Herrn oder nicht? und nach diesem Maßstab bekommst du deine Stelle. O, meine Lieben, wie gar anders wird da geschieden werden zwischen den Menschen, als jetzt geschieden ist! Wie Mancher wird da herabsteigen müssen, der hienieden hoch steht! wie Mancher wird da zu den Böcken stehen müssen, der hier im Schafskleid geht! wie Manche werden da neben einander kommen, die sich's in diesem Leben nicht geträumt, und wie Manche werden auseinander kommen, die hier neben einander gewandelt! Wie wird sich da oft buchstäblich erfüllen jenes Wort des Herrn: Zwei werden auf dem Felde sein; Einer wird angenommen und der Andere wird verlassen werden. Zwo werden mahlen auf der Mühle, Eine wird angenommen, die Andere wird verlassen werden (Matth. 24,40.41.). Ja, wenn der Herr, der Herzenskündiger, jetzt, in diesem Augenblick hier bei uns, die wir auf diesen Bänken sitzen, die große Scheidung wollte vornehmen, wie würde es da wohl gehen? Wer würde auf die Rechte, wer würde auf die Linke kommen? Nicht wahr, Manches unter euch denkt: nun, ich käme doch hoffentlich auf die Rechte; aber der da drüben oder die da neben mir käme freilich auf die Linke, oder es ist keine Gerechtigkeit mehr im Himmel! Nicht also, meine Lieben, der Herr könnte vielleicht anders scheiden! Nicht Andere, sondern uns selbst zu richten, mahnt uns jene große Scheidung am Tage des Herrn. Fragen wollen wir uns: bin ich wert, einst zu Seiner Rechten zu stehen, oder hab ich nichts voraus vor Andern, als mein größeres Vermögen, meinen höheren Stand, meine schöneren Kleider, mein glatteres Gesicht, meine feineren Manieren? Werd ich einst vielleicht zurückstehen müssen hinter manchem meiner Brüder, den ich jetzt über die Achsel ansehe, wie der reiche Mann den armen Lazarus? Arbeiten wollen wir und ringen, wachen und beten, dass wir einst mögen würdig sein, wenn auch als die Letzten eingereiht zu werden in die selige Schar mit weißen Kleidern, mit Kronen auf dem Haupt, mit Palmen in den Händen, ein bescheidenes Plätzchen zu erhalten dort,
Wo die Patriarchen wohnen, Die Propheten allzumal;
Wo auf ihren Ehrenthronen Sitzet der zwölf Boten Zahl;
Wo in so viel tausend Jahren Alle Frommen hingefahren;
Wo dem Lamm, das uns versöhnt, Ewig Hallelujah tönt!
Ja, ewig Hallelujah; denn der große Tag des Herrn bringt endlich auch
4) eine große Entscheidung mit.
„Da wird dann der König sagen zu denen zu Seiner Rechten: kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt. Dann wird Er auch sagen zu denen zur Linken: geht hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln. Und sie werden in die ewige Pein gehen, die Gerechten aber in das ewige Leben.“
Ewige Pein oder ewiges Leben! Kommt her zu mir, ihr Gesegneten des Herrn, oder: geht hin von mir, ihr Verfluchten! das himmlische Freudenreich oder das höllische Feuer! O, meine Lieben, was ist das für eine Entscheidung! was ist alle Sündenlust, alle verbotene Freude dieser Welt, was sind alle Schätze der ganzen Erde, alle Genüsse des kurzen Erdenlebens gegen die ewige Pein!
Und was sind alle Leiden dieses Lebens, alle Verleugnungen des Christen, alle Entbehrungen des Unglücklichsten auf Erden gegen das himmlische Friedens- und Freudenreich, wo man ewig geborgen ist vor aller Not und allem Leid! O Menschen, diese kurze Zeit führt in die lange Ewigkeit, zu Himmel oder Hölle!
Zu Himmel oder Hölle! Jetzt noch ist die große Entscheidung nicht geschehen. Jetzt noch ist der Weg uns Allen offen zu Himmel oder Hölle. Jetzt noch ist der Tag des Heils, frei die Wahl des besten Teils. Und wenn Eines unter uns bis heute auf verkehrtem Wege gegangen ist, heute noch kann es umkehren, kann seine Seele erretten durch Buße, Glauben und neuen Gehorsam, kann sich noch ein Plätzchen zur Rechten erbeten und erkämpfen. Heute noch dann nicht mehr. Wenn einmal der Tag der Entscheidung kommt, dann ist die Gnadenzeit vorbei, dann ist die Umkehr unmöglich; dann ist's zu spät! Darum, heute entscheidet euch: Himmel oder Hölle? Wer Ohren hat zu hören, der höre!
Du aber, o Herr, bereite uns selbst auf Deinen großen Tag und lehre uns bedenken, was zu unserem Frieden dient. Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz; prüfe und erfahre, wie ich es meine; siehe Du, auf welchem Wege ich bin, und leite mich auf ewigem Wege,
Dass ich, wenn Du, Lebensfürst, Herrlich wieder kommen wirst,
Froh Dir mög entgegenseh'n und gerecht vor Dir besteh'n. Amen.