Frommel, Max - Am Sonntage Reminiscere.

Frommel, Max - Am Sonntage Reminiscere.

Matth. 26, 36-46.

Da kam Jesus mit ihnen zu einem Hof, der hieß Gethsemane, und sprach zu seinen Jüngern: Setzt euch hier, bis dass ich dort hingehe und bete. Und nahm zu sich Petrum und die zwei Söhne Zebedäi und fing an zu trauern und zu zagen. Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis in den Tod; bleibt hier und wacht mit mir. Und ging hin ein wenig, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist es möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst. Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petro: Könnt ihr denn nicht Eine Stunde mit mir wachen? Wacht und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Zum andern Mal ging er wieder hin, betete und sprach: Mein Vater, ist es nicht möglich, dass dieser Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn, so geschehe dein Wille. Und er kam und fand sie abermals schlafend, und ihre Augen waren voll Schlafs. Und er ließ sie und ging abermals hin und betete zum dritten Mal und redete dieselben Worte. Da kam er zu seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr nun schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist hier, dass des Menschen Sohn in der Sünder Hände überantwortet wird. Steht auf, lasst uns gehen; siehe, er ist da, der mich verrät.

Als Salomo den Tempel gebaut, als der Tag der Weihe gekommen, als die Priester die Bundeslade hineintrugen, da füllte eine Wolke das Haus des Herrn, und Salomo sprach: „Der Herr hat geredet, Er wolle im Dunkeln wohnen.“ Es gehört zu den Ehren seiner Majestät und zu den Befugnissen seiner Herrlichkeit, dass Er, der da wohnt in einem Lichte, da Niemand zukommen kann, seine Großtaten tut im Dunkel des Geheimnisses und dass Er seine Ratschlüsse vollzieht und seine Wohnung bei uns aufschlägt in der Wolke um ihn her. Nacht war's, als Gott die Welt schuf, Nacht wird es sein, wenn der Herr wiederkommt zur Vollendung der Welt. Nacht war's, als der Herr die Welt erlöste, als unser Hoherpriester Jesus Christus in das Allerheiligste einging, uns zu versöhnen mit Gott, Nacht in Gethsemane und Nacht um den Mittag auf Golgatha, am Anfang und Ende der großen Passion. Die auswendige Nacht war nur das entsprechende Sinnbild für das Dunkel des Geheimnisses, das hier waltet in dem Größten, was die Weltgeschichte kennt.

Meine Lieben, wenn wir uns heute anschicken, den Herrn nach Gethsemane zu begleiten, wenn wir, nachdem der Vorhang zerrissen, in das Allerheiligste des Erlösungswerkes blicken wollen, so ergeht der Ruf an uns: „Zeuch deine Schuhe aus; denn der Boden, auf dem du stehst, ist heiliges Land.“ Den Prediger aber ergreift jenes Gefühl des Propheten Jesaias, als er den Blick getan in die Herrlichkeit Jehovas: „Wehe mir, ich vergehe; denn ich bin sündiger Lippen.“ Nirgends erscheint alle menschliche Sprache ärmer als gegenüber Dem, was in Gethsemane und auf Golgatha vorgeht, worüber die Himmel mit ihren Engelchören in Lobgesang ausbrechen. Aber wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen predigte und hätte der Liebe nicht, so zu predigen, dass eure Seele dadurch erbaut würde, dass ihr den Schlüssel des Geheimnisses fändet in den Worten: „Für uns, für mich“, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle. Darum wollen wir uns miteinander aufmachen und gehen gen Gethsemane und dort anbeten vor

Dem Geheimnis der Liebe Jesu Christi

und zwar sehen wir

  1. Das Geheimnis seines Zagens,
  2. das Geheimnis seines Betens,
  3. das Geheimnis seiner Kraft.

Christe, Du Lamm Gottes, der Du trägst die Sünde der Welt, erbarme Dich unser. Amen.

I.

Jesus geht aus Jerusalem über den Bach Kidron den Ölberg hinan mit seinen Jüngern. Angelangt am Hofe Gethsemane, lässt er die übrigen Jünger zurück und nimmt mit sich Petrus, Jakobus und Johannes, Petrus, der da gesagt, er wolle ihn nicht verlassen, Jakobus und Johannes, die da begehrt hatten zu sitzen zu seiner Rechten und Linken und die den Leidenskelch mit ihm trinken wollten. Es waren dieselben Jünger, die mit ihm auf Tabor gewesen und seine Verklärung geschaut hatten. sie sollten nun auch Zeugen. sein der tiefsten Erniedrigung.

Plötzlich verändert sich des Herrn Gestalt, es ergreift ihn ein namenloses Grauen wie vor einem Abgrund, es wird Nacht über ihm, sein Leib bebt, sein Herz ringt, er hebt an zu zittern und zu zagen und spricht: „Meine Seele ist betrübt bis in den Tod, bleibt hier und wacht mit mir.“ Vor was bebt der Herr? Ist's die gemeine Todesfurcht, die ihn zittern macht? Aber ist Er denn nicht Der, dem Wind und Meer gehorsam sind und der in den heulenden Sturm hinein gebietet: Schweig und verstumme ward es ganz stille? Siehe, die Dämonen zittern vor Ihm, und der Tod, der König der Schrecken, muss sich vor Ihm beugen und seinen Raub herausgeben auf sein Herrscherwort zu Nain: „Jüngling, ich sage dir, stehe auf.“ Die Geister der Verwesung flohen vor ihm an Lazari Grabe, und eben, als er sich zum Leiden klar und bewusst anschickte, hielt er im Tempel die erschütternden Reden, dass alle Geschlechter der Erde würden versammelt werden vor Ihm, dem Weltenrichter. Hier aber hebt er an zu trauern, zu zittern und zu zagen, denn es lastet auf ihm eine unsichtbare Hand, die ihn in den Staub beugt.

Warum zittert Jesus? Er soll den Tod auf sich nehmen. Was muss das für ein Tod sein, vor dem es Jesus graut! Ist denn nicht Stephanus strahlenden Angesichts in den Tod gegangen, und hat nicht Paulus triumphiert: „Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg?“ Gewiss, aber nur weil er fortfährt in demselben Atemzug: „Gott sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn Jesum Christum.“ Was ist's also mit diesem Tode, der alle sterbende Christen so stark und getrost macht und vor dessen freiwilliger Übernahme des Herrn Seele so tief erschüttert ist? Hier stehen wir vor dem Dunkel des Geheimnisses. Lasst mich versuchen, davon zu stammeln.

Gott hat den Menschen geschaffen als freie Persönlichkeit. Als solcher hat der Mensch gesündigt und die Sünde war seine freie Tat, ein Sturz aus der Gemeinschaft mit Gott, eine Auflehnung gegen seinen Willen, eine Rebellion gegen seine Majestät und Liebe. Gott achtet die Persönlichkeit des Menschen auch da, wo sie sich gegen ihn erhebt, er lässt den Menschen erfahren, was er als Recht an sich gerissen, nämlich sich trennen zu können von Gott; er lässt ihm sein Recht, aber es ist das Recht des Todes, der Sünde Sold, und zwar nicht etwa nur der leibliche Tod als Trennung der Seele vom Leibe, sondern Tod in seinem ganzen Umfang, wie ihn die Schrift versteht, die Trennung des ganzen Menschen nach Leib und Seele von Gott, also die Trennung von Licht und Leben, ein Sinken in Nacht und Verderben. Frei hat der Mensch seinen Gott verlassen Gott antwortet ihm als einem Freien notwendig mit Gottverlassenheit. Hier stehen wir trauernd vor dem Abgrunde, in welchen unser Geschlecht hätte stürzen müssen, wenn es keine Erlösung gäbe. Wahrlich, meine Lieben, es gibt einen Zorn Gottes gegen die Sünde; denn Gott ist ein heiliger Gott. Vor Ihm verhüllt der Seraph sein Antlitz und betet an: „Heilig, heilig, heilig ist Gott, der Herr Zebaoth; alle Lande sind seiner Ehre voll,“ und seine Forderung lautet: „Ihr sollt heilig sein, denn Ich bin heilig.“ Manche Christen mögen das Wort vom Zorne Gottes nicht hören und weisen es ab als alttestamentliche Vorstellung, ja, Manche halten sich für seltsam erleuchtet und für Inhaber einer geläuterten Religion, wenn sie nur vom liebenden Allvater reden, dem eine solche menschliche Schwachheit nicht widerfahren kann. Aber sie kennen weder Gott, noch kennen sie die Tiefe der Sünde, weil sie die Schrift nicht kennen, in welcher doch Christus und die Apostel so klar vom Zorne Gottes über die Sünde reden. Heißt es nicht im Neuen Testament: „Irrt euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten“, und „Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer“? Es tut wahrlich not, diese erschütternde Wahrheit einem leichtfertigen Geschlechte zu predigen, das die Gebote Gottes mit Füßen tritt und dann den lieben Gott zu einem schwachen Vater macht, der schließlich Alle in seinen Himmel aufnimmt. Nein, meine Lieben, Gott ist nicht ein gutmütiger Götze, der die Sünde nicht sieht, nicht hört, nicht hasst, sondern er ist ein heiliger Gott, der sich wider die Sünde erregt und erhebt, weil sie sein Ebenbild im Menschen geschändet und das Werk seiner Liebe zertrümmert und den Menschen so elend gemacht hat. Ja, ich gehe noch weiter und sage: Niemand versteht die tiefste Liebe Gottes, der an seinem Zorne vorübergeht. Denn gerade hier tut sich das unergründliche Meer der göttlichen Liebe vor uns auf in dem Ratschluss unserer Erlösung aus der Gottverlassenheit, gerade hier liegt jenes Geheimnis, in welches auch die Engel gelüstet zu schauen, und die himmlischen Heerscharen vor Gottes Thron kennen keinen höheren Lobgesang als jenes Lied, das am kristallenen Meere braust: „Das Lamm, das erwürgt ist, ist würdig zu nehmen Lob und Ehre und Preis und Macht und Gewalt und Weisheit und Dank.“

Soll die gefallene Menschheit gerettet werden, so muss es zu einer Sühne kommen, zu einer Leistung vor Gott, wodurch der verletzten Majestät genug getan wird und der Anspruch des göttlichen Gesetzes, welcher die Bestrafung des Sünders fordert, befriedigt wird. Es ist ein Unterschied zwischen Strafe und Sühne. Die Strafe vollzieht die Vergeltung an dem Übertreter, gleichviel ob er das Recht der Strafe anerkennt oder gar in seinem Widerspruch beharrt; die Sühne vollzieht die Vergeltung an dem Unschuldigen, welcher aus Liebe das Strafleiden auf sich nimmt und sich dem Gerichte Gottes über die Sünde willig unterstellt, um dadurch die gestörte Gemeinschaft wiederherzustellen und die Versöhnung zu schaffen. Die Strafe muss an dem Frevler vollzogen werden, die Sühne kann nur von einem unschuldigen, freiwilligen Stellvertreter geleistet werden. Aber wer soll die Sühne leisten? Einer aus unserem Geschlecht musste es sein, denn von uns wird die Leistung gefordert und doch ist unser ganzes Geschlecht dem Tode verfallen, weil wir alle gesündigt haben. Da stehen wir denn trauernd vor dem Abgrund und fragen mit den Jüngern: „Ja, wer kann denn selig werden?“ und der Mund der ewigen Wahrheit antwortet: „Bei den Menschen ist es unmöglich.“

Aber Halleluja, es gibt eine Liebe Gottes, und diese Liebe hat das Unmögliche möglich gemacht und eine ewige Erlösung erfunden, sie hat im Überschwang des Erbarmens einen Weg beschlossen, der aus Sünde, Tod und Verdammnis zum Vater führt, und dieser Weg heißt: Christus. „Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selbst.“ Gerade weil Gott fordern muss als der Heilige und wir nicht leisten können als Sünder, weil Er strafen muss als der Gerechte und wir vergehen müssten als die Ungerechten, gerade darum hat Gott seinen Sohn gesandt, dass er an unserer Statt den Zorn trüge und eine Gerechtigkeit schüfe, die vor Gott gilt. Hier gerade liegt das tiefste Geheimnis der Passion und das Geheimnis der höchsten Liebe Gottes. Dazu ist der Sohn Gottes Mensch geworden, dass er als Mensch die Sühne brächte, welche die Heiligkeit Gottes forderte, dass er als Mensch das Wohlgefallen Gottes herstellte, welches den Zorn Gottes stillte, und so die Liebe nach göttlichem Recht triumphieren könnte. Denn indem der Sohn Gottes in die Menschheit eintrat, war er nicht ein einzelner Mensch wie ein anderer, sondern er war eben dadurch das Haupt einer neuen Menschheit geworden, wie einst Adam das Haupt der alten sündigen Menschheit gewesen. Was er lebte und litt, das lebte und litt er als unser Stellvertreter, als unser Haupt. Durch seine Menschwerdung war Christus in die Spannung eingetreten, welche durch die Sünde zwischen Gott und der Menschheit entstanden ist, und diese Spannung sollte und musste ihren Höhepunkt erreichen in dem Leiden und Tod, welcher der Sold für die Sünde der ganzen Menschheit, die Sühne für eine ganze gefallene Welt sein sollte. Darum kann Johannes sagen: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt,“ darum kann Paulus sagen: „Christus ward ein Fluch für uns. Denn Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht.“ Darum kann Petrus sagen: „Es hat gelitten der Gerechte für die Ungerechten.“ Hier liegt die Bitterkeit des Kelchs, welchen er trinken soll, hier liegt das Geheimnis, weshalb Christus in Gethsemane zittert und zagt, hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der ganzen Passion, in den seligen Worten: Für uns, für mich, an unserer Statt. Von hier aus lasst uns nun zu verstehen suchen das Geheimnis seines Betens.

II.

Er fällt nieder und betet: „Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber. Gibt es einen andern Weg nach deinem Ratschluss, die Menschheit zu erlösen, so gehe dieser bittere Kelch an mir vorüber, der Kelch, als der Sünder aller Sünder im Gericht zu stehen. Aber nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe.“ Damit hat er seinen menschlichen Willen in die Einheit des göttlichen Willens geneigt und hat den ersten Sieg errungen. Er steht auf und geht zu seinen Jüngern aber sie schlafen. Nacht war's in ihren Seelen, zertrümmert ihre Pläne, dahin ihre Hoffnung, ihre Augen waren voll Schlafs. Da steht nun Jesus bei ihnen als ihr milder Hoherpriester und liebreicher Seelsorger und ermahnt: „Wacht und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt; der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.“

Und wieder reißt er sich von ihnen, und wieder fällt er auf sein Angesicht er hat keine Antwort empfangen, und das Schweigen des Vaters ist ihm auch eine Antwort: „Nein, es ist nicht möglich.“ Und abermals überfällt ihn namenloses Weh wie ein gewappneter Mann; er weiß nun: der Kelch muss getrunken werden, entweder von uns als Strafe für unsere Sünde, und dann sind wir ewig verloren, oder von Ihm als freiwilliges Opfer, und dann sind wir ewig gerettet. Da fällt sein Blick auf dich und mich, da erglüht seine brünstige Liebe zu unsern Seelen, da schüttet er zum zweiten Mal sein Herz aus und spricht: „Vater, ist's nicht möglich, so geschehe dein Wille.“ Vorhin heißt es: Ist's möglich; jetzt, als habe er aus dem Schweigen das Nein herausgehört, betet er: „Vater, ist es nicht möglich.“ Er hat seinen Willen geopfert, um freiwillig unser Mittler zu werden.

Zum dritten Male tritt der Kampf an ihn heran. Wie der Versucher in der Wüste zu dreien Malen ihm begegnete, so spricht er hier gleichsam zu ihm: „Bist du Gottes Sohn, so weigere dich des Kelches.“ Und es kam, dass er mit dem Tode rang und betete heftiger, und es fiel ihm der Schweiß wie Blutstropfen von der Stirn zur Erde. Welch ein Bild! Siehe den, von welchem die Jünger sagten: „Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ wie er hier im Staube liegt und sich krümmt wie ein Wurm; der, von welchem der Vater sagte: „Das ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe“ er ringt und kämpft und sein Herz will ihm brechen in der Aufopferung seines Willens; sieh den andern Adam, der keine Sünde getan, wie er mit seinem Blutschweiß die Sünde des ersten Adams sühnt, dem zur Strafe gesagt war: 3m Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen. O, hebe deine Augen auf und siehe die Leidensgestalt deines Herrn und Königs und bekenne: „Fürwahr, Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Die Strafe liegt auf Ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“

III.

Dreimal hat er diese Worte gebetet, so recht auch zum Trost und Vorbild für uns, dass, wenn wir in der Angst und Not unserer Seele, in der Verwirrung des Gemüts und Schwachheit des Leibes nicht wissen, wie wir recht beten sollen, wir auch dieselben Worte, das alte Kyrie Eleison, das alte schlichte Vaterunser wiederholen dürfen oder unsere Seele in die Gethsemanesworte legen dürfen: Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe. Nun hat er innerlich überwunden, er hat als Lamm Gottes die Sünde der Welt auf seinen Rücken genommen, er ist aufgestanden und tritt nun zu seinen Jüngern und spricht: „Steht auf, lasst uns von hinnen gehen. Siehe, er ist da, der mich verrät.“

Wo lag denn nun das Geheimnis seiner Kraft zu dieser heiligen Leidensentschlossenheit, in welcher wir ihn nun dahingehen sehen? Es lag in seiner Liebe, in der Liebe zum Vater und in der Liebe zu uns. Er hat aufgeblickt zum Vater und gesprochen: „Ja, Vater, ja von Herzensgrund, leg auf, ich wills gern tragen“; er hat auf dich und mich geblickt und gesagt: „Ich lasse mein Leben für meine Schafe.“ Von dieser Macht der Liebe gilt vor Allem jenes Schriftwort, dass Liebe stärker ist als der Tod und ihr Eifer fester als die Hölle. Christus hat sich selbst für uns geopfert. Opfer aber ist Hingabe an Gott mit Allem, was man ist und hat, Hingabe des Herzens und Willenshingabe der ganzen Persönlichkeit. Opfer ist das Gegenteil der Sünde. Denn die Sünde ist der Ungehorsam gegen Gott und ist Selbstsucht gegenüber dem Nächsten. Opfer ist Gehorsam gegen den Vater und Liebe zu den Brüdern. Das ist das Geheimnis seiner Kraft in Gethsemane, in seinem Zagen und in seinem Beten, dass Jesus in seiner Liebe zum Opfer sich entschließt, zum Trinken des bitteren Kelches aus Gehorsam gegen den Vater und aus Liebe zu uns. Darum wollen wir im Anschauen dieses Opferganges singen und sagen:

Ich bete an die Macht der Liebe,
Die sich in Jesu offenbart;
Ich geb mich hin dem reinen Triebe,
Mit dem ich Wurm geliebt ward.
Ich will, anstatt an mich zu denken,
Ins Meer der Liebe mich versenken.

Meine Lieben, nach Gethsemane sind wir miteinander gegangen, vor dem Allerheiligsten haben wir gestanden, in welches nun der Hohepriester hineingeht mit der Schale seines Bluts. Was wollen wir nun tun? Angesichts des Bildes, das wir gesehen, wollen wir an unsere Brust schlagen und sprechen:

Ich, ich und meine Sünden,
Die sich wie Körnlein finden
Wie Sandes an dem Meer
Die haben dir erreget
Das Elend, das dich schläget,
Und das betrübte Marterheer.

Dann aber wollen wir trauernd über unsere Sünde, die Solches verursacht hat, erschüttert über die Strafe, die wir verdient und die unser Bürge und Stellvertreter auf sich genommen, unsere Hände aufheben und lobsingen über die Liebe Gottes, die in Christo erschienen ist. Denn also, also hat Gott die Welt, hat Gott dich und mich geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn in den Jammer, Fluch und Zorn hinunter gab, auf dass Alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.

Und wenn Stunden kommen, wo um uns die Wogen brausen, hier eine Tiefe und da eine Tiefe, wenn die Wasser der Trübsal über unserm Haupt zusammenschlagen und die Bäche Belials um uns rauschen, wenn unsere Sünden uns verklagen vor dem lebendigen Gott, dann wollen wir nach Gethsemane glaubensvoll blicken und beten: „All' Sünd' hast du getragen, sonst müssten wir verzagen, gib uns deinen Frieden, o Jesu.“ Ja, wir wollen bekennen: Gethsemane ist schöner als Tabor, und das blutbedeckte, bleiche Antlitz des zur Erde gebeugten Jesu ist schöner als es dort leuchtet im Sonnenglanz, und das blutbenetzte Priestergewand in Gethsemane ist köstlicher als die Kleider, weiß wie der Schnee, auf Tabor. Da wollen wir vor ihm knien, und im Glauben an die Sündenvergebung ruhend wollen wir sagen: Hier in Gethsemane und auf Golgatha ist gut sein, hier will ich meine Hütte bauen, solange ich hienieden pilgere.

Und wenn die Stunde kommt, da Leib und Seele sich scheiden, wenn es den letzten Kampf gilt, wollen wir mit brechender Stimme beten:

Wenn mir am allerbängsten
Wird um mein Herze sein,
So reiß mich aus den Ängsten
Kraft deiner Angst und Pein.

Amen.

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