Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 17.
V. 1. Das ist die Last über Damaskus. Hier weissagt der Prophet wider das Königreich Syrien und erwähnt dabei die Hauptstadt desselben. Der Untergang Syriens musste, wie der der früher genannten Reiche, beschrieben werden, damit die Frommen Vertrauen gewännen, Gott werde bei ihnen sein und zuletzt nicht zugeben, dass sie ohne Ende von den Gottlosen bedrängt würden. Die Syrer hatten nämlich mit dem Reich Israel ein Bündnis geschlossen gegen das Reich Juda, wie wir oben im 7. Kapitel sahen. Deren Macht war Juda nicht gewachsen, und da es von andern Hilfsmitteln entblößt war, so konnte es wohl an Gottes Hilfe zweifeln und meinen, er hätte sie völlig betrogen. Um ihnen also solchen Zweifel zu nehmen, verkündigt der Prophet den Untergang jenes Reiches. Daraus war leicht zu erkennen, dass Gott zum Schutze seines Volkes den Krieg führe. Unsicher ist' s, wann Jesaja diese Weissagung gegeben hat. Denn er hält nicht die Zeitfolge inne, wenn er von den Strafen redet, welche verdientermaßen die einzelnen Völker empfangen sollten. Vermutlich hat er jenes vorhergesagt, als die beiden Könige von Israel und Syrien in Juda eingefallen waren und sich verschworen hatten zum Verderben Judas und des ganzen Gottesvolkes. Beide, Israeliten und Syrer, ruft er zu einem gemeinsamen Gericht. Man soll erkennen, wie sie mit ihrem gottlosen, schändlichen Bündnis nur das erreicht haben, dass sie sich vereint in das gleiche Verderben stürzen. So ist es die Aufgabe des Jesaja, die Frommen in Juda zu trösten. Diese hat er vor allem im Auge, dass sie nicht mutlos werden; nicht so sehr denkt er dabei an die Syrer oder an die Bewohner des Reiches Israel, denen er den Untergang ankündigt.
Siehe, Damaskus usw. Das Wörtlein: „Siehe“ soll die Weissagung bekräftigen. Daraus, dass nur die Stadt Damaskus genannt wird, folgt nicht, dass die andern Teile des Reiches von der Heimsuchung ausgenommen werden. Vielmehr findet sich dies ja bei den Propheten häufig, dass sie mit dem Untergang der Hauptstadt das Schicksal des ganzen Landes zusammenfassen. Denn wenn des Landes Hauptbollwerk gefallen ist, was können dann noch die unbedeutenderen Städte hoffen? Freilich hat es auch noch einen anderen Grund, weshalb die Propheten gerade gegen die königlichen Hauptstädte besonders schwere Drohungen ausstoßen und gegen sie vor allem ihre Weissagungen richten. Von dort aus ergießt sich nämlich der schmutzige Strom der Sünde und Freveltaten über das ganze Land.
V. 2. Die Städte Aroer werden verlassen sein. Es ist nicht wahrscheinlich, dass hier unter dem Namen „Aroer“ die Stadt gemeint ist, die anderswo (5. Mos. 2, 36) erwähnt wird. Vielmehr ist es wohl der Name einer Gegend. Der Prophet beschreibt die Verwüstung derselben. Wo ehedem Städte standen, wird Weideland sein. Kein Haus wird übrig bleiben, Hürden ausgenommen und Hütten der Hirten. Wenn noch Einwohner übrig blieben, würden sie anderswo ihr Vieh treiben.
V. 3. Und wird aus sein mit der Feste Ephraims. Der Prophet erklärt, weshalb der Herr das syrische Reich zerstören will. Der Prophet Amos (1, 3) nennt dafür mehrere Gründe. Aber das war der hauptsächlichste, den Jesaja hier anführt: sie hatten das Reich Israel auf ihre Seite gezogen, um Juda zu bekriegen. Ohne Zweifel waren die Bewohner Israels durch die Schmeichelreden der Syrer verführt worden, mit diesen gegen ihre Brüder ein Bündnis einzugehen. Nicht wenig trug zur Verführung das Versprechen bei, die Syrer würden bereit sein, sie gegen alle Feinde zu schützen. Daher setzten auch die Bewohner Israels auf die große Macht derselben ihr Vertrauen. Sie meinten, nun könnten sie jedem Widerstand leisten. Hier wird ganz Israel, wie anderswo häufig, mit dem Namen „Ephraim“ bezeichnet, welches sein bedeutendster Stamm war.
Und das Übrige zu Syrien usw. Beide werden zunichte werden, Syrien sowohl, wie Israel. Um seiner Weissagung mehr Nachdruck zu geben, fügt der Prophet hinzu: „spricht der Herr Zebaoth“ . Dadurch, dass der Herr mit solcher Strenge gegen die beiden Reiche sich wendet, sorgt er ohne Zweifel für seine Gemeinde und rettet sie durch den Untergang der Feinde. Zur Vernichtung beider Völker benutzt er die Hilfe der Assyrer, welche die Bewohner Israels selbst herbeigerufen hatten. Damit hatten die letzteren allerdings schwer gesündigt. Doch trotzdem konnte das Ärgernis, das sie damit gaben, den Herrn nicht hindern, für seine Gemeinde zu sorgen und sie dadurch zu befreien, dass er feindlich Gesinnte miteinander verband. Daraus erkennen wir, wie groß Gottes Sorge um uns ist. Nicht die mächtigsten Reiche schont er, um uns zu bewahren. Auch das ist zu beachten: Mögen alle Gottlosen einen Bund schließen und sich vereinigen, um uns zu verderben, der Herr wird uns mit Leichtigkeit aus ihrem Rachen reißen. Ferner ist es uns nützlich, irdischer Stützen beraubt zu werden, auf die wir törichterweise anstatt auf Gott unser Vertrauen setzen. Denn wenn wir uns durch unser Glück blenden lassen, dann haben wir an uns selbst Gefallen und können Gottes Stimme nicht hören. Solche Hindernisse müssen also weggeschafft werden, damit wir unsere ganze Blöße erkennen. So erging es ja den Israeliten, als sie nach der Verwüstung Syriens ihres Schutzes beraubt waren.
V. 4. In der Zeit wird die Herrlichkeit Jakobs dünn sein. Obschon der Prophet in Aussicht gestellt hat, nur über Syrien und Damaskus zu reden, so fasst er doch gelegentlich die Bewohner Israels mit den Syrern zusammen. Sie waren ja durch ein Bündnis miteinander vereinigt und durch die gleiche Schuld verbunden. Die Syrer, die Jesaja zumeist anredet, waren wie eine Fackel gewesen, welche die Israeliten entzündet hatte. Die letzteren aber, wenn sie auch verführt waren, standen doch in der gleichen Schuld. So wurden sie auch mit Recht in dieselben Strafgerichte hineingezogen. Es ist ungewiss, ob der Prophet mit dem Namen „Jakob“ das ganze auserwählte Volk meint, also auch den Stamm Juda mit einschließt. Wahrscheinlich ist aber nur an die zehn Stämme zu denken, welche sich den Geschlechtsnamen „Jakob“ anmaßten. Sie wurden jedoch mit ihrem Prahlen zu Spott, weil sie auf ihre Macht, ihre Zahl und ihre Bündnisse pochten und ihre Brüder im Reiche Juda verachteten. Dass ihnen mit Dünnheit und Magerkeit gedroht wird, hat den Zweck, ihren Übermut zu kennzeichnen, wie ja öfter die Propheten ihre Fettigkeit verspotten. Durch ihr Glück und durch die Fruchtbarkeit ihres Landes wurden sie übermütig, wie fette und allzu gut gefütterte Pferde unbändig zu werden pflegen, weshalb sie auch beim Propheten Amos (4, 1) fette Kühe genannt werden. Wie frech und schamlos sie auch waren, Gott droht ihnen, er werde ihre aufgeblasene Fettigkeit wegnehmen.
V. 5. Denn sie wird sein usw. Mit einem Bilde schildert der Prophet die Größe der Verwüstung. Wie die Schnitter mit vollen Armen die Frucht einsammeln, so wird diese Menge, ob sie auch noch so gewaltig und dicht ist, von den Feinden weggemäht werden. Kein Rest soll übrig bleiben. Darum fügt er hinzu: als wenn einer mit seinem Arm die Ähren einerntete. Er will sagen: die Menge des Volkes wird so vernichtet, das Land, wie ein abgeerntetes Feld, so entblößt werden, dass nicht einmal vereinzelte und zerstreute Leute übrig bleiben. Das Bild der Ernte gebraucht ferner der Prophet deshalb, weil das Volk im Vertrauen auf seine große Menge vor nichts sich fürchtete. Wie nun aber die Schnitter vor der Menge der Frucht nicht zurückschrecken, so wird auch die ungeheure Zahl von Menschen für Gott kein Hindernis sein, dass er sie nicht gänzlich vernichte. Man kann als Schnitter auch die Assyrer ansehen. Doch bleibt der Sinn dabei derselbe. Denn sie waren in der Ausführung dieses Strafgerichts Gottes Diener.
Als wenn einer Ähren läse. Auf die Ernte folgt noch die Nachernte, die Ährenlese. Nach Fortführung der zehn Stämme in die Verbannung haben nämlich die Assyrer, als sie merkten, wie die Übriggebliebenen Empörung planten, auch diese noch unschädlich gemacht. Das Tal Rephaim nennt der Prophet ausdrücklich, weil es in Israel durch seine Fruchtbarkeit sehr bekannt war.
V. 6. Und eine Nachernte drinnen bliebe. Dies Bild verfolgt einen anderen Zweck, als das vorige. Eben hatte sich der Prophet klar dahin geäußert, als ob der Name des Volkes von Grund aus sollte vernichtet werden und aus dieser Vernichtung nichts mehr übrig bleiben werde. Jetzt fügt er einen Trost hinzu und mildert durch denselben das Furchtbare jener Heimsuchung. Zwar haben die Feinde sich vorgesetzt, alles wegzunehmen und zu vernichten, aber er weist darauf hin, dass nichtsdestoweniger einige Reste übrig bleiben werden. Auch eine Nachernte ist ja niemals so gründlich, dass nicht einige Körnchen oder auch Beeren zurückblieben, die unter Blättern versteckt waren. Auch ein Ölbaum wird nicht so geschüttelt, dass nicht noch einige Früchte in den Spitzen der Bäume hängen blieben. Wie sehr also auch die Feinde wüten und die Rache Gottes entbrennt, so wird der Richter doch nicht so grausam sein, dass er sich nicht einen kleinen Rest bewahrte. Er wird es nicht zulassen, dass der Ansturm der Feinde seine Auserwählten trifft. Die Strafe mag also noch so schwer sein, die Barmherzigkeit findet dabei doch eine Stätte. Hier ist ja von Abrahams Nachkommen die Rede. Sie waren zwar von Gott abgefallen und der Verwerfung wert, aber Gottes Güte war größer als ihre Verkehrtheit. Solcher Güte hatten sie sich unwert gezeigt; aber der Bund Gottes muss fest und unverletzlich sein, und eine Gewähr für diese Festigkeit musste von Gott darin gegeben werden, dass er einen gewissen Rest übrig ließ, wenn auch das Volk an sich jenen Bund völlig unwirksam gemacht hatte. Das müssen wir sorgsam im Auge behalten: Mag man auch von Gottes Gemeinde nichts mehr sehen, und mag es mit allen Frommen aus zu sein scheinen, wir sollen dennoch nicht wähnen, sie selbst sei zu Grunde gegangen. Nach des Herrn Verheißung wird sie ewig dauern. Immer wird also ein Rest übrig bleiben, wenn er auch oft unsern Augen verborgen bleibt.
V. 7. Zu der Zeit wird sich der Mensch usw. Nun zeigt der Prophet die Frucht jener Züchtigungen. Darin liegt ein weiterer Trost, an welchem die Frommen im Unglück sich aufrichten sollen. Wenn sie auch nichts als Gottes Zorn fühlen, sollen sie doch bedenken, dass der Herr niemals ihrer vergisst, sondern fort und fort seine Gemeinde bewahren wird, und dass zudem alle Züchtigungen ihnen selbst zum Heile dienen werden. An die Aussage von dem bleibenden Bestand der Gottesgemeinde schließt sich also der Hinweis darauf, dass die Menschen sich zu Gott halten werden: dies ist das aller Erwünschteste. Dadurch, dass die Menschen sich zu Gott wenden, kehrt ja die bis dahin zerrüttete Welt zu ihrer Ordnung zurück. Da wir aber ihm entfremdet sind und niemand aus freien Stücken umkehrt, können wir nur zurückgeholt werden, wenn der Herr uns mit dem Stachel der Züchtigung treibt. Solchen Züchtigungen dürfen wir also nicht mit Unmut begegnen: sie bringen uns ja von der schrecklichen Krankheit des Abfalls zurück. Denn dass der Mensch sich zu Gott halten und auf ihn schauen wird, bedeutet nichts anderes als dass er sich nach seiner Abkehrung wieder in die Gemeinschaft der Gnade Gottes begibt, sich zu ihm wendet und bekehrt. Denn woher kommt es, dass die Menschen allen erdenklichen Lastern sich in die Arme werfen? Doch nur daher, dass sie Gottes vergessen. Wo man den Herrn kennt, da ehrt man ihn auch; wo man ihn vergisst, nimmt seine Verachtung überhand. Es hängt dies aufs allerengste mit dem Glauben zusammen. Der Prophet will etwa sagen: nachdem die Kinder Israel durch so harte Strafen gebrochen sind, werden sie merken, dass es außer Gott keine Hilfe gibt. Unter diesem Gesichtspunkt heißt es auch, dass der Mensch sich wenden wird zu dem, der ihn gemacht hat. Es war sicherlich eine abscheuliche Stumpfheit, dass sie nicht in Gott allein ruhten, der sie so herrlicher Gnadengaben gewürdigt hatte. Nachdem sie nun durch mancherlei Heimsuchungen niedergebeugt worden waren, sagt der Prophet, würden sie wieder zur Vernunft kommen und wieder anfangen, auf Gott ihre Hoffnung zu setzen, der sie durch so viele Wohltaten sich verbunden hatte. Den, der sie gemacht hat, also ihren Schöpfer, nennt er Gott, nicht sofern er das ganze Menschengeschlecht geschaffen, sondern in demselben Sinne, wie er ihn am Schluss des Verses den Heiligen in Israel nennt. Wenn auch alle Sterblichen nach Gottes Ebenbild geschaffen sind, so war Israel doch in besonderem Maße sein Werk und Gebilde. Es war sein Sondergut, sein heiliges und auserwähltes Volk. Als der Heilige in Israel wird Gott also nicht in Bezug auf sein Wesen, sondern in Rücksicht auf sein heiligendes Wirken bezeichnet: er hat sich Abrahams Söhne ausgesondert und geheiligt. Die Schöpfung, von der in diesem Verse die Rede ist, muss also als eine geistliche verstanden werden. Gemäß dieser wird der Herr in besonderem Sinne der Schöpfer Israels genannt.
V. 8. Und wird sich nicht halten usw. Dieser Gegensatz zeigt noch deutlicher, dass jenes Schauen auf den Heiligen Israels, von dem im vorigen Verse geredet wird, soviel bedeutet als hoffen und vertrauen. Wo nämlich die Menschen gelernt haben, ihre Hoffnung auf Gott zu setzen, da zergehen alle eitlen Hoffnungen in nichts. Niemand kann Gott mit klaren Augen anschauen, wenn er nicht zuvor allen Aberglauben von sich geworfen hat. Alle derartigen Hindernisse müssen hinweg getan werden, wenn man zu Gott nahen will. Die betrügen sich, welche Gott und die Götzen zugleich festhalten wollen, wie es einst die Juden taten. Das ist nicht nur eine Sünde unserer, sondern aller Zeiten. Allen diesen Dingen, die im Wege stehen, müssen wir entsagen, damit wir, auf Gott gerichtet, recht und klar ihn schauen und in ihm ruhen können. Dass die gemachten Götter als solche bezeichnet werden, welche des Menschen Hände gemacht haben, geschieht zur Erregung des Abscheus. Israel soll seiner Torheit sich schämen und solche abscheuliche Schmach von sich abschütteln. Der Prophet beschreibt das verbreitete und doch vor Gott so überaus abscheuliche Laster noch ausführlicher, indem er auf die Ascherabilder und Sonnensäulen hinweist. Zahllose Gestalten nahm damals der Aberglaube an. An zahllosen Orten hatte man Götzenbilder und Altäre errichtet. Mit Recht musste Jesaja dieselben tadeln und verwerfen. Es könnte dem nun entgegengehalten werden, der Altar von Jerusalem sei doch auch von Menschen errichtet worden; daher hätte er auch verlassen werden müssen, wenn man zu Gott hätte kommen wollen. Ich antworte: Jener ist von den andern grundverschieden gewesen. Zwar bestand er auch aus Stein und Mörtel, aus Gold und Silber, und war, wie die anderen, durch menschliche Arbeit zustande gekommen; aber man darf dabei nicht auf das Material, noch auf die Werkmeister achten, sondern Gott selbst muss als Urheber desselben angesehen werden. Auf seinen Befehl war er gebaut worden. Es muss, wenn ich so sagen soll, sein eigentliches Wesen ins Auge gefasst werden, welches er durch das Wort Gottes empfangen hatte. Alles Übrige kommt dabei nicht in Betracht, da Gott allein sein Erbauer ist. Die andern Altäre aber, wenn sie auch eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm hatten, sind verabscheuenswert, weil sie nicht die Autorität des Wortes Gottes für sich haben. Dasselbe Urteil kann man passend über alle menschlichen Gebilde göttlicher Verehrung fällen, welchen Schein der Heiligkeit sie auch immer an sich tragen mögen. Denn Gott kann an nichts Wohlgefallen haben, das nicht durch sein Wort geheiligt ist.
V. 9. Zu der Zeit werden die Städte ihrer Stärke sein wie verlassene Burgen. Der Prophet redet von der Austreibung der Bewohner des Landes. Die Israeliten wähnten im Vertrauen auf ihre festen Städte und Burgen sicher zu sein. Er verkündigt ihnen aber, sie würden in ihnen keinen Schutz finden; wie durch eine verlassene Gegend würden die Feinde ihren Weg durch ihr Land nehmen. Das Volk solle in angstvoller Flucht zerstreuet werden, wie einst Gott die Ureinwohner des Landes in die Flucht jagte. Es wird an dies geschichtliche Ereignis erinnert, damit die Israeliten erkennen sollen, wie eitel und trügerisch jeder Schutz ist, wenn Gottes Hand den Menschen entgegen ist. Schwer ist der Vorwurf, der ihnen gemacht wird. Denn die Israeliten bedachten nicht, dass jenes Land wie durch Erbrecht ihnen vom Herrn zu dem Zweck gegeben ward, dass sie ihn verehrten; die Feinde waren in die Flucht geschlagen worden, damit sie in den Besitz des Landes kämen. Nun aber machten sie sich durch ihre Undankbarkeit einer solchen Wohltat unwert. So gehen sie derselben verlustig und müssen mit Recht statt des früheren Guten nun Böses erfahren. Hier wird eine Stelle aus den Büchern Mose, an welche die Propheten sich anschließen, verständlicher. Dort lautet eine Verheißung (5. Mos. 32, 30): Einer von euch wird Tausend in die Flucht schlagen. Ins Gegenteil verkehrt, als Drohung, heißt es: Tausend von euch werden von einem in die Flucht geschlagen. Wie Gott also den Kanaanitern einen solchen Schrecken einjagte, dass sie plötzlich beim Anblick Israels die Flucht ergriffen, so strafte er die Undankbarkeit seines Volkes dadurch, dass es zum Widerstand nicht die geringste Kraft fand. Der Herr gab so ein zwiefaches Beispiel seiner Macht, einmal bei der Vertreibung der Kanaaniter, sodann bei der Bestrafung seines Volkes. Ferner wirft der Prophet dadurch, dass er an jene alte Gnadentat Gottes erinnert, dem undankbaren und vergesslichen Volke zugleich seine Untreue vor, damit es erkenne, es werde mit Recht bestraft und es gehe vom Herrn aus, dass sie so von Feinden bedrängt wurden, denen sie vorher ein Gegenstand des Schreckens waren.
V. 10. Denn du hast vergessen usw. Der Prophet deckt den Grund auf, weshalb der Herr gegen das Zehnstämmereich so wütet. Sie sollen sich nicht beschweren, als ob sie mit Unrecht geplagt und allzu hart behandelt würden. Alles Unheil widerfährt ihnen, weil sie in ihrer Gottlosigkeit den Herrn verachten. Ihre Undankbarkeit war zu schändlich und ganz und gar nicht zu entschuldigen. Sie hatten so viele Wohltaten empfangen, und doch tun sie, als hätten sie niemals irgendwie Gottes Liebe erfahren, und setzen ihre Hoffnung auf Heidenvölker und Götzen. Freilich werden alle Ungläubigen, wenn sie vor Gottes Gericht gezogen werden, von dieser Schuld sich nicht losmachen können, dass sie den Herrn beleidigen, indem sie den Kreaturen nachlaufen. Bei dem Volk Israel aber lag die Sache noch ganz anders. Ihm hatte Gott sich in einer Weise offenbart, dass es allem Trug der Welt hätte Valet sagen und in seiner Gnade allein hätte ruhen müssen. Darum wird es mit Recht der Undankbarkeit beschuldigt, weil es die Ursache zum rechten Vertrauen in Vergessenheit begraben hatte. Und gewiss, wo einmal Gott uns die Süßigkeit seiner Gnade zu schmecken gab, als er in unsere Herzen einzog, da sollte es nicht vorkommen, dass wir wieder anderswohin abfallen. Der Undankbarkeit müssen also diejenigen geziehen werden, welche mit dem wahren Gott unzufrieden sind und hierhin und dorthin schwanken. Denn sie achten seine unschätzbare Gnade gering. Darum sagt der Prophet ausdrücklich: du hast des Gottes deines Heils vergessen und an den Fels deiner Stärke nicht gedacht. Es war ungeheuerlich, dass das Volk nicht in der Treue gegen den Gott geblieben war, von dem es, wie von einer zum Schutz ausgestreckten Hand, so oft bewahrt wurde.
Darum setzest du lustige Pflanzen usw. Der Prophet redet von der Strafe, die sie empfangen werden. Sie sollen nicht glauben, dass diese Undankbarkeit ungestraft bleiben werde. Sie haben die Quelle aller Güter verlassen; darum sollen sie, so sehr sie sich auch abmühen, ihren Unterhalt zu finden, dennoch Hunger und Durst leiden. Denn was sie mit großer Mühe erworben haben, werden die Feinde rauben oder verderben. Diese Stelle ist dem 5. Buch Mose (28, 30. 39) entlehnt worden. Dort findet sich u. a. auch dieser Fluch. Daraus geht wieder hervor, dass, wie ich schon oft erwähnte, die Propheten viel aus den Büchern Mose entnommen haben und so die rechten Ausleger des Gesetzes sind. Wenn von lustigen Pflanzen und ausländischen Reben die Rede ist, so macht die Größe des Verlustes den Schmerz noch bitterer.
V. 11. Zu der Zeit des Pflanzens usw. Der Prophet weist hier auf die fleißige Pflege hin, welche den Pflanzen und Saaten zugewandt wird. Vom frühen Morgen an werden sie emsig der Arbeit obliegen. Der Prophet will sagen: Wenn du auch in der Landarbeit eifrig bist und vom ersten Tagesschimmer an dir Mühe gibst, so wirst du doch nichts zustande bringen. Deine Frucht wird abfallen und deine Reben werden geraubt werden. Diese Strafe ist sehr hart und hat in einem bestimmten Fluche Gottes ihre Ursache. Wenn ein Besitzloser vertrieben und heimgesucht wird, so trägt ein solcher daran nicht so schwer, wie einer, der gut gepflegte Äcker hat, zumal wenn er lange Zeit viel Mühe an sie gewandt hat. So wollte der Herr Israel strafen, weil es die Fruchtbarkeit des Landes missbraucht hatte und in seinem Überfluss übermütig geworden war. Eine ähnliche Strafe wird den Gottlosen insgemein angedroht. „Es ist umsonst“, heißt es Ps. 127, 2, „dass ihr frühe aufsteht und hernach lange sitzet.“ Dagegen Ps. 128, 1 f.: „Wohl dem, der den Herrn fürchtet und auf seinen Wegen geht! Du wirst dich nähren deiner Hände Arbeit; wohl dir, du hast' s gut.“
V. 12. O weh der Menge usw. Einige fassen das „Wehe“ in verwünschendem, verfluchendem Sinne. Es ist aber nur als Ausruf zu fassen. Und zwar glaube ich, dass es hier mehr ein Ausruf des Schmerzes ist. Der Prophet seufzt über das Unheil, welches er über Israel kommen sieht, ob er es nun aus brüderlichem Mitgefühl tut oder um seine Weissagung nachdrücklicher in die Herzen des trägen, stumpfen Volkes einzuprägen. Denn das ist sicher, dass die Propheten mehr wie andere ein Entsetzen empfanden vor der Rache Gottes, deren Herolde sie waren. Wenn sie auch nach der ihnen zuerteilten Rolle ernst und streng waren in ihren Drohungen, so legten sie doch nie das menschliche Mitgefühl so weit ab, dass sie nicht die Untergehenden bedauert hätten, zumal auch der Gedanke an den Bund bei ihnen mächtig war, den Gott mit dem Samen Abrahams geschlossen hatte. Dieses Mitgefühl finden wir auch bei Paulus in einem solchen Grade, dass er für seine Brüder verbannt zu sein wünscht (Röm. 9, 3). Da Jesaja also das Unheil gleichsam gegenwärtig vor sich sieht, muss er einen tiefen Schmerz empfinden. Doch, wie ich erwähnte, redet er auch so um des größeren Nachdrucks willen. Von einer Menge so großes Volks wird geredet, weil das feindliche Heer zusammengesetzt war aus den vielen, verschiedenartigen Völkern, als welchen das assyrische Reich bestand. Die Bilder, die der Prophet hinzufügt, sollen die Sache recht anschaulich machen. Er vergleicht die Menge der Feinde mit einem Meer und mit großen Wassern, von welchen ein ganzes Land überschwemmt wird.
V. 13. Ja, wie große Wasser wüten, so werden die Leute wüten. Der Prophet scheint in seiner Drohung fortzufahren. Doch beginnt er, die Gläubigen zu trösten, obwohl er die Drohung wiederholt. Denn er fährt fort: Aber er wird sie schelten, so werden sie usw. Er will sagen: Die Gott vergessen, müssen die Strafe für ihren frevelhaften Abfall tragen und wie von einer Flut überschwemmt werden. Aber der Herr wird schon solche wilde Wut der Feinde im Zaume halten. Wenn sie ihre Wut ausgeübt haben, wird er einen Weg finden, auf dem er sie selbst zu Boden stürzt und niederschlägt. Es ist ein köstlicher Trost, durch welchen der Prophet den Rest der Frommen aufrichten wollte. Er redet hier nicht nur von den Bewohnern Judas, wie man gemeiniglich annimmt, sondern auch von den Bewohnern Israels. Denn er hat sich bisher in seiner Rede gegen das Zehnstämmereich gewandt, und sicherlich waren in Israel noch einige übrig geblieben, welche den Herrn wahrhaft fürchteten. Diese wären verzweifelt, wenn nicht irgendeine Verheißung sie aufgerichtet hätte.
Wie der Spreu auf den Bergen usw. Wir sollen hier erkennen, dass Gott alle Stürme, sie mögen noch so furchtbar und schrecklich sein, mit Leichtigkeit beschwichtigen wird. Denn wie dem Wind und dem Meer und den Stürmen, so gebietet er auch leicht den Feinden und ihrer Macht. Daher vergleicht er auch die Assyrer mit der Spreu und einem Staubwirbel. Vom Standpunkt der Israeliten aus war deren Ansturm erschrecklich; vor Gott aber, daran erinnert der Prophet, werden sie sein wie Spreu. Ohne Mühe wird er alle ihre Anstalten zunichte machen. Wir sollen demnach über die Kräfte und Macht der Feinde nicht nach unserm Gefühl urteilen. So oft wir sehen, dass den Gottlosen der Zügel gelockert wird, um zu unserm Verderben hervorzubrechen, sollen wir daran denken, dass wir zwar, wenn es auf uns ankommt, verloren sind, dass aber Gott ein Mittel bereit hat, um ihren Ansturm abzuschwächen.
V. 14. Um den Abend usw. Wie der Abendwind, das ist der Sinn, sich erhebt, bald aber wieder sich legt und am Morgen nicht mehr da ist, so werden die Feinde zerstreut werden und bald wider alles Hoffen Fröhlichkeit und Heiterkeit zurückkehren. Ein Doppeltes wollte der Prophet betonen, einmal, dass der Einfall der Feinde plötzlich eintreten werde, und sodann, dass das Unheil, das sie bringen, nicht lange dauern werde. Wie die Assyrer plötzlich wider Israel anstürmten, ebenso plötzlich sanken sie wieder hin. Daraus dürfen alle Frommen einen wundersamen Trost schöpfen, so oft alles sich zu verwirren scheint und schreckliche Veränderungen drohen. Denn was haben wir anders unter dem plötzlichen Sturm zu verstehen, den der Herr beschwichtigen wird? Die Tyrannen stürzen wie ein Wirbel und ein Wetter wider uns an, aber leicht wird der Herr ihre Macht zerschmettern. Wir sollen also geduldig auf seine Hilfe warten. Wie er uns auch umher werfen lässt, mitten durch den Sturm wird er uns doch in den Hafen bringen. Wenn der Prophet so unscheinbare Überreste von Frommen, die gar nicht mehr vorhanden zu sein schienen, getröstet hat, dann gilt diese Verheißung ohne Zweifel auch uns. Unserer sind auch nur sehr wenige und nur in wenigen Winkeln birgt sich das arme Volk Gottes. Aber wenn wir den Stand des Reiches Israel betrachten, wie wenige waren damals der Knechte Gottes! Und die wagten sich kaum zu rühren, ein solcher Hass erfüllte alle wider Religion und Frömmigkeit. Wenn also auch der Herr die Menge der Gottlosen ins Verderben stürzt, eine kleine Zahl von Frommen, die mit den andern gleichsam auf demselben Schiffe hin und her geschleudert werden, wird er aus dem Schiffbruch herausreißen und in einen sichern, ruhigen Hafen bringen.
Das ist der Lohn unserer Räuber. Der Prophet redet die Gläubigen an, die im Reich Israel verborgen waren. Diese schließt er mit dem übrigen Leib der Gottesgemeinde zusammen. Hier und dort waren ja ihre Glieder zerstreut, wie es bei Gottes Kindern oft der Fall ist. Hier erkennen wir den Ausgang der Gottlosen, die uns verfolgt haben. Wir sind ihrer Wut ausgesetzt, dass sie rauben, plündern, niedertreten und jede Schmach wider uns üben. Sie werden aber den Stürmen ähnlich sein, die durch ihre eigene Gewalt gebrochen werden und plötzlich ein Ende nehmen. Das dürfen wir von allen Tyrannen erwarten, welche die Gemeinde elend quälen und die Kinder Gottes unmenschlich behandeln. Uns ist das zum Troste geschrieben, damit wir wissen: ebenso wird es auch ihnen ergehen.