Bengel, Johann Albrecht - Predigt, gehalten am 28. Oktober 1704

Bengel, Johann Albrecht - Predigt, gehalten am 28. Oktober 1704

Text: Johannes 10, 27-30

Es kommen in der Heiligen Schrift verschiedene schöne Gleichnisse vor, durch die einesteils die Natur und andernteils die Seligkeit gläubiger Christen dargestellt wird. Christus vergleicht zum Beispiel in Johannes 15 die Gläubigen mit den Reben und sich mit dem Weinstock, wodurch deutlich gemacht wird, daß jene Früchte der Gerechtigkeit bringen und eine nahe Verbindung mit dem Herrn Christus haben sollen. In dem gleichen Kapitel werden die Jünger, die tun, was ihnen Christus gebietet, seine Freunde genannt. Matthäus 12, 49 werden sie als Brüder und Schwestern bezeichnet. Epheser 5 vergleicht Paulus Christus mit dem Haupt und die Gläubigen mit dem Leibe. Wie es nun eine Seele und ein Geist ist, die das Haupt und den Leib des Menschen regieren, so muß auch der, der Christus angehören will, seinen Geist haben. Matthäus 13 werden die Gerechten mit den guten und die Gottlosen mit den faulen Fischen verglichen. Ein besonders bemerkenswertes Gleichnis ist das, in dem Christus sich mit einem guten Hirten und die Gläubigen mit Schafen vergleicht, wie dies der Herr in unserm Text mit den Worten tut: „Meine Schafe hören meine Stimme“. Dadurch stellt er dar, wie seine Schafe geartet seien, auf seine Stimme hören und ihr gehorsam folgen, aber auch, wie trefflich er sie versorge, indem er sie kenne, ihnen das ewige Leben gebe und sie nicht umkommen lasse. Wir werden dies jetzt noch klarer erkennen, wenn wir betrachten:

Rechtschaffene Christen:

  1. nach ihrer Art und Beschaffenheit und -
  2. nach ihrer Herrlichkeit und Seligkeit.

Gott gebe, daß es nicht ohne Erbauung geschehe! Amen.

1.

Wenn wir unseren Text mit dem Vorhergehenden zusammenhalten, so werden wir finden, daß er ein Stück ist jener Schutzrede, mit der der Herr Jesus seine Gottheit wider die Juden behauptet und sie zugleich des Unglaubens überführt. Um es zu beweisen, führt er seine Werke an, und um es zu bekräftigen, stellt er die Beschaffenheit seiner Jünger dar. Da seine Feinde diese nicht an sich hätten, dürften sie sich auch nicht der Seligkeit seiner Jünger getrösten.

Er beschreibt also mit diesen Worten die wahre Beschaffenheit rechtschaffener Christen, was eben daraus erhellt, daß er zu den ungläubigen Juden sagt, sie seien seine Schafe nicht und glaubten also auch nicht an ihn; es sei dagegen ein Kennzeichen seiner echten Jünger, daß sie seine Stimme hören. Unter diesem Hören ist aber nicht ein Hören zu verstehen, bei dem man die Predigt Christi mit leiblichen Ohren anhört und im übrigen nicht weiter sich daran gelegen sein läßt; denn das taten auch die ungläubigen Juden. Es ist ein Hören, bei dem man der vorgetragenen Wahrheit nicht mutwillig widerstrebt, sondern ihr von Herzen beipflichtet und sie zur Ausübung bringt. So sagt Christus zu ihnen: „Wer von Gott ist, der hört Gottes Worte; darum höret ihr nicht, denn ihr seid nicht von Gott.“ (Joh. 8, 47).

Eine weitere Eigenschaft der Schafe Christi ist die, daß sie ihm folgen. Ein Schaf folgt seinem Hirten, wohin er geht; so machen es rechtschaffene Christen auch: sie folgen seiner Lehre nach im Leben, Leiden und Sterben. Lesen oder hören sie, wie sie Christus zum Glauben, zur Liebe und Hoffnung, zur Gottesfurcht und ändern Tugenden ermahnt, dann folgen sie. Vernehmen sie, wie Christus für sie gelitten und ihnen ein Vorbild gelassen hat, so folgen sie seinen Fußstapfen gemäß der Ermahnung in 1. Petrus 2 und gemäß der Grundregel: „Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir“ (Matth. 16, 24).

2.

Von der Seligkeit und Herrlichkeit der rechtschaffenen Christen heißt es: „Ich kenne sie“. Dieses Kennen ist nicht nur ein solches Kennen, da der Herr all ihr Tun weiß oder ihre Herzen und ihre Gedanken prüft, wie er zum Beispiel der Samariterin hat alles sagen können, was sie getan hat, oder wie er auch die argen Gedanken seiner Feinde gesehen hat; es ist vielmehr ein solches huld- und gnadenreiches Kennen, daß er als der gute Hirte es seinen Schafen an nichts läßt mangeln, sie auf der grünen Aue seines Wortes weidet, ihre Seele erquickt, sich ihrer also herzlich annimmt und sie auf eine ganz besondere Art pflegt, so daß sie nimmermehr umkommen, ihnen selbst der höllische Apollyon nichts anhaben kann und sie freudig mit Paulus ausrufen können: „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ Christus, ihr Herr, gibt ihnen ewiges Leben, „was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben“ (1. Kor. 2, 9).

Es müssen zwar die Kinder Gottes in dieser Zeit von den Gottlosen im Zeitlichen und Leiblichen und vom Teufel im Geistlichen viel Kreuz und Widerwärtigkeit ausstehen und durch viel Leid und Trübsal ins Reich Gottes eingehen; aber alles Leiden dieser Zeit ist nicht wert der Herrlichkeit, die an ihnen soll offenbar werden. „Unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit“ (2. Kor. 4, 17).

Sind nun die Christen so selige Leute, daß Christus sie in Gnaden kennt, wer wollte nicht gerne ein Christ, ein Schaf des guten Hirten sein und unter seiner treuen Hut stehen? Ich zweifle nicht, es werde ein jedes leicht erkennen, daß dies eine große Glückseligkeit sei. Wer aber hat sich ihrer zu getrösten? Alle, die des Namens Jesu würdig wandeln, dessen Schafe sie sein wollen. Ein Schaf folgt seinem Hirten auf dem Fuß nach. Wollen wir also Jesu Schafe sein, dann müssen wir ihm nachfolgen im Glauben, in der Liebe, in der Hoffnung und andern Tugenden, müssen gesinnt sein wie er und uns auch die Hitze der Anfechtung nicht befremden lassen, weil Christus selber auch uns zum besten den Tod geschmeckt hat.

Wir müssen zusehen, daß wir nicht von unserm Hirten weg auf andere Wege abweichen, die nicht gut sind. Dies geschieht, wenn wir unsern und nicht seinen Willen tun. Christus wird Jesaja 53, 7 dargestellt als „ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer“; mithin müssen auch wir durch Stillesein und Hoffen stark sein und durch Geduld laufen in dem Kampf, der uns verordnet ist. 0 wie viele weichen von diesem Vorbild und Muster ab! Wie viele gleichen eher einem Fuchs an List, einem Schwein an Unflätigkeit und Gefräßigkeit, einem Bock an Geilheit, einem Hund an Neid, als einem geduldigen Schaf in gehorsamer Nachfolge! Wie viele tun eher den Willen des Fleisches und der Vernunft und folgen eher blöden Leuten als Christus! Sie haben ihr Teil dahin. Meine Lieben, laßt uns nicht mit ihnen im gleichen Wesen laufen, so sehr es sie auch verdrießen mag; haben wir doch keinen Lohn oder Dank von ihnen. Christus ist unser Herr und Hirte; ihm laßt uns folgen, dann mangelt uns an keinem Gut!

Er sagt, er kenne seine Schafe. Wohl denen, die Christus kennt; er kennt ihre Not, er weiß, was ihnen fehlt und versorgt sie. Er wird sie auch am Jüngsten Tag als die Seinen und als die Gesegneten erkennen; zu den Böcken dagegen wird er sagen: „Gehet hin von mir, ihr Verfluchten!“ Die Gläubigen werden dann bei ihm, ihrem Herrn, sein allezeit und ihn, dessen Stimme sie vorher im Glauben und nicht im Schauen gehört haben und der sie gefolgt sind, ihn werden sie hinfort sehen, wie er ist, von Angesicht zu Angesicht.

Für diese tröstliche Hoffnung sei dem großen, treuen Erzhirten Lob, Ehre und Dank! Er leite uns mit seinem Geist und Wort, damit wir unserm Wandel würdiglich führen ihm zu allem Wohlgefallen! Amen.

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