Augustinus, Aurelius - Nachtgedanken - Dreizehnte Nacht - Die Rechte der Menschheit. Nächstenliebe.

Augustinus, Aurelius - Nachtgedanken - Dreizehnte Nacht - Die Rechte der Menschheit. Nächstenliebe.

Gott bleibt immer derselbe und ist durch sich selbst glückselig. Die Geschöpfe sind und haben nichts, als was wir von ihm empfangen. Wer kann dem Schöpfer etwas geben? Wer dem Allmächtigen helfen? Bedarf er der Güter, der Hilfe eines anderen? Aber er erfand die Kunst, es dahin zu bringen, dass der Mensch ihm wie einem Notleidenden und Dürftigen helfen kann. Das tat er, um unser Schuldner zu werden und sich zu einer unermesslichen Wiedervergeltung zu verpflichten. Er wollte, dass der Mensch in seinem Nebenmenschen ihn selber erkenne, und was einer dem andern tut, gilt ebenso viel, als wäre es ihm selber geschehen. Göttliche Kunst und würdig der höchsten Güte, wer kann sich deiner Lockspeise entziehen, wer dem Netze entgehen, das die Liebe eines Gottes zu unserer Beglückung ausbreitet? Also finde ich meinen Gott in jedem unsterblichen Geiste? Also speise ich meinen Gott, wenn ich den hungrigen Armen an meinen Tisch ziehe? Ich tröste meinen Gott, wenn ich meinem leidenden Mitbruder zu Hilfe komme? Und wenn ich die Wunden eines hilflos schmachtenden Unglücklichen nicht verbinde, so verschmähe ich meinen Gott? O Mensch, du teurer Gegenstand meiner zärtlichen Liebe! Ha, wer gibt mir, dass ich für dich mein Leben aufopfere, dass ich zu deinem Besten all mein Blut vergieße und für dich in den Tod gehe! O Mensch, wer du auch immer seist, was beginnst du, wo ziehst du hin? Warum verträumst du die kostbare Zeit? Rastlos eile und bestrebe dich, deinem Gott Beweise deiner Liebe zu geben. Das kannst du nur in diesem Leben. Versäume nicht eine Tugend, um die der Himmel dich beneidet, jeder Mensch, dem du begegnest, gibt dir Gelegenheit dazu. Rannst du nichts anderes tun, so liebe ihn, und voll Liebe flehe zum Himmel, dass dieser ihn beglücken möge mit allen wahren Gütern. Dein Herr nimmt deine Wünsche so auf, als wären sie für ihn dargebracht.

Ich liebe das unendliche Wesen, erwiderst du; aber der Mensch, ein unvollkommenes Geschöpf, ein niedriges Gemisch von Lastern und Unwissenheit, töricht in seinen Urteilen, wandelbar und unbeständig in seinen Wünschen, hartherzig, ungerecht und undankbar, verdient nicht meine Liebe. Wie? er verdient nicht deine Liebe? So rühmst du dich denn vergebens, das höchste Gut zu lieben. Wer da liebt, dessen Wille ist eins mit dem Willen dessen, den er liebt; dein Herr macht es dir zur Pflicht, deinesgleichen zu lieben, zeigt dir in jedem Menschen seinen Stellvertreter, und du kannst ihm deine Liebe versagen? Scheusal von Rohheit! Du liebst deinen Schöpfer gar nicht. Verdient der Mensch nicht deine Liebe? Aber was für einen Sinn, was für ein Herz hast du, wenn so heilige Beweggründe auf dich keinen Eindruck machen? Und wer bist du denn vor deinem Schöpfer? Deinem Gott beweisest du nicht die Liebe, die er von dir verlangt durch einen Menschen, der dir gleich ist, durch einen Menschen, dem er seine Rechte an dich übergeben, und du forderst, dass Gott dich liebe, du niedriger Erdenwurm, voll Hochmut und Widerspenstigkeit? Elender! Du bist nun gar zu missfällig dem großen Gesetzgeber und hast nur Blitz und Donner von ihm zu erwarten.

Der Mensch ist geschaffen für die Liebe, weil er geschaffen ist für Gott. Liebe ist's, die den Menschen zum höchsten Gute führt. Der Schöpfer des Weltalls legte sie in uns, um uns an sich zu ziehen. Aber wir selbst verderben diesen edlen Trieb, indem wir ihn auf andere Gegenstände hinwenden und seine Wünsche mit Trugbildern befriedigen. Nur Gott sollten wir lieben, und wir entfernen uns weit von ihm und machen die Geschöpfe zu unserem Götzen. Der Geizhals liebt das glänzende Metall, der Ehrsüchtige einen leeren Dunst, der ihn nicht befriedigt, und der Wollüstling ein niedriges Vergnügen, das schnell vorübergeht und nur Schmerz zurücklässt. Der Mensch ist immer zur Liebe bereit, wenn sie sündhaft ist, und entschuldigt sich, wenn sie tugendhaft ist. Wenn uns Gott befiehlt, den Menschen zu lieben, so befiehlt er uns nicht, den Menschen zum Hauptgegenstande unserer Liebe zu machen. Er will, dass wir in seinen Werken ihn selbst lieben sollen. Verdient nun der Mensch nicht deine Liebe? Liebt man ja doch in ihm denjenigen, der allein aller Zuneigung unseres Herzens würdig ist. Das fordert er, wenn er dir gebietet, deinen Mitbruder zu lieben. Liebe im Menschen die Hand, die ihn gebildet hat, liebe in ihm das Bild des Schöpfers, liebe seine Gaben, seine Wohltaten, die er über dieses Geschöpf ausgegossen hat. Liebe im Menschen den Ratschluss des ewigen Königs, welcher ihn zum Mitgenoss seiner Herrlichkeit wählte, liebe die Namen Bruder und Sohn, die er ihm erteilt, liebe das Blut eines Gottmenschen, das für ihn vergossen ward, und die Mühsale und Leiden und die schweren Misshandlungen, die er zu seiner Rettung freiwillig dulde e. Wenn dein Herz bei diesen Worten nicht gerührt wird und von Liebe entbrennt, o so geh' hin, Ungeheuer an Hartherzigkeit und verbirg dich hinter die kaukasischen Felsen vor dem Anblicke der übrigen Sterblichen, vor dem Tageslichte und dem Anblicke des Himmels, der vor dir erschaudert. Du hast keinen Funken von Gottesliebe; du hast gottvergessen schon alles einem schändlichen Götzen geweiht.

Der Mensch kann nicht leben, ohne zu lieben. Die Liebe ist das Element seines Herzens. Wer nicht liebt nach Vorschrift der göttlichen Gebote, liebt gegen den Willen des großen Gesetzgebers; wer nicht seine Liebe dem Herrn weiht, der empört sich gegen ihn.

Bei der Liebe kommt alles auf die Ordnung an. Diese macht den Menschen gerecht und alle seine Tugenden sittlich. Die Unordnung macht lasterhaft und verursacht alle Vergehen und Missetaten. Der Fromme sucht immer in seiner Liebe den Urheber aller Dinge, der Böse sich selbst. Der Fromme liebt seinen Gott, wo er ihn findet, liebt ihn in seinen Geboten, in seinen Absichten, in den Widerwärtigkeiten, die er ihm zuschickt und selbst in den Geißelhieben, womit er ihn schlägt. Der irdische Mensch macht sich zum Mittelpunkte der Liebe und macht sie dem Allerhöchsten streitig. Er sagt sich los von der Liebe des Nebenmenschen, wenn er vernimmt, dass er um Gottes willen ihn lieben soll; doch ist darum sein Herz noch nicht abgeneigt von der Liebe desselben. Er liebt den Menschen, aber um seiner selbst willen und sucht in ihm nur die Befriedigung seiner Wünsche. Er sieht seinesgleichen an als Diener seiner Begierden und liebt oder hasst dieselben je nachdem sie entweder seinem Willen entsprechen, oder ihm feindlich entgegentreten. Sein niedriges Interesse ist abwechselnd der Maßstab des Verdienstes oder der Schuld anderer Menschen. Er liebt nur sich.

Die Liebe bewährt sich in den Werken, deren sie fähig ist, in den Hindernissen, die sie besiegt, in der Last, die sie trägt. Ist sie stark, so findet sie den ganzen Gegenstand, dem sie dient, leicht. Sie ebnet dem Liebenden den rauen Weg, sie mildert die Sonnenhitze und den starren Frost und versüßt das Leiden. Sie geht sicher mitten durch Waffen, benimmt den Wunden ihren Schmerz und selbst dem Tode seine Schrecken. Der Mensch sagt, er liebe Gott, und weiß doch nicht, um Gottes willen einen anderen zu lieben. Schwacher, elender Liebhaber! Dem Willen Gottes ziehst du deinen Stolz vor, der da macht, dass du den Menschen deiner Liebe nicht wert achtest. Du willst, dass in deinem Herzen die Liebe des Allerhöchsten walte; aber 'du willst, dass sie nachstehe, und unterworfen sei deiner tyrannischen Hoffart und Rachsucht. O du Verwegener! Zürnend weicht die Liebe des Schöpfers, ehe sie zu solcher unwürdigen Sklaverei sich erniedrigt.

Was tut nicht der Mensch für eine erschaffene Schönheit, deren Liebe er genießt? Die unendliche Schönheit erlaubt uns nicht nur, sondern gebietet uns, sie zu lieben, sie will sich uns hingeben. Über ein solches Geschenk staunt die ganze Welt. Nach einem solchen Übermaße von Güte frage ich den Menschen, ob er seinen Herrn liebe?

Er bejaht es. Du liebst ihn, aber du glaubst vielleicht, der Quelle eine Wohltat zu beweisen, wenn du sie an deine Lippen bringst, um den Durst zu löschen, der dich ohne sie töten würde? Glaubst du vielleicht, Gott einen Gefallen zu tun, indem du ihm Deine Liebe erweisest? Wer kann Mensch sein und ihm seine Liebe versagen? Unser Herz ruft uns laut, dass wir für ihn geschaffen sind, und treibt uns zu ihm. Wer kann der unendlichen Güte, der höchsten Schönheit, der Glückseligkeit seine Liebe versagen? Wenn sich uns nichts in den Weg stellt, wenn man nichts anderes will, als stromabwärts schiffen, wohin unsere Neigung und die Begierde uns treibt, was ist wohl da Hartes, wenn man dem süßen und mächtigen Hange der Natur folgt, die nur ihr eigenes Wohl sucht? Aber mit Recht begnügt sich die ewige Schönheit nicht mit dieser Liebe allein, die für uns nur ein erwünschter Genuss wäre. Sie will, dass wir bei unserer Liebe uns auch überwinden, dass wir sie lieben, wenn auch unser schwacher Wille sich dagegen sträubt. Sie will, wir sollen sie lieben in dem Menschen, der sich oft unserer Liebe unwürdig zeigt, und dem sich unsere Liebe nur mit Scheu und Sträuben nähert.

Danke dem Allgütigen, O Mensch, der dir. Anlass gibt, ihm deine Liebe zu beweisen. Umfasse das ganze Menschengeschlecht, und je weniger deine Neigung dich treibt, die Brüder zu lieben, desto mutiger feuere dich dazu an. Du liebst in ihnen das höchste Gut. Je weniger fremde Nahrung deine Liebesflamme findet, desto reiner bleibt sie, desto schneller steigt sie hinauf zu ihrer Sphäre. Wenn du im Menschen deinen Wohltäter und Gönner und Freund liebst, so liebst du oft mit dem Schöpfer zugleich das Geschöpf. Aber in dem Menschen, der dir nicht nützt, der dich hasst und beleidigt, liebst du Gott allein.

Was beginnst du, wohltätige Jungfrau, was treibt dich an, dich des Goldes zu berauben, das unter den Menschen so hohen Wert hat, und dich zu so ekelhaften Beschäftigungen zu erniedrigen mitten in der Fülle deines Wohlstandes? Ich sehe, wie du sorgfältig die Fremden erquickest, die an deiner öden Insel anlanden; ich sehe, wie du sie aufnimmst unter deine Mauern. Du kannst dich vom Krankenbette nicht losreißen; du stehst ihnen bei und tröstest sie, wie eine liebevolle Mutter. Ihre Leiden verwunden dein Herz; großmütig erduldest du ihre Härte. Der üble Geruch ihrer Wunden schwächt deine Liebe nicht, beleidigt dich nicht und entfernt dich nicht von ihrer Seite. Die Wut ihrer Fieberhitze erregt in dir nicht Unwillen, sondern Mitleid. Was macht dir diese Fremden so wert? Ach, wohl begreif' ich den edlen Beweggrund deines Eifers. Sie sind Diener deines Bräutigams. Er ist fern und du erkennst in diesen sein Bild. Diese sind sein Bild. Diese sind seine teuren Untertanen und für sie verlangt er deinen Beistand. Indem du ihnen dienst, dienst du deinem Geliebten, und je niedriger die Sorge ist, zu der du dich herablässt, desto größer ist das Unterpfand deiner Liebe gegen ihn. Großmütige Jungfrau! Dein Herr und Bräutigam betrachtet dich von fern und winkt dir Beifall in diesen niedrigen Diensten. O wie teuer bist du ihm, wie sehr gewinnst du seine Zuneigung in den mühsamen Werken der Barmherzigkeit, die er dir eingibt. Hier erscheinst du ihm liebenswürdiger als im Augenblicke, wo du in Betrachtung seiner liebenswürdigen Gestalt hinschmachtest. Hier sammelst du dir die Schätze seiner Liebe; einst kommt die Zeit, da du sie genießen wirst. Dieses königliche Herz, diese Hoheit ist schon ganz dein eigen; einst wird er deine Gaben und deine Liebe wiedervergelten. Du liebtest ihn, da du noch fern von ihm warst in mühsamen und harten Werken, du liebtest ihn mit großer Aufopferung; bald wirst du ihn lieben zu deiner Glückseligkeit in seinem erhabenen Wohnsitze, in der Wonne, in dem Glanze seines königlichen Thrones, du wirst ihn lieben als deinen Bräutigam.

Mensch, du weißt es wohl, dass deine Mitmenschen mehr sind als Sklaven desjenigen, der dich einst vollkommen beglücken soll; er liebt sie mehr als Sklaven. Er ist nicht fern, sondern bei ihnen und sieht und empfängt die Beweise von Liebe, die du ihnen gibst. Schau' auf den hin, dessen Glaube dir leuchtet, und erkenne in der Kreatur den Schöpfer. Er verlangt dein ganzes Herz für sich allein; bewahre es ihm ganz. Aber die Werke der Barmherzigkeit und Milde, welche Beweise deiner Liebe gegen ihn sind, lässt er dem Menschen zukommen. Wenn dein Nebenmensch sich gegen dich verfehlt, so ist es Schwachheit, die Mitleid verdient, nicht aber Hass und böser Wille; es ist dein Bruder, der dich beleidigt. Wenn du nun alle Liebe gegen ihn ablegst; wenn du …. Still! vielleicht ist er nicht einmal schuldig; vielleicht ist seine Schuld bei weitem nicht so groß, als du glaubst. Wer maß sein Unrecht, wer wägte die Bosheit seines Willens? Du selbst, o Mensch, dem doch das Innere des Mitbruders ganz verborgen ist, der du blind über sein Herz urteilst. Und dazu riet dir deine ungeordnete Liebe und dein Stolz. Ungerechter Richter! halt ein den Ausspruch deines Zornes! Wer irgendeiner heftigen Leidenschaft dient, darf so nicht richten. Wolltest du deine Rechtssache vor einen Richter bringen, der dein Feind und Beleidiger ist? Was du willst, dass dir geschehe, tue auch anderen. Aber dein Beleidiger hat zuerst gefehlt, war ungerecht, undankbar, grausam gegen dich. So beweine denn sein Unglück, wenn du menschliches Gefühl hast. Schlimmer als alle Krankheiten sind die Seelenkrankheiten, die Sünde, die Schuld. Du leidest unvergleichlich weniger als ein Gegner, der dich misshandelt. Derselbe Schlag, der dich getroffen, verursachte ihm eine tiefere Wunde; sein Geist starb daran. Und doch dürftest du nach Rache? Barbar! Du sollst sie haben. Ein unbestechlicher Richter wird die dir zugefügte Beleidigung nicht ungestraft lassen. Der dich beschimpft hat, wird entweder vor seinem Tode dafür büßen und durch Reue sie auslöschen, oder er wird sein Vergehen unter der strafenden Hand Gottes in schauerlichen Kerker beweinen. Beklage sein Unglück. Aber noch willst du nicht nachgeben? So jage denn, du Unmensch, dem höllischen Vergnügen der Sache nach. Jage ihm nach; aber sieh' dich um, ehe du Rache übest. Die düstere Flamme, die in deinem Busen lodert, verdunkelt deinen Geist, umhüllt deine Vernunft und lässt dich im Gegner nur den Menschen sehen. Unglückseliger! halt ein, du erhebst deine Hand gegen den Allmächtigen. Im Feinde greifst du ihn an und verwundest ihn. Er ruft dir zu: Mein ist die Rache, und in meinen Armen muss dir der Feind heilig sein. Er selbst bittet dich für ihn um Frieden und Vergebung. Törichter! nimm mildere Gesinnungen an. Leg' ab zu deinen Füßen den Hass, der dich verzehrt. Vergib deinem Feinde, achte und liebe in ihm deinen Gott. Aber wenn du, verwildertes Herz, bei diesen Worten noch verhärtet bleibst, so gehe hin, unglückseliger Gottesmörder, und vollbringe das Werk deiner Wut, geh hin und verwickle Gott selbst in deine Rache. Bald kommt der Tag, da er selbst dein Richter in der Ewigkeit sein wird. Dein Urteil weißt du schon. Du unterschreibst es schon durch deine Hartherzigkeit. Ein Gericht ohne Erbarmen für den, der kein Erbarmen hat. Dieses Gesetz steht mit unauslöschlichen Zügen und in Diamant geschrieben vor Gottes Richterstuhl. Nach diesem Gesetze wird das ewige Los der Sterblichen entschieden.

Der Mensch sucht seinen Hass zu entschuldigen durch erlittenes Unrecht, als ob das Beispiel anderer eine Rechtfertigung für unsere Fehler wäre, und ihre Sünde die unsrige rechtfertige. So ist das Laster immer von der Torheit begleitet. Sie bahnt ihm den Weg zum Herzen und verhärtet dasselbe gegen die Stimme der Vernunft und des Glaubens. Also weil das Geschöpf dich beleidigte, willst du in ihm den Schöpfer nicht mehr lieben? Ist er durch das Vergehen des Geschöpfes weniger liebenswürdig geworden? Hat er dir etwa das Recht eingeräumt, seine Wohltaten und seine Winke zu verschmähen und ihn zu bekriegen? Du willst deinem Gott nicht nachgeben, der du auch gegen ihn deinen Unwillen äußerst und an ihm deine Beleidigung zu rächen suchst? Wenn das Gefühl der Rache so viel über dich vermag, wenn es mit dir bis dahin gekommen ist, so kann ich nicht mehr mit dir sprechen.

O Mensch, der du mit Gefühl und Vernunft begabt bist, komm' und lerne,' wie du den Feind behandelst, der Gott zum Vater hat. Gott selbst gibt uns davon ein Beispiel. Seit Jahrhunderten wurde die Welt gleich einem verheerenden Strome, der sich desto breiter ergießt, je weiter er sich von seiner Quelle entfernt und je mehr andere Flüsse er aufnimmt, immer ruchloser. Die dunkle, schauerliche Flut erhob sich schon bis zu den Sternen. Die ewige Gerechtigkeit, die Rächerin der Beschimpfungen des Allerhöchsten, sollte endlich durch ihre Strafgerichte über die sich empörende Erde das lang erlittene Unrecht züchtigen. Das Racheschwert über Ägypten, der Würgengel des Assyrischen Heeres, das Feuer, welches das ruchlose Sodoma - zerstörte und die Wasser der Sündflut warteten nur auf einen Wink. Schon war der Tod bereit, und der Abgrund öffnete sich, um seine Beute zu verschlingen. Aber die Barmherzigkeit siegte, und während der Mensch durch die schmählichsten Beleidigungen die Gottheit reizte, ließ sie das erstaunenswürdige Werk der Liebe gegen ihn in Erfüllung gehen. Gott selbst steigt vom Himmel herab und überhäuft den Menschen mit allen Gütern von oben, ja sich opfert er auf. Er konnte uns strafen und durch gerechte Rache über die Sünde seine Ehre erhöhen. Aus Liebe erniedrigte er sich, nahm Knechtsgestalt an, um seine Feinde aufzusuchen, sie zum Heile zu führen und bis zu seinem ewigen Throne sie zu erheben. Liebevoll ging er seinen Feinden nach, freundlich kam er ihnen entgegen, bot ihnen den Frieden an und tilgte vor der ewigen Gerechtigkeit ihre Schuld; er, der Unschuldige, kam, um aus Liebe zu ihnen wie ein Schuldiger zu sterben. So verfährt Gott mit dem Menschen. Unermessliche Güte; aber es ist nicht genug, o Mensch, dass du die Wunder seiner Barmherzigkeit, die dir den Himmel öffnet, anstaunest. Der Urheber aller dieser Güter kam zu uns hernieder nicht bloß als Erlöser, sondern auch als Lehrer. Er ging zuerst den Weg des Heiles, den er uns zeichnete; nur wer ihm nachfolgt, kommt zum Ziele. Vergebens will derjenige ihm angehören, der nicht seines Geistes ist. Der Himmel ist dem Menschen geöffnet, aber nur demjenigen, der dem Gottmenschen ähnlich ist. Nichts Irdisches geht hinein. Wir müssen alle niedrigen Wünsche uns versagen und jene Gesinnung anziehen, die er als himmlischer Arzt uns, da wir tot waren, mitteilte. Der irdische Mensch liebt den Freund und Wohltäter. Der Mensch, der einst im Reiche der Ewigkeit herrschen will, liebt auch seine Feinde und verbreitet über sie seine Wohltaten nach dem Beispiele desjenigen, der seine Sonne aufgehen und regnen lässt über das Feld des Gerechten und den Weinberg des Sünders. Dadurch unterscheidet sich der Sohn der Finsternis von dem Kind des Lichtes, der ein Erbe ist jenes Urquells von Liebe.

Mensch, verzeihe, du bist nicht mehr ein niedriges Geschöpf, bist schon ein himmlischer Mensch und trägst auf Erden schon das herrliche Zeichen deiner erhabenen Bestimmung. Nein, nie hat die Erde etwas Größeres gesehen als den Menschen unter den Beschimpfungen. Vergebens sucht die irdische Weisheit ihn nachzuahmen. Der Stoiker hat es so weit gebracht, dass er mitten unter den Verfolgungen den Beleidiger verachten und den Schein des Friedens annehmen konnte. Der Christ allein vermag so viel über sich, dass er ruhig verbleibt, indem er seinen Beleidiger liebt. Nur Gott konnte dem Menschen das Beispiel und die Kraft zu einer solchen Größe verleihen.

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autoren/a/augustinus/augustinus-manuale/augustinus-nachtgedanken_13_nacht.txt · Zuletzt geändert: von aj
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