Anselm von Canterbury – Buch der Betrachtungen - Neunte Betrachtung. - Von der Menschheit Christi.

Anselm von Canterbury – Buch der Betrachtungen - Neunte Betrachtung. - Von der Menschheit Christi.

Jesu von Nazareth, dem von den Juden unschuldig verurteilten, von den Heiden gekreuzigten, wollen wir Christen göttlichen Dienst und Ehre erweisen. Den Erlöser in seiner Schwachheit von unserer Seite, die wir Christen sind, ehrfurchtsvoll zu verehren, liebend zu umfassen, tapfer nachzuahmen gebührt sich, ist heilsam und ehrenvoll. Denn das sind die stärksten Werkzeuge, durch welche die allmächtige Kraft und unerforschliche Weisheit Gottes die Wiederherstellung der Welt mächtig und wunderbar gewirkt hat und bis jetzt wirkt. Christus der Herr erniedrigte sich ein wenig unter die Engel, um uns den Engeln gleich zu machen, und wer sollte sich Christo zu lieb nicht demütigen? Christus der Herr ist für unsere Sünden gekreuzigt worden, und versüßte das Bittere des Kreuzes für seine Lieblinge: er starb und tötete den Tod, damit wir durch ihn leben möchten: und wer sollte Christus den Herrn nicht lieben? wer nicht für Christus leiden? Christus ging durch des Kreuzes Schmach zur Herrlichkeit des Himmels ein, und zu seiner Verehrung ward ihm von Gott dem Vater alle Gewalt gegeben im Himmel und auf der Erde, damit ihn alle Engel Gottes anbeten, und in seinem Namen sich jedes Knie beuge derer, die im Himmel, auf der Erde und in der Unterwelt sind.

In was anderem also, o Christ, hast du dich zu rühmen, als im Namen deines gekreuzigten Herrn Jesu Christi: in dem Namen, der über jeden Namen geht; in welchem im Himmel gesegnet sein wird, wer auf Erden gesegnet ist?

Rühmt euch in dem heiligen Namen, Söhne der Erlösung; gebt die Ehre eurem Erlöser, der Großes an euch getan hat, und verherrlicht mit mir seinen Namen, indem ihr sprecht: Wir beten dich an, Christus, König Israels, Fürst der Könige der Erde, Licht der Heiden, Herr der Heerscharen, stärkste Macht des allmächtigen Gottes. Wir beten dich an, kostbarer Preis unserer Erlösung, Friede bringendes Sühnopfer, das du allein durch die wunderbare Süßigkeit deines Geruchs den Vater, der im Himmel wohnt, zum Herabblicken auf die Niedrigkeit geneigt gemacht, und ganz allein ihn mit uns versöhnt hast. Deine Erbarmungen, Christus, rühmen wir, von dem Andenken an deine Lieblichkeit haben wir den reichlichsten Nachgeschmack; dir, Christus, opfern wir das Opfer des Lobes für den Reichtum deiner Güte, die du uns erwiesen hast, dem nichtswürdigen Samen, den lasterhaften Kindern.

Denn als wir noch deine Feinde waren, Herr, und der alte Tod seine Herrschaft über alles Fleisch ausübte, der aller Same Adams durch das Gesetz der Urschuld unterworfen war, gedachtest du deiner überreichen Barmherzigkeit, und sahst von deiner hohen Behausung auf dieses Tal der Tränen und des Elends herab. Du sahst, Herr, die Betrübnis deines Volkes, und innerlich gerührt von der Süßigkeit der Liebe beschlossest du über uns Gedanken des Friedens und der Erlösung zu denken. Und obgleich du zwar der Sohn Gottes warst, wahrer Gott, mit Gott dem Vater und dem heiligen Geist gleich ewig und gleichen Wesens, wohnend in unzugänglichem Licht, und Alles durch das Wort deiner Macht tragend, so war es dir doch nicht zu gering, dabei deine Erhabenheit zum Zuchthaus unserer Sterblichkeit herabzuneigen, um dort unser Elend sowohl zu kosten als auch zu verschlingen und uns herrlich wieder herzustellen. Es war deiner Liebe zu wenig, zur Vollendung des Werkes unseres Heiles Cherubim oder Seraphim, oder einen der Engel zu bestimmen: du ließt dich herab, selbst zu uns zu kommen nach dem Befehl des Vaters, dessen übergroße Liebe wir an dir erfahren haben. Du kamst, sage ich, nicht indem du den Platz wechseltest, sondern indem du deine Anwesenheit uns durch das Fleisch darlegtest. Du ließt dich vom königlichen Thron deiner hohen Herrlichkeit herab in ein niedriges, in seinen Augen verächtliches Mädchen, gesiegelt mit dem ersten Gelübde jungfräulicher Enthaltsamkeit. In ihrem heiligen Leib ließ dich die unaussprechliche Kraft des heiligen Geistes empfangen und geboren werden in wahrer menschlicher Natur, so dass aus Veranlassung der Geburt weder die Majestät der Gottheit in dir, noch die Unversehrtheit der Jungfräulichkeit in der Mutter verlegt wurde.

O liebenswürdige, o bewundernswerte Herablassung! Du Gott der unermesslichen Herrlichkeit verschmähtest es nicht, ein verächtlicher Wurm zu werden; du Herr Aller, wolltest als Mitknecht der Knechte erscheinen. Es schien dir nicht genug, unser Vater zu sein; auch unser Bruder zu sein, ließt du, Herr, dich herab. Und du, Herr des Alls, der nichts bedarf, scheutest dich nicht, sogleich beim Eintritt in die Welt die Widerwärtigkeiten der verachtetsten Armut zu kosten. Denn wie die Schrift sagt (Luk. 2,7.), hattest du bei deiner Geburt keinen Platz in der Herberge, noch eine Wiege zu deiner Aufnahme im zartesten Alter, sondern du würdest in die armselige Krippe eines stinkenden Stalles, du der die Erde mit der Hand umspannst, in Windeln gewickelt gelegt und die Herberge, die Krippe nämlich hatte deine Mutter gemeinschaftlich mit vernunftlosen Tieren. Tröstet euch, tröstet euch, die ihr im Schmutz der Armut herangezogen werdet, denn mit euch ist Gott in der Armut, er liegt nicht in einem ausgesuchten und glänzenden Schlafgemach, noch trifft man ihn im Land derer, die ein angenehmes Leben führen. Was rühmst du dich noch, o Reicher, eine Kotlache mit der Umhüllung eines gemalten und ausgesuchten Bettes, wenn der König der Könige es vorzog, durch seine Lagerstätte das Stroh der Armen zu Ehren zu bringen? Was verwünschst du harte Lager, wenn ein zartes Kindlein, in dessen Hand Alles sich befindet, deinen Seidekissen, deinen Flaumfedern die harten Strohhalmen des Viehs vorgezogen hat? Aber sogar diese deine zarteste Kindheit, o Christus, war nicht sicher vor den Schwertern der Verfolger. Denn noch lagst du als Säugling an der süßen Mutterbrust, als der Engel dem Joseph im Traume erschien und sprach: Steh auf und nimm das Kind und seine Mutter und fliehe nach Ägypten, und bleibe daselbst, bis ich es dir sagen werde: denn es steht bevor, dass Herodes das Kind aufsucht, um es zu töten (Mat. 2,13). Schon von da an begann, guter Jesus, dein Leiden. Nicht allein aber jene Misshandlung deiner Kindheit hattest du an dir selbst zu erdulden, sondern auch den Tod in deinen Kleinen, die des Herodes Unmenschlichkeit zu vielen Tausenden an der Mutterbrust hinschlachten ließ.

Nach dem Ablauf der zarteren Kindheit aber gabst du uns in Demut das Beispiel, die Wahrheit zu lernen. Denn du saßt nicht im Rate der Eitelkeit (Ps. 25,4), sondern in der Mitte der Lehrer, sie fragend und anhörend, während du doch der Herr der Wissenschaften warst (1. Kön. 2,3) und die Weisheit Gottes des Vaters selbst. Aber auch ein Muster von Gehorsam botest du uns, indem du, der Weltherrscher, demütig unter dem Befehle der Eltern lebtest. Als du aber in das kräftigere Alter eintratest, tratst du, um die Hand an das Starke zu legen, zum Heil deines Volkes hervor wie ein starker Held, um den Weg unseres ganzen Elends zu laufen (Ps. 18,7). Und zwar gingst du zuerst, um in Allem dich deinen Brüdern gleichzustellen, zu deinem die Sünder zur Buße taufenden Knecht, wie ein Sünder; auch du verlangtest die Taufe, unschuldiges Gottes-Lamm, das nie auch nur ein Sündentröpflein je besudelt hat. Bei deiner Taufe heiligtest du nicht dich durch das Wasser, sondern das Wasser durch dich, um uns durch dasselbe zu heiligen. Von der Taufe gingst du in die Wüste im Geist der Stärke, um es auch nicht an einem Beispiel des einsamen Lebens fehlen zu lassen. Einsamkeit, 40tägiges Fasten, bittern Hunger, Versuchungen des Truggeistes ertrugst du mit Gleichmut, um das Alles uns erträglich zu machen. Erst kamst du zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel (Matth. 10,6), indem du öffentlich die Leuchte des göttlichen Worts zur Erleuchtung des Weltkreises in die Höhe hobst, und indem du Jedermann das Reich Gottes ankündigtest, wardst du die Ursache des ewigen Heils für alle Gehorsamen (Ebr. 5,9) und die Rede durch Wunder, die folgten; die Kraft deiner Gottheit zeigtest du an Allen, die sich übel befanden, indem du Jedermann Alles umsonst gabst, was seinem Heil entsprach, um Alle zu gewinnen. Aber ihr törichtes Herz ward verfinstert (Röm. 1,21), Herr, und sie warfen deine Reden hinter sich (Ps. 49,17) und sie merkten nicht auf alle Wunder, die er unter ihnen verrichtete, mit Ausnahme sehr weniger edlerer Kämpfer, die du unter den Niedrigen und Verachteten auswähltest, um durch sie das Hohe und Starke herrlich zu besiegen (1. Kor. 1,27). Und nicht bloß undankbar blieben sie gegen deine uneigennützigen Wohltaten, sondern taten dir, Herr der Herrscher, auch Schmach an, und taten dir an, was sie wollten (Mat. 17,12). Denn während du Gottes Werke tatest, die kein Anderer tat, was sagten sie? Dieser Mensch ist nicht von Gott (Joh. 9,16); mit dem Fürsten der Teufel treibt er Teufel aus (Mat. 11,18.19). Er hat den Teufel; verführt die Menge; er ist ein Fresser und ein Weinsäufer; ein Freund der Zöllner und Sünder (Luk. 19,15).

Was weinst, was seufzt du, o Mensch Gottes, wenn du beleidigende Worte zu ertragen hast? Hörst du nicht, welche große Beschimpfungen dir zu lieb auf Gott deinen Herrn gefallen sind? Wenn sie den Hausvater Beelzebub geheißen haben, wie viel mehr seine Hausgenossen? (Mat. 10,25.) Und wenn sie nun diese und ähnliche Lästerungen aussprachen und einigemal mit Steinen dich angriffen, guter Jesus, so nahmst du es geduldig hin, und wardst vor ihnen wie ein Mensch, der nicht hört und keine Widerlegung in seinem Mund hat (Ps. 37,15). Zuletzt aber erstanden sie sogar dein gerechtes Blut von deinem Jünger, dem verlorenen Sohn, um dreißig Silberlinge (Mat. 27,9), um deine Seele ohne Ursache in den Tod zu stürzen. Und dir war die Treulosigkeit deines heillosesten Verräters nicht verborgen, als du beim Abendmahl um des Abwaschens willen auch vor ihm niederknietest und seine verfluchten, zum Vergießen deines Blutes schnellen Füße mit deinen heiligsten Händen anzurühren, zu waschen und abzutrocknen dich herabließt (Joh. 13,5). Und noch gehst du mit hochgehaltenem Haupt umher, o Erde und Asche, noch lässt du dich vom Stolz über dich erheben, noch treibt dich Ungeduld umher! Schau den Lehrer der Demut und Sanftmut, den Herrn Jesum Christum an, den Schöpfer aller Wesen, den schrecklichen Richter der Lebendigen und der Toten, wie er vor den Füßen eines Menschen und seines Verräters die Knie beugt. Lerne, dass er sanft und von Herzen demütig ist (Mat. 11,29), und schäme dich über deinen Stolz, erröte über deine Ungeduld. Auch das gehörte zu deiner Sanftmut, Herr Jesu, dass du jenen Treulosen in der Versammlung der Brüder nicht offen bekannt geben und beschämen wolltest, sondern ihn gelinde ermahntest und ihn sein Vorhaben beschleunigen hießest. Trotz all diesem ließ seine Wut nicht von dir ab, sondern er ging hinweg nur mit der Häufung seiner Übeltaten beschäftigt. Wie bist du vom Himmel gefallen, Luzifer, der du frühe aufgingst in den Genüssen des Paradieses! Voll Herrlichkeit erschienst du, Genosse der Himmelsbürger und Gast des göttlichen Worts! Du, der du in Purpur erzogen wurdest, umarmtest den Schmutz! (Klagl. 4,5.) Dann ward deine Familie, Christus, verherrlicht wie eine Gesellschaft von Engeln, dann erst trank aus deinem Mund jene glückliche Versammlung durch reichlichste Überschwemmung mit dem göttlichsten Worte. Damals als jener verdorbene Schlauch hinausgeworfen war, von dem du wusstest, dass er der Eingießung dieser klarsten Flüssigkeit nicht wert war. Nachdem aber das Gebot der Liebe und Geduld der Erlöser gegeben, und das Reich deines Vaters unter die Brüder verteilt war, begabst du dich mit ihnen an den deinem Verräter bekannten Ort, indem du Alles wusstest, was über dich kommen werde. Dort schämtest du dich nicht, die Traurigkeit deiner Seele, die du wegen des bevorstehenden Leidens freiwillig auf dich nahmst, sowie auch deine übrigen Leiden vor den Ohren der Brüder zu bekennen, mit den Worten: Meine Seele ist todbetrübt (Mat. 26,38). Auch beugtest du die Knie und fielst auf dein Angesicht, betend in Bangigkeit und sprechend: Abba Vater, mein Vater, ist es möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber (Mat. 26,39). Und die Bangigkeiten deines überaus betrübten Herzens tat jener blutige Schweiß kund, der während des Gebets von deinem heiligsten Fleische tropfenweise zur Erde herablief. Herrscher, Herr Jesus Christus, woher diese heftige Traurigkeit deiner Seele? woher die Bangigkeit so großen Schweißes, und das so bange Flehen? Botest du nicht dem Vater ein ganz freiwilliges Opfer an, und nahmst nichts wider Willen auf dich? Allerdings, Herr. Wir erachten aber, du hast auch das zum Trost deiner schwachen Glieder übernommen, damit nicht etwa Einer verzweifle, wenn das schwache Fleisch murren sollte, während doch der Geist zum Leiden bereitwillig ist. Damit wir nämlich auch noch größeren Reiz zur Liebe und Dankbarkeit gegen dich haben möchten, drücktest du die natürliche Schwäche des Fleisches durch solche Zeichen an dir aus, um uns dadurch zu belehren, du habest in Wahrheit unsere Schwachheiten selbst getragen, und nicht ohne Schmerzgefühl die Leidensdornen durchlaufen. Denn jene Stimme scheint die Stimme des Fleisches, nicht des Geistes gewesen zu sein, nach dem, was du weiter unten beifügtest: Der Geist ist zwar bereitwillig, das Fleisch aber schwach (Mat. 26,41). Denn wie bereitwillig dein Geist, guter Jesu, zum Leiden gewesen, hast du deutlich gezeigt, als du den zugleich mit deinem Verräter kommenden Blutmännern, die dir nach dem Leben mit Laternen, Fackeln und Waffen in der Nacht strebten, von selbst entgegengingst und mit dem Zeichen, das sie vom Anführer der Schandtat bekommen hatten, dich selbst kundgabst (Joh. 18,3.4). Denn dich widerte die blutige Bestie, die zum Kuss deines Mundes herzutrat, nicht an, sondern du legtest süß den Mund, in dem kein Betrug gefunden worden (Jes. 53,9), auf den Mund, der von Bosheit überfloss (Mat. 26,49).

O unschuldiges Lamm Gottes, was hast du mit jenem Wolf zu tun? Wie stimmt Christus mit Belial zusammen? (2. Kor. 6,15.) Aber auch das gehörte zu deiner Güte, Herr Jesus, dass du jenem Alles erwiest, was die Hartnäckigkeit seines schlechten Herzens hätte erweichen können. Denn auch an die alte Freundschaft hast du ihn mit den Worten erinnert: Freund, wozu bist du gekommen? (Mat. 26,50.) Und mit Abscheu vor seinem Verbrechen wolltest du das Herz des Gottlosen treffen, als du zu ihm sagtest: Juda, mit einem Kuss verrätst du den Menschensohn? (Luk. 26,48.) Und: Siehe, Philister über dir Samson (Richt. 16,14-16). Es schreckte jene nicht von dir zurück, dass du in der Stunde deiner Gefangennehmung mit deinem allmächtigen Arme sie zur Erde warfst, und zwar nicht zu deiner Verteidigung, sondern damit die menschliche Anmaßung erkennen möchte, sie vermöge nichts wider dich, als soweit es von dir gestattet würde. Und wer könnte es ohne Seufzen vernehmen, wie sie in jener Stunde ihre menschenmörderischen Hände an dich legten und deine unschuldigen Hände, guter Jesus, in Bande legten, und dich, das sanfteste Lamm, das keinen Widerspruch erhob, wie einen Räuber schmählich zum Opfern hinrissen? Aber auch dann hörte der Honig deiner Süßigkeit nicht auf, deine Barmherzigkeit auf deine Feinde herabzuträufeln. Denn sowohl das durch deinen Jünger verstümmelte Ohr des Feindes heiltest du; als du auch den Eifer deines Verteidigers mäßigtest, dass er die, dich dahinrissen, nicht verletzen sollte. Ihre fluchwürdige, weil hartnäckige Wut, die weder die Erhabenheit des Wunders, noch die Liebe der Wohltat brechen konnte.

Du stelltest dich vor den Rat der gegen dich boshaft gesinnten Hohenpriester und bekanntest die Wahrheit, so weit es sein musste, worauf du als wegen Gotteslästerung zum Tod verurteilt wurdest. Liebenswürdigster Herr Jesus, welch' große Unbill hattest du dort vom eigenen Volk zu erdulden! Dein ehrenvolles Angesicht, in das zu schauen der Engel Sehnsucht ist, das alle Himmel mit Freude erfüllt, vor dem alle Reichen des Volks Abbitte tun (Ps. 44,13), verunreinigten sie mit dem Speichel ihrer besudelten Lippe, schlugen es mit gottesschänderischen Händen, bedeckten es zu Verspottung mit einem Tuch, und gaben dir, dem Herrn der ganzen Schöpfung, wie einem verächtlichen Sklaven Maulschellen. Auch noch sogar dein Leben legten sie zum Verschlingen in die Hand eines unbeschnittenen Hundes. Sie führten dich nämlich gebunden vor den Landpfleger Pilatus und verlangten, du solltest den Kreuzestod zur Strafe erleiden müssen, du, der nichts von einer Sünde wusste, und man solle ihnen den Mörder freigeben (Apstlg. 3,13.14.), indem sie den Wolf dem Lamm, den Kot dem Gold vorzogen. unwürdige und unselige Verkehrtheit! Und zwar wusste jener Gottlose wohl, dass man so aus Neid wider dich handle, und hielt seine befleckten Hände doch nicht von dir ab, sondern erfüllte deine Seele ohne Grund mit Betrübnis. Zum Verspotten sandte er dich dem Herodes, bekam dich nach der Verspottung wieder, und ließ dich nackt vor den Spöttern dastehen und unbarmherzig mit den bittersten Streichen deinen jungfräulichen Leib zerfleischen, Wunden, Male an Malen grausam schlagend.

Auserwähltes Kind Gottes, meines Herrn, was hattest du begangen, das so große Bitterkeit, was, das so große Beschämung verdient hätte? gar nichts: ich verlorener Mensch war die Ursache deiner ganzen Not, deiner ganzen Beschämung. Ich aß die saure Traube und dir wurden die Zähne davon stumpf, weil du damals erstattetest, was du nicht geraubt (Ps. 68,5). An all dem hatte die Gottlosigkeit der treulosen Juden noch nicht genug. Zuletzt aber wardst du in die Hände unbeschnittener Soldaten gestoßen, um den schmählichsten Tod zu sterben. Es war jenen Gottesschändern nicht genug, dich zu kreuzigen, hätten sie nicht vorher selbst auch allen Spott über deine Seele ausgegossen (Ps. 37,8). Denn was sagt die Schrift von ihnen? Und sie versammelten um ihn die ganze Kohorte ins Richthaus, und indem sie ihn entkleideten, legten sie ihm einen Purpurrock an und hüllten ihn in einen Scharlachmantel; und flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie ihm auf das Haupt, und ein Rohr in seine Rechte und spotteten seiner mit Kniebeugen, indem sie sagten: Sei gegrüßt, König der Juden; und gaben ihm Backenstreiche, spuckten ihn an, nahmen das Rohr und schlugen auf sein Haupt. Und nachdem sie ihn verhöhnt hatten, zogen sie ihm seine Kleider an, und führten ihn fort um ihn zu kreuzigen, indem er sein Kreuz trug. Und sie führten ihn nach Golgatha und sie gaben ihm Myrrhenwein mit Galle vermischt zu trinken; und nachdem er davon gekostet hatte, wollte er nicht trinken (Matth. 27,27-34). Hierauf kreuzigten sie ihn, und zwei Räuber mit ihm, zu beiden Seiten, Jesum aber in der Mitte. Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun (Luk. 23,34). Hierauf als Jesus wusste, dass alles vollbracht war, damit die Schrift erfüllt würde, sprach er: Mich dürstet. Und Einer von ihnen lief, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig, und steckte ihn auf ein Rohr, und gab ihm zu trinken. Nachdem er aber den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht (Joh. 19,28-30). Und mit lauter Stimme rief er aus und sprach: Vater in deine Hände empfehle ich meinen Geist (Luk. 23,46), und er neigte sein Haupt und gab seinen Geist auf. (Joh. 19,30). Hierauf öffnete einer der Soldaten seine Seite mit einer Lanze und sogleich kam Blut und Wasser heraus (Joh. 19,34).

Erwache nun, meine Seele, schüttle den Staub ab, und betrachte aufmerksamer diesen denkwürdigen Mann, den du im Spiegel der Rede des Evangeliums gleichsam gegenwärtig erblickst. Habe acht, meine Seele, wer der ist, der einhergeht gleichsam mit dem Bild eines Königs und nichts desto weniger voll der Beschämung des verächtlichsten Sklaven. Mit einer Krone geht er einher, aber gerade seine Krone ist eine Qual für ihn und verwundet seinen schönen Scheitel mit tausend Stichen. In königlichen Purpur ist er gekleidet, aber er wird mehr darin verachtet als geehrt. Ein Zepter trägt er in der Hand, aber gerade mit diesem schlägt man sein ehrwürdiges Haupt. Man fällt vor ihm zur Erde nieder zur Anbetung, ruft ihn als König aus, und stürzt sogleich herbei, um seine liebenswürdigen Wangen anzuspucken, seine Kinnbacken schlagen sie mit ihren Händen, und seinen Ehrenhals entehren sie. Siehe weiter, wodurch sonst noch jener Mann beängstigt und verspien und verachtet wird. Man befiehlt ihm, unter der Last des Kreuzes den Rücken zu krümmen, und seine eigene Schmach zu tragen. An den Ort der Hinrichtung gebracht wird er mit Myrrhe und Galle getränkt. Er wird ans Kreuz erhoben und spricht: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun (Luk. 23,34). Von welcher Beschaffenheit ist der, der bei all seinen Drangsalen auch nicht einmal seinen Mund auftat, um ein Wort entweder der Klage oder der Entschuldigung, oder der Drohung oder des Fluches wider jene verfluchten Hunde vorzubringen und zuletzt ein Wort des Segens, wie man es noch nie gehört hat, über seine Feinde ausgoss? Was gibt es Sanftmütigeres als diesen Mann? was hast du, meine Seele, Gütigeres gesehen? Schaue ihn aber noch aufmerksamer an, weil er sowohl großer Bewunderung als auch des zartesten Mitleides würdig erscheint. Siehe ihn nackt und von Schlägen zerfleischt, mitten unter Räubern schmählich ans Kreuz mit eisernen Nägeln angeheftet, mit Essig am Kreuze getränkt und nach seinem Tod mit einer Lanze in der Seite verwundet und reichliche Blutbäche aus den fünf Wunden der Hände, Füße und Seite vergießend. Lasst Tränen fließen, meine Augen; schmilz, meine Seele, im Feuer des Mitleids mit der Not jenes liebenswürdigen Mannes, den du bei so großer Sanftmut in so großen Schmerzen siehst.

Und zwar hast du nun, meine Seele, seine Schwäche gesehen und Mitleiden gehabt; habe nun acht auf seine Majestät, so wirst du dich wundern. Denn was sagt die Schrift? Von der sechsten Stunde aber an entstand Finsternis auf der ganzen Erde bis zur neunten Stunde und die Sonne ward verfinstert (Luk. 23,44.45); und der Vorhang des Tempels zerriss von Oben bis Unten: und die Erde bebte und die Felsen spalteten sich; und die Gräber taten sich auf und viele Leiber von entschlafenen Heiligen standen auf (Matth. 27,51.52). Von welcher Beschaffenheit ist der, dass Himmel und Erde Mitleiden mit ihm haben, dessen Tod die Toten lebendig macht? Erkenne, meine Seele, erkenne; das ist der Herr Jesus Christus, dein Heiland, der eingeborne Sohn Gottes, wahrer Gott, wahrer Mensch, der allein unter der Sonne ohne Makel erfunden worden ist. Und siehe, wie er zu den Übeltätern gezählt (Jes. 53,12) und wie ein Aussätziger und der letzte unter den Menschen angesehen worden ist (Ebends. 3,4). Und wie eine verscharrte Fehlgeburt, so ward er hinausgeworfen vom Schoß seiner Mutter, der unglücklichen Synagoge (Joh. 3,16) hinausgeworfen. Jener Schönste der Menschenkinder, wie ward er der Entstellteste unter den Menschenkindern! Ward er doch verwundet um unserer Bosheiten willen, und zerschlagen wegen unserer Vergehungen (Jes. 53,5). Und er ward ein Brandopfer des süßesten Geruchs in deinen Augen, Vater der ewigen Herrlichkeit, um deinen Unwillen so von uns abzuwenden, und bei den Himmlischen uns bei ihm einen Sitz zu bereiten.

Siehe, heiliger Herr Vater, von deinem Heiligtum und von deiner erhabenen Himmelswohnung herab, und schau an dieses heilige Opfer, das dir unser Hoherpriester, dein heiliges Kind Jesus, für die Sünden seiner Brüder darbringt, und lass dich versöhnen für die Größe unserer Bosheit. Siehe die Stimme des Blutes unseres Bruders Jesu schreit zu dir vom Kreuz. Denn wie geht es denn zu, Herr, dass er daran hängt? Er hängt, sage ich, weil Vergangenheit wie Gegenwart vor dir ist. Erkenne, Vater: das ist der Rock deines Sohnes Joseph; ein sehr böses, wildes Tier hat ihn zerrissen, und in seiner Wut sein Gewand zertreten, und die ganze Schönheit seines übrigen Körpers besudelt, und siehe, es ließ fünf klägliche Risse daran zurück. Das ist das Kleid, das dein unschuldiges Kind Jesus für die Sünden seiner Brüder in der Hand der ägyptischen Hure zurückließ, den Verlust des Mantels für geringer haltend als den der Keuschheit, und er zog es, des Mantels seines Fleisches beraubt, vor, in das Gefängnis des Todes hinabzusteigen, eher als um der Weltherrlichkeit willen auf die ehebrecherische Stimme zu hören, auf jene Stimme, sage ich, durch die es hieß; Das Alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest (Matth. 4,9); und das hieße freilich bei der Ehebrecherin schlafen. Und nun, Herr Vater, wissen wir, dass dein Sohn lebt, und über das ganze Land Ägypten herrscht (1. B. Mos. 45,26), ja überall, soweit deine Herrschaft reicht. Denn herausgeführt in dein Reich aus dem Gefängnis des Todes und der Hölle, und mit abgeschnittenem Haar der Sterblichkeit, nach gewechseltem Kleid des Fleisches, blühte er aufs Neue in der Schönheit der Unsterblichkeit, und mit Herrlichkeit nahmst du ihn auf. Er entkräftete die Macht des schrecklichen Pharao, und drang mit edlem Triumph in die Himmel mit eigener Kraft. Und siehe mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt steht er für uns zur Rechten deiner Majestät vor deinem Angesicht. Denn unser Bruder und unser Fleisch ist er (1. B. Mos. 37,27).

Siehe herab, Herr, auf das Angesicht deines Gesalbten (Ps. 83,10), der dir bis zum Tod gehorsam ward (Phlp. 2,8), und nicht aus deinen Augen mögen auf ewig die Narben seiner Wunden kommen, um dich zu erinnern, welch' große Genugtuung du für unsere Sünden von ihm bekommen hast. Hänge doch, Herr, an die Waage die Sünden, durch welche wir deinen Zorn verdient haben, und das Unglück, das dein unschuldiger Sohn für uns erlitten hat. Gewiss, Herr, wird letzteres schwerer sich zeigen, und würdiger, dass du selbst Barmherzigkeit auf uns ausgießt, als es jene sein mögen, oder dass du bei ihnen deine Erbarmungen im Zorn zurückbehältst. Dank sage dir, heiliger Herr Vater, jede Zunge für deine übergroße Liebe, der du des einzigen Sohnes deines Herzens nicht geschont, sondern ihn für uns in den Tod dahin gegeben hast, damit wir einen so großen und so getreuen Fürsprecher in den Himmeln vor dir haben möchten.

Und welchen Dank soll ich dir, Herr Jesu, stärkster Eiferer, welche würdige Vergeltung erstatten, ich ein Mensch, Staub und Asche und armseliges Gebilde? Denn was hättest du für mein Heil tun sollen, und hast es nicht getan? Von der Fußsohle bis zum obersten Scheitel tauchtest du dich unter in den Leidensgewässern, um mich ganz aus ihnen herauszuziehen; und die Wasser drangen dir ans Leben (Ps. 68,2). Denn sogar dein Leben schlugst du in den Tod, um mein verlornes Leben mir zurückzugeben. Und siehe mit doppelter Schuld hast du mich verpflichtet, denn sowohl für das, was du gabst, als auch für das, was du meinetwegen verlorst, bin ich dein Schuldner. Und für mein mir zweimal von dir geschenktes Leben, einmal in der Schöpfung, einmal in der Erlösung, habe ich nichts, was ich dir mit mehr Recht erstattete, als eben es; aber für deine kostbare, so sehr geängstigte Seele finde ich nichts Würdiges, was ein Menschen erstatten könnte. Denn könnte ich Himmel und Erde samt alle ihre Zier dafür zum Ersatz geben, so erreichte ich auch so nicht entfernt das Maß einer Vergeltung. Dass ich dir aber ebendas, was ich habe und vermag, mein Herr, zum Ersatz bieten darf, ist dein Geschenk. Also musst du geliebt werden von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Geist, von ganzer Kraft und nur deinen Fußstapfen, der du für mich zu sterben dich gewürdigt hast, muss man nachgehen. Und wie soll das bei mir anders möglich sein, als durch dich? Meine Seele hänge dir an (Ps. 62,9), weil ihre ganze Kraft von dir abhängt.

Und nun, Herr, Jesus mein Erlöser, dich bete ich als wahren Gott an, an dich glaube ich, auf dich hoffe ich und seufze mit aller mir möglichen Sehnsucht nach dir. Komm meiner Unvollkommenheit zu Hilfe in deines Leidens glorreiche Zeichen, mit denen du mein Heil gewirkt, versenke ich mich ganz. Deines siegreichen Kreuzes königliches Banner bete ich in deinem Namen, o Christus, an; deinem Dornenkranz, den Nägeln, von deinem Blut rot, der Lanze, die deine heilige Seite durchdrang, deinen Wunden, deinem Blut, deinem Tod, deinem Begräbnis, deiner siegreichen Auferstehung und Verherrlichung erweise ich, o Christus, tiefste Anbetung und Preis. Denn ein Lebensatem weht mir in all diesem entgegen. Durch ihren belebenden Wohlgeruch erwecke, Herr, meinen Geist vom Sündentod. Durch ihre Kraft behüte mich vor der Arglist Satans, und stärke mich, dass sowohl das Joch deiner Gebote mir lieblich, als auch des Kreuzes Last, das du mir nachzutragen befiehlt, den Schultern meiner Seele leicht zu tragen sei (Matth. 11,30). Was ist denn meine Stärke, dass ich deinem Befehl zufolge die so vielfältigen Drangsale der Welt mit ungebeugtem Mut tragen könnte? Sind meine Füße wie die der Hirsche (Ps. 17,34), dass ich dir, dem schnellen Läufer, durch Dorn und Dickicht der Leiden nachzukommen vermöchte? Aber höre, ich bitte, mein Rufen, und neige über deinen Knecht jenes liebliche Kreuz, welches ein Lebensholz für die ist, die danach greifen, so werde ich, wie ich auch hoffe, munter laufen. Unermüdlich will ich es dir nachtragen, das Kreuz, das deine Feinde dir bereitet haben. Lege, sage ich, jenes göttlichste Kreuz auf meine Schultern, dessen Breite die Liebe, mit ihrer Ausdehnung auf die ganze Schöpfung; dessen Länge die Ewigkeit, dessen Höhe die Allmacht, dessen Tiefe die unerforschliche Weisheit ist. Hefte daran meine Hände und meine Füße und mache deinen Knecht vollkommen dir gleich im Leiden. Verleihe mir, ich flehe, dass ich mich von den Werken des Fleisches, die du hasst, enthalte, und Gerechtigkeit übe, die du liebst, und in Beiden deine Verherrlichung suche und zwar will ich mir vorstellen, meine Linke sei mit dem Nagel der Mäßigkeit, die Rechte aber mit dem Nagel der Gerechtigkeit an jenes erhabene Kreuz geheftet. Verleihe mir, dass mein Geist beständig in deinem Gesetz sinnt, und jeder Gedanke sich beständig auf dich wirft; und meinen rechten Fuß hefte an das nämliche Lebensholz mit dem Nagel der Klugheit. Gib, dass weder das unglückliche Glück des hinfälligen Lebens mein Empfindungsvermögen, den Diener meines Geistes, schwäche, noch ein glückliches Unglück dem Lohne meines ewigen Lebens Eintrag tue, und auch mein linker Fuß soll durch den Nagel der Stärke am Kreuz festhalten. Damit man aber an mir auch etwas den Dornen deines Hauptes Ähnliches sehe, so werde, bitte ich, meinem Geist auch die Züchtigung heilsamer Buße verliehen, und das Mitleiden mit fremdem Elend, und der Reiz mit Eifer nach dem zu trachten, was vor dir recht ist, und dass ich in meinem Kummer mich an dich wende, wenn sich mir ein dreifacher Stachel einbohrt (Ps. 31,4). Auch den Schwamm auf dem Rohr magst du meinem Mund darreichen, und die Bitterkeit des Essigs meinem Gaumen beibringen. Mögest du durch deine Schriften meinen Geist sehen und schmecken lassen, wie diese blühende Welt gleichsam ein leerer Schwamm und ihre ganze Lust bitterer als Essig ist. Ja, Vater, das geschehe an mir, dass jener goldene Kelch Babylons, der die ganze Erde berauschte (Jerm. 51,7.), mich weder durch eitlen Glanz, noch durch trügerische Süßigkeit berausche, wie die, welche Finsternis für Licht und Licht für Finsternis, Bitteres für süß und Süßes für bitter halten (Jes. 5,20). Der Myrrhenwein ist mir deshalb verdächtig, weil du nicht davon trinken wolltest; vielleicht weil er die entsetzliche Grausamkeit deiner Kreuziger anzeigte. Auch nach deinem Leben bringenden Tod bilde deinen Knecht, indem du es an mir dahin bringst, dass ich zwar der Sünde dem Fleisch nach sterbe, aber der Gerechtigkeit lebe dem Geist nach. Um mich aber rühmen zu können, dass ich das vollständige Bild des Gekreuzigten an mir trage, se drücke doch auch das, was nach deinem Tod die unersättliche Bosheit der Gottlosen an dir verübt hat, an mir aus zur Verähnlichung. Es verwunde mein Herz dein lebendiges und wirksames Wort tiefer eindringend als die schärfste Lanze, und das Innerste meiner Seele erreichend (Ebr. 4,12) und schaffe so in ihr, gleichsam an meiner rechten Seite, an der Stelle des Bluts und Wassers, die Liebe zu dir und meinen Brüdern. Zuletzt hülle auch in die reine Leinwand des ersten Kleides meinen Geist, um darin zu ruhen, wenn ich zu dir hingehe an den Ort des bewundernswerten Zeltes (Ps. 41,5), und du mich verbirgst, bis dein Grimm vorüber ist (Jes. 26,20).

Am dritten Tag aber, nach dem Tag der Arbeit, nach dem Tage aufrichtiger Verherrlichung, am frühen Morgen des beständigen Sabbats erwecke mich Unwürdigen unter deinen Kindern, damit ich in meinem Fleisch deine Herrlichkeit sehe, und mit der Freude an deinem Angesicht erfüllt werde (Ps. 15,11). O mein Heiland, und mein Gott, kommen, kommen mag, ich flehe, die Zeit, dass ich das, was ich jetzt glaube, endlich mit offenen Augen schaue, was ich jetzt hoffe und von ferne grüße, ergreife, was ich jetzt nach Kräften wünsche, mit den Armen meiner Seele umfasse und küsse, und ganz mich in den Abgrund deiner Liebe versenke. O mein Heiland und mein Gott! Indessen aber preise meine Seele deinen Heiland, und verherrliche seinen Namen, der heilig und voll der heiligsten. Ergötzlichkeiten ist.

O wie gut und lieblich bist du, Herr Jesus, für die Seele, die dich sucht, Jesus, Erlöser der Gefangenen, Heiland der Verlorenen, Hoffnung der Verbannten, Stärke der sich Abmühenden, Rast des beängstigten Geistes, süßer Trost und liebliche Labung der tränenvollen und dir im Schweiß nachlaufenden Seele, Krone der Triumphierenden, einziger Lohn und Freude der Himmels - Bürger, reichlichlichste Quelle aller Gnaden, hehres Kind des höchsten Gottes. Höchster Gott, dich preise alles, was oben im Himmel, und was unten auf der Erde ist, weil du groß bist, wie auch dein Name. O unverwelkliche Schönheit des erhabenen Gottes und reinste Klarheit des ewigen Lichts, das alles Leben mit Leben belebt, Licht, das jedes Licht erleuchtet und in beständigem Glanze Millionen leuchtender Lichter vor dem Thron deiner göttlichen Majestät von der ersten Morgendämmerung an unterhält. O du ewige und unnahbare, hell und süß hervorfließende Quelle, dem Anblick der Sterblichen verborgen, deren Welle ohne Ursprung, deren Tiefe ohne Grund, deren Höhe ohne Ziel, deren Breite nicht zu umschreiben, deren Reinheit nicht zu trüben ist. Das Herz des höchsten Gottes stößt dich aus aus dem undurchdringlichen Abgrunde seiner Tiefe, das Leben das Leben, das Licht das Licht, der Ewige den Ewige, der Unermessliche den Unermesslichen und in Allem sich Gleichen, und von deiner Fülle haben wir Alle empfangen (Joh. 1,16).

Denn dich reichlichste Quelle alles Guten, kostbares Licht der siebenfachen Gnade, dich, sage ich, liebevollster Geist, flehe ich an, dass, wenn ich nach meiner Gebrechlichkeit zu wenig Einsicht in die Wirklichkeit deiner Majestät hatte, und bei den Geboten des Herrn um das Verstandene im Übermut des Fleisches mich nicht kümmerte, du dich würdigst, mich heimzusuchen und zu erleuchten; um mich dadurch wie es sich gebührt und mir not tut, zu bessern und durch dich Barmherzigkeit für meinen Irrtum zu erlangen, um durch dich, den ich auf diesem gefahrvollen Lebensmeer um Hilfe angerufen habe, ohne Schiffbruch zum Hafen der ewigen Ruhe zu gelangen. Dich also, mildester Vater, bitte ich, der du mich ursprünglich erschaffen, und durch das Leiden deines Eingebornen wieder hergestellt hast, du möchtest mich nur das denken und lieben lassen, was zu deinem Lobe gehört. Weil ich aber gebrechlich bin, und es nicht durchzusetzen vermag, so möchtest du doch durch fleißige Beichte darauf zu sinnen verleihen, wie ich die Gnade deiner Erlösung und Rettung erlangen möge. Und bei allem, was ich sofort tun mag, lass mich ganz aus deiner, und durch deine und in deiner Gnade und zu deinem Lobe gelangen, und schütze mich hinfort vor Gefahren, lass mich in guten Werken zunehmen nach deinem Gebot, und so lange ich in diesem Leibe lebe, dir immer einigen Dienst erweisen. Nach dem Scheiden meiner Seele aber vom Körper gewähre mir Verzeihung für alle Sünden und den Genuss des ewigen Lebens. Durch den, der mit dir lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

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