Hebräer, Kapitel 5
5:1 Denn ein jeglicher Hoherpriester, der aus den Menschen genommen wird, der wird gesetzt für die Menschen gegen Gott, auf daß er opfere Gaben und Opfer für die Sünden;
5:2 der da könnte mitfühlen mit denen, die da unwissend sind und irren, dieweil er auch selbst umgeben ist mit Schwachheit.
5:3 Darum muß er auch, gleichwie für das Volk, also auch für sich selbst opfern für die Sünden.
5:4 Und niemand nimmt sich selbst die Ehre, sondern er wird berufen von Gott gleichwie Aaron.
5:5 Also auch Christus hat sich nicht selbst in die Ehre gesetzt, daß er Hoherpriester würde, sondern der zu ihm gesagt hat: „Du bist mein lieber Sohn, heute habe ich dich gezeuget.“
5:6 Wie er auch am andern Ort spricht: „Du bist ein Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks.“
5:7 Und er hat in den Tagen seines Fleisches Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Tränen geopfert zu dem, der ihm von dem Tode konnte aushelfen; und ist auch erhört, darum daß er Gott in Ehren hatte.1)
Die Tage, welche Jesus im Stand der Erniedrigung auf Erden zugebracht hat, werden Luk. 17,22. Tage des Menschensohnes genannt, weil Er damals als ein Menschensohn sichtbar unter den Menschen wohnte und wandelte. Sie werden aber auch Hebr. 5,7. Tage Seines Fleisches genannt, weil Er in denselben Fleisch, das ist eine sichtbare, fühlbare und schwache menschliche Natur hatte. Nun in diesen Tagen Seines Fleisches, und zwar an einem derselben, der Seiner menschlichen Natur vor andern traurig und schwer war, hat Er Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Thränen geopfert. Es geschah dieses im Garten Gethsemane, wo Er dreimal gebetet, und Sich dabei auf die Kniee niedergelassen hat, und auf die Erde niedergefallen ist. Von einem Geschrei und von Thränen melden die Evangelisten nichts: hingegen erzählt Lukas, Jesus habe nachdem Er von einem Engel gestärkt worden war, gerungen, und heftiger gebetet, und Sein Schweiß sei worden wie die Blutstopfen, die auf die Erde fielen. Es ist kein Zweifel, daß eine Erzählung die andere ergänze. Das heftige Beten geschah mit einer sehr lauten Stimme, oder einem starken Geschrei. Es kamen auch Thränen dazu, wie es denn ohnehin glaublich ist, daß die Augen Jesu nicht werden trocken geblieben sein, da Sein ganzer Leib so viele Feuchtigkeit durch die Schweißlöcher von sich gab, daß der Schweiß zuletzt zu Blutstropfen wurde, die so häufig ausbrachen, daß sie auf die Erde fielen. Alles dieses hat Er Seinem himmlischen Vater geopfert und dargebracht. Mit Ihm hatte Er’s damals allein zu thun, mit Ihm redete Er, und derselbe sah Sein Gebet und Flehen und Seine Thränen mit Wohlgefallen an. Bei einer so ungemeinen und erstaunlichen Begebenheit fragt man billig auch nach der Ursache. Christus betete zu Demjenigen, der Ihn von dem Tod retten konnte, und wurde auch durch die Erhörung befreit von dem Grauen, wie Hebr. 5,7. gesagt wird. Aus diesem Allem ist zu schließen, daß der HErr Jesus, der Sich vorher Seinen bevorstehenden Tod oft vorgestellt, und mehrmals heiter davon geredet hatte, damals, da Er in den Garten Gethsemane gekommen war, ein sehr heftiges Grauen dagegen in Seiner menschlichen Seele empfunden habe. Er durfte dabei keinen Trost des Heiligen Geistes fühlen, Er durfte von der Verherrlichung, die auf Seinen Tod folgen sollte, keinen Vorschmack empfinden. Doch widerstrebte Er bei diesem Begehren keinen Augenblick dem Willen Seines Vaters, sondern sagte immer bei dem Anfang Seiner Bitten: Mein Vater ist’s möglich? ist’s nicht möglich? willst Du? und am Ende derselben: nicht wie Ich will, sondern wie Du willst, nicht Mein Wille, sondern Dein Wille geschehe. Sein menschlicher Wille verhielt sich also gegen den Willen Seines himmlischen Vaters nicht wie ein Widerpart gegen den andern, sondern so, wie sich etwas Schwaches gegen das Starke verhält. Sein Geist war willig, aber Sein Fleisch, Seine mit Grauen erfüllte Menschheit war schwach, und konnte sich nicht ohne ein heftiges Ringen zu dem Willen der Gottheit erheben. Endlich geschahe es aber. Der HErr Jesus wurde durch die Erhörung Seiner Gebete von dem Grauen befreit, und konnte bald hernach ruhig zu Petro sagen: soll Ich den Kelch nicht trinken, den Mir Mein Vater gegeben hat: wie würde aber die Schrift erfüllet? Es muß also gehen. Er empfand hernach alle Leiden auf das Lebhafteste, aber das Grauen empfand Er nicht mehr.(Magnus Friedrich Roos)
Er ist erhört von dem Zagen, heißt die Stelle genauer; und dies Zagen kann gar wohl aus der höllischen Versuchung entsprungen sein, als sei Er ganz und gar verlassen von Gott und Menschen. Es mag vielleicht noch schwerere Versuchungen geben, aber ganz gewiss ist das eine der schwersten: ganz und
gar verlassen zu sein. „Siehe,“ sprach Satan, „Du hast nirgends einen Freund! Dein Vater hat sein mitleidiges Herz vor Dir verschlossen. Kein Engel seiner Herrlichkeit streckt seine Hand aus, Dir zu helfen. Der ganze Himmel hat sich von Dir abgewendet; Du bist verlassen. Schaue Deine Gefährten, mit denen Du freundlich verkehrt hast; wie viel sind sie wert? Du Mariensohn, siehe Deinen Bruder Jakobus, siehe Deinen Lieblingsjünger Johannes und Deinen feurigen Apostel Petrus: wie ruhen und schlafen doch die Trägen, während Du in Deinen Leiden schmachtest!
Siehe, Dir ist kein Freund geblieben, weder im Himmel noch auf Erden. Die ganze Hölle ist gegen Dich verschworen. Ich habe meine Schreckenshöhle geöffnet, ich habe meine Boten überallhin ausgesandt nach den Fürsten der Finsternis, damit sie diese Nacht auf Dich einstürmen, und wir wollen keine Pfeile sparen, wir wollen unsre ganze furchtbare Macht aufbieten, Dich zu stürzen; und was will dann aus Dir werden, Du Einsamer?“ Mag sein, dass die Versuchung solcher Art war; das ist namentlich deshalb glaubhaft, weil die Erscheinung des Engels, der Ihn stärkte, seine Furcht hinwegnahm. Er wurde erhört vor dem Zagen; Er war nicht mehr allein, sondern der Himmel war mit Ihm. Vielleicht eben deshalb kam Er dreimal zu seinen Jüngern zurück, wie ein Dichter sagt: „Dreimal zur einsamen Stätte, und dreimal zurück Ging Er, als sucht‘ Er bei Menschen stärkenden Trost.“ Er wollte sich überzeugen, ob es denn wirklich wahr sei, dass Ihn alle Menschen verlassen hätten; Er fand sie alle schlafend; vielleicht aber fand Er einen schwachen Trost darin, dass sie nicht aus Falschheit schliefen, sondern vor Kummer; dass der Geist wohl willig war, aber das Fleisch schwach. Jedenfalls wurde Er erhört vor dem Zagen.
Jesus fand Erhörung mitten in seinem tiefsten Leiden; meine Seele, auch du findest Erhörung. (Charles Haddon Spurgeon)
5:8 Und wiewohl er Gottes Sohn war, hat er doch an dem, was er litt Gehorsam gelernt.
Es wird uns gesagt, dass der Herzog unsrer Seligkeit durch Leiden ist vollkommen gemacht worden; darum auch wir, die wir sündigen und ferne sind von der Vollkommenheit, uns nicht wundern dürfen, wenn wir gleichfalls berufen werden, durch Leiden hindurchzugehen. Sollte das Haupt mit Dornen gekrönt werden, und die andern Glieder des Leibes dürften sich gemächlich wiegen auf dem sanften Schoße der Behaglichkeit? Musste Christus durch Meere seines teuren Blutes hindurchwaten, um die Krone zu erringen, wie dürften wir in silbernen Schuhen trockenen Fußes zum Himmel eingehen? Nein! unsers Herrn und Meisters Lebenslauf lehrt uns, dass das Leiden notwendig ist, und das wahrhafte, echte Gotteskind darf und mag demselben nicht ausweichen, auch wenn es könnte. Es liegt aber ein sehr tröstlicher Gedanke darin, dass Christus „vollkommen gemacht ist durch Leiden,“ und der ist: dass Er vollkommenes Mitleiden mit uns haben kann. „Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte Mitleiden haben mit unserer Schwachheit.“ In diesem Mitleid Christi finden wir einen kräftigen Trost. Einer der ersten Blutzeugen sagte: „Ich ertrage es alles gern, denn Jesus hat vordem gelitten und leidet nun gegenwärtig in mir; Er hat Mitleid mit mir, und das stärkt mich.“ Liebe gläubige Seele, halte fest an diesem Gedanken in allen Ängsten und Trübsalen. Die Erinnerung an den Herrn Jesum möge euch stärken zur Nachfolge in seinen Fußstapfen. Suchet und findet eine liebliche Erquickung in seinem Mitleid, und seid eingedenk, dass um Christi willen leiden eine Ehre ist, ja, das Leiden um seinetwillen ist mehr als Ehre, es ist Herrlichkeit. Die Apostel freuten sich, dass sie würdig geachtet wurden, die Schmach Christi zu tragen. Gerade so viel der Herr uns Gnade gibt, für Christum zu leiden und mit Christo zu leiden, gerade so viel erzeigt Er uns Ehre. Der Schmuck eines Christen sind seine Trübsale. Die Hoheitsrechte der Könige, die Gott gesalbt hat, sind ihre Leiden, ihre Ängste, ihre Schmerzen. Darum wollen wir uns nicht flüchten vor der Ehre; wir wollen uns nicht abwenden, wenn wir erhöht werden. Die Schmach ehrt uns, und der Schmerz verklärt uns. „Dulden wir, so werden wir mit herrschen.“ So wir mit leiden, so werden wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden. (Charles Haddon Spurgeon)
5:9 Und da er vollendet war, ist er geworden allen, die ihm gehorsam sind, eine Ursache zur ewigen Seligkeit.
5:10 genannt von Gott ein Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks.
Heil mir! Theurer Heiland, Deine Thränenopfer sind angenommen, Dein starkes Geschrei ist bis in den Himmel gedrungen, Deine Seufzer haben das Herz des himmlischen Vaters getroffen, Dein Gott ist mein Gott, Dein Vater mein Vater, Du hast mit wundgerungenen Händen die Pforten des Himmels für mich aufgeschlossen, um Deinetwillen wird mein Flehen erhört. Jauchze, meine Seele, nun darf ich mich unterwinden, mit Gott zu reden, wiewohl ich Erd’ und Asche bin; nun bin ich kein verlorner Sohn mehr, sondern aufgethan sind mir Vaterschooß und Arme; um Deinetwillen thut nun Gott, was ich begehre, und hört mein Schreien und hilft mir. O wie soll ich Dir danken, lieber Heiland, daß Du das für mich gethan? Ich will Dir singen und spielen in meinem Herzen, vom Morgen bis zum Abend will ich Deiner Liebe nicht vergessen, will, wie die Biene an der Blume, an Deinem Worte und Munde hangen, will, wie Jakob, Dich nicht lassen, bis Du mich segnest, will, wie Maria Magdalena, oft zu Deinen Füßen liegen und mit Thränen der Buße und Liebe sie benetzen. Von meinem Kindesrechte, mit dem Vater zu reden, will ich nun all’ mein Lebelang Gebrauch machen, und nicht ablassen, mein Abba! zu schreien. Das Vaterherz ist freundlich gegen mich, nun will ich den himmlischen Vater an jedem Morgen grüßen mit seligem Kindesflehn. Der Vaterschooß ist aufgethan, nun will ich mich jeden Abend mit meinem Gebete still darein legen und in sicherm Frieden hier ruhen. Die Vaterhand ist ausgestreckt über mich; nun will ich sie fassen und günstig halten und mich von ihr getrost führen lassen und Tag für Tag sprechen: „Herr, wie Du willst, so schick’s mit mir im Leben wie im Sterben.“ Und wenn ich sollte matt und müde werden und kalt im Eifer des Gebets, dann fasse mich, Jesu Christe, mit Deiner Hand und ziehe mich tief in den Schatten des Oelgartens, und laß mich Dich sehen, wie Du da im Staube liegst und betest, auf daß Deines Betens Gluth mein kaltes Herz auf’s neue entzünde, und Dein Kämpfen und Dein Ringen mich mit Lust und Muth erfülle, zu rufen und zu flehen so anhaltend, treu und andringend, bis Du mit dem Vater und dem Geiste gar Wohnung machst in mir und ewig bei mir bleibest. Amen. (Johann Friedrich Wilhelm Arndt)
5:11 Davon hätten wir wohl viel zu reden; aber es ist schwer, weil ihr so unverständig seid.
5:12 Und die ihr solltet längst Meister sein, bedürft wiederum, daß man euch die ersten Buchstaben der göttlichen Worte lehre und daß man euch Milch gebe und nicht starke Speise.
Man macht bei Kindern den Anfang alles Unterrichts damit, daß man sie die Buchstaben kennen lehret, denn ohne Kenntniß derselben ist und bleibt ihnen selbst die Fibel ein verschlossenes Buch. Wenn sie aber erwachsen sind, so seht man billig solche Kenntniß bei ihnen voraus, und verwundert sich, wenn sie fehlt, tadelt und straft: „Ihr solltet doch die ersten Buchstaben längst wissen, ihr großen Kinder!“ - In die Schule des heiligen Geistes kommen wir nun auch als Kinder am Verständniß, und müssen die ersten Buchstaben der göttlichen Worte lernen, sonst ist und bleibet uns die Bibel ein verschlossenes Buch. Solche Kinder am Verständniß sollen wir erwachsene Christen aber nicht bleiben, noch viel weniger die ersten Anfangsgründe wieder vergessen; aber weil das leider häufig der Fall ist, so hören wir den heiligen Geist tadeln und strafen Hbr. 5, 12: „die ihr solltet längst Meister sein, bedürfet wiederum, daß man euch die ersten Buchstaben der göttlichen Worte lehre.“ Die ersten Buchstaben der göttlichen Worte werden Hebr. 6,1 und 2. genannt: „Die Lehre vom Anfang christlichen Lebens, oder die Grundlage von Buße der todten Werke, vom Glauben an Gott, von der Taufe, von der Lehre, vom Händeauflegen, von der Todten Auferstehung und vom ewigen Gericht.“ Erkenntniß der todten Werke, der Sünde, von der wir uns bekehren sollen, empfangen wir durch das Gesetz; darum sollen Kinder mit allem Fleiß das erste Hauptstück christlicher Lehre, die zehn Gebote Gottes lernen. Das bereitet dem Glauben den Weg, dem Glauben an Gott den Vater, den Sohn und den heiligen Geist, wie er in den drei Hauptartikeln des christlichen Glaubens enthalten ist. Zu welchem Glauben wir schon durch die Taufe verpflichtet, durch die nachfolgende Lehre angewiesen, und bei der Erneuerung unseres Taufbundes mit Händeauflegen eingesegnet sind. Zu den Anfangslehren gehört dann auch der Todten Auferstehung und das ewige Gericht, denn beides soll uns in heilsame Besorgnis setzen, daß wir die Gnade nicht vergeblich empfangen oder mißbrauchen, sondern durch treuen Gebrauch derselben eine Freudigkeit haben auf den Tag des Gerichts. - Nun stelle man einmal mit den erwachsenen Christen eine Prüfung über diese Kinderlehren an. Werden sie wohl alle schriftgemäß antworten, wenn gefragt wird: „Was ist Sünde? Wer ist ein Sünder? Was ist Buße? Wer bedarf der Buße? Wodurch wird der Sünder vor Gott gerecht? Welches ist der Christen Glaube? Was nützet und bedeutet die heilige Taufe? Was ist die rechte Lehre? Was ist die Confirmation? Werden die Todten auferstehen, und was ist der Todten Auferstehung? Wird ein Gericht gehalten werden? Wer wird das Gericht halten? Wer wird selig, und wer verdammet werden?“ - Ich fürchte, es werden sich unter den Erwachsenen viele Kinder am Verständniß finden, die wiederum bedürfen, daß man sie die ersten Buchstaben der christlichen Worte lehre, ja selbst deren viele, die nicht einmal das große A und O der Bibel kennen (Offenb. Joh. 1, 8. 11.). Was ist da zu thun? Das Beste ist, man schämt sich seiner Unwissenheit, schämt sich aber nicht, wie ein Kind die ersten Buchstaben der göttlichen Worte zu lernen. Wer sich gern läßt strafen, der wird klug werden. (Carl Johann Philipp Spitta)
Es ist beklagenswert, dass so viele Christen auf den unteren und untersten Stufen der Jüngerschaft stehen bleiben. Immer und immer wieder fangen sie von vorne an, und wir warten bei ihnen mit Schmerzen auf den Freudenbericht: Ich habe Ihn erfasst, Er ist nun auch mein Heiland, mein Herr und mein Gott! Wie traurig ist es, zehn und zwanzig Jahre lang zu Jesu Füßen zu sitzen und dabei gar nicht vorwärtszukommen! Liegt da nicht die Gefahr sehr nahe, auch nicht bereit zu sein, wenn Jesus wiederkommt? Es ist ganz gewiss, dass die Entschiedenen freudig auf den Herrn warten. O traut doch eurem Herrn! Glaubt doch dem, der euch mit ewiger Liebe liebt! Gebt euch Ihm hin und bleibt dabei: Ihr seid des Herrn, und der Herr ist euer! Die des Heils gewissen Christen schaffen nicht mehr in gesetzlicher Weise ihr Heil, sie nehmen die Kräfte der Gnade an. Diese zweite Stufe in der Schule Jesu gilt es täglich zu gehen, wo man nicht nur lernt und wieder vergisst, sondern wo man lernt und zugleich übt, wo man das ewige Leben im Glauben ergreift und nun lebt, wo man glückselig ist, weil man durch Gottes Gnade mit Fleiß und Treue Gottes Willen zu tun befähigt ist. Man tut gewisse Tritte und hat Freude, dass man in der Wahrheit wandeln, das Wort als Brot des Lebens täglich nehmen darf und wachsen darf in allen Stücken. Schwach und elend bleibt, wer immer nur hört und liest, aber nie gläubige, entschiedene Schritte tut in den Dingen, die ihm gezeigt worden sind. Unnormal ist der Christ, der immer nur ein „Kindlein“ bleibt und darum nur „Milch“ zu sich nehmen kann. (Markus Hauser)
5:13 Denn wem man noch Milch geben muß, der ist unerfahren in dem Wort der Gerechtigkeit; denn er ist ein junges Kind.
5:14 Den Vollkommenen aber gehört starke Speise, die durch Gewohnheit haben geübte Sinne zu unterscheiden Gutes und Böses.
Es gibt drei Grade, nämlich l) Milch, 2) leichte Speisen und 3) starke Speisen. Zum dritten Grade wird erfordert, daß man durch lange Erfahrung und Gewohnheit geübte Sinne erlangt. Die Capacität bekommt man im Lernen nicht bloß mit den Jahren, sondern auch durch die Cultur und Uebung. Denn unbeachtet der Verstand nicht vor den Jahren kommt, so kommt er doch nicht, von selbst mit den Jahren, sondern es muß auch der rechte Fleiß dabei sein. Wenn das Gedächtnis,, der Verstand und die Urtheilskraft durch lange Gewohnheit geübt sind, so kann man starke Speisen verdauen, d. i. sich in schwere Sachen einlassen und selbige untersuchen. In Ansehung des natürlichen Verstandes ist das erste, daß man einzelne sinnliche Dinge lernt; wenn man nun viele einzelne, sinnliche Dinge recht betrachtet und gesammelt hat, so kommt der andere Grad, nämlich daß man daraus Speciala verstehen und formiren lernt, und wenn man viele Specialia (Besonderheiten) inne hat, so kommt der dritte Grad, daß man daraus Generalia einsehen und selbige mit einander vergleichen lernt. Es ist deswegen nicht ordnungsmäßig, wenn man vor der Zeit Generalia mit jungen Leuten behandelt, indem sie supra captum (über dem Verstand) sind, Weil einem Lehrmeister die Generalia leicht sind, so meint er, sie seien jungen Leuten auch leicht. Manche bleiben bei der Milch und gehen nichts weiter, wann sie schon könnten; manche gehen zwar weiter, aber sie bleiben nur immer bei einigen leichten Speisen; manche kommen zwar in den Stand, daß sie auch starke Speisen genießen könnten; aber es geschieht oft, daß man aufhört zu studiren, oder sonsten seine Seelenkräfte recht anzuwenden, wenn es am besten angelegt wäre. (Johann Friedrich Flattich)