Lukas, Kapitel 6
6:1 Und es begab sich an einem Sabbat, daß er durchs Getreide ging; und seine Jünger rauften Ähren aus und aßen und rieben sie mit den Händen.
6:2 Etliche aber der Pharisäer sprachen zu ihnen: Warum tut ihr, was sich nicht ziemt zu tun an den Sabbaten?
6:3 Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Habt ihr nicht das gelesen, was David tat, da ihn hungerte und die mit ihm waren?
6:4 wie er zum Hause Gottes einging und nahm die Schaubrote und aß und gab auch denen, die mit ihm waren; die doch niemand durfte essen als die Priester allein?
6:5 Und er sprach zu ihnen: Des Menschen Sohn ist ein HERR auch des Sabbats.
6:6 Es geschah aber an einem andern Sabbat, daß er ging in die Schule und lehrte. Und da war ein Mensch, des rechte Hand war verdorrt.
6:7 Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer lauerten darauf, ob er auch heilen würde am Sabbat, auf daß sie eine Sache wider ihn fänden.
6:8 Er aber merkte ihre Gedanken und sprach zu dem Menschen mit der dürren Hand: Stehe auf und tritt hervor! Und er stand auf und trat dahin.
6:9 Da sprach Jesus zu ihnen: Ich frage euch: Was ziemt sich zu tun an den Sabbaten, Gutes oder Böses? das Leben erhalten oder verderben?
6:10 Und er sah sie alle umher an und sprach zu dem Menschen: Strecke deine Hand aus! und er tat's; da ward ihm seine Hand wieder zurechtgebracht, gesund wie die andere.
6:11 Sie aber wurden ganz unsinnig und beredeten sich miteinander, was sie ihm tun wollten.
6:12 Es begab sich aber zu der Zeit, daß er ging auf einen Berg zu beten; und er blieb über Nacht in dem Gebet zu Gott.
Wenn je einer, der vom Weibe geboren ist, hätte ohne Gebet leben können, so wäre es unser vollkommener, unbefleckter Herr gewesen; doch hat nie ein Mensch so viel gebetet, wie Er! So groß war seine Liebe zu seinem Vater, dass er beständig seine Nähe suchte; so groß war seine Liebe zu den Seinen, dass Ihn verlangte, allezeit Fürbitte zu tun für sie. Die Tatsache dieser außerordentlichen Gebetsfülle Jesu bietet uns eine große Lehre dar; Er hat uns ein Beispiel gegeben, dass wir nachfolgen sollen seinen Fußstapfen. Die Zeit, die Er dem Gebete widmete, war köstlich, die Stunde der Stille, wo Ihn das Geräusch der Menge nicht störte; die Zeit der Ruhe, wo alles zu wirken aufhörte, nur Er nicht; die Zeit, wo der Schlummer die Menschen alles Leid vergessen ließ, wo sie ihr Flehen zu Ihm um Erleichterung unterbrachen. Während andre im Schlaf die Ruhe fanden, erquickte und ermunterte Er sich im Gebet. Auch der Ort war trefflich gewählt. Er suchte die Einsamkeit, wo Ihn niemand störte, wo niemand Ihn beobachtete; da war Er sicher vor der Anmaßung der Pharisäer, wie vor unwillkommenem Geräusch. Jene schattigen, schweigsamen Hügel waren ein treffliches Gebetskämmerlein für den Sohn Gottes. Himmel und Erde hörten in mitternächtlicher Stille das Seufzen und Flehen des geheimnisvollen Wesens, in welchem beide Welten zusammengefasst waren. Es ist bemerkenswert, wie lange Er in seinem Gebete verharrte; die langen Nachtwachen waren Ihm nicht zu lang; der kalte Wind erkältete seine Inbrunst nicht; die schreckliche Finsternis verfinsterte seinen Glauben nicht, noch schüchterte die Einsamkeit sein dringendes Anhalten ein. Wir können nicht eine einzige Stunde mit Ihm wachen, aber Er wachte ganze Nächte für uns. Der Anlass zu solchem Gebet ist beachtenswert; es war, als seine Feinde vor Wut beredeten, was sie Ihm tun wollten, - da war das Gebet seine Zuflucht und sein Trost; es war vor der Aussendung seiner zwölf Apostel, - da war das Gebet der Ausgangspunkt seines Vorhabens, der Herold seines neuen Werkes. Sollten wir nicht von Jesu lernen, zum Gebet unsre Zuflucht zu nehmen, wenn wir besonders schwer heimgesucht werden, oder neue Kraft im Dienste unsres Herrn bedürfen? Herr Jesu, lehre uns beten. (Charles Haddon Spurgeon)
6:13 Und da es Tag ward, rief er seine Jünger und erwählte ihrer zwölf, welche er auch Apostel nannte:
6:14 Simon, welchen er Petrus nannte, und Andreas, seinen Bruder, Jakobus und Johannes, Philippus und Bartholomäus,
6:15 Matthäus und Thomas, Jakobus, des Alphäus Sohn, Simon genannt Zelotes,
6:16 Judas, des Jakobus Sohn und Judas Ischariot, den Verräter.
6:17 Und er ging hernieder mit ihnen und trat auf einen Platz im Felde und der Haufe seiner Jünger und eine große Menge des Volks von allem jüdischen Lande und Jerusalem und Tyrus und Sidon, am Meer gelegen,
6:18 die da gekommen waren, ihn zu hören und daß sie geheilt würden von ihren Seuchen; und die von unsauberen Geistern umgetrieben wurden, die wurden gesund.
6:19 Und alles Volk begehrte ihn anzurühren; denn es ging Kraft von ihm und er heilte sie alle.
6:20 Und er hob seine Augen auf über seine Jünger und sprach: Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer.
6:21 Selig seid ihr, die ihr hier hungert; denn ihr sollt satt werden. Selig seid ihr, die ihr hier weint; denn ihr werdet lachen.
6:22 Selig seid ihr, so euch die Menschen hassen und euch absondern und schelten euch und verwerfen euren Namen als einen bösen um des Menschensohns willen.
6:23 Freut euch alsdann und hupfet; denn siehe, euer Lohn ist groß im Himmel. Desgleichen taten ihre Väter den Propheten auch.
6:24 Aber dagegen weh euch Reichen! denn ihr habt euren Trost dahin.
Den vier Seligpreisungen, die Lukas berichtet, stellt er vier entsprechende Wehe gegenüber. Diese Gegenüberstellung soll den Gottlosen Schrecken einflößen und die Gläubigen aufmuntern, sich nicht durch die eitlen und gefährlichen Lockungen der Welt einschläfern zu lassen. Wir wissen doch, wie leicht man sich in guten Tagen in Sicherheit wiegen oder durch die Schmeicheleien der Menschen fangen lässt. Daher kommt es auch, dass Gottes Kinder oft die Gottlosen beneiden, wenn sie deren Glück sehen. Übrigens gilt Christi Wehe nicht allen Reichen ohne Unterschied, sondern nur denen, die ihren Trost in der Welt suchen und auf ihr Vermögen trauend das künftige Leben vergessen. Statt dass der Reichtum also den Menschen glücklich macht, ist er ihm häufig Ursache des Verderbens. Sonst hält Gott die Reichen durchaus nicht von seinem Königreich fern; sie sollen sich nur nicht selbst in ihren Stricken fangen und sich die Tür zum Himmel verschließen, indem sie auf Irdisches ihre Hoffnung bauen. Um zu zeigen, dass Reichtum an sich für Gottes Kinder kein Hindernis ist, erinnert Augustinus sehr schön daran, dass der arme Lazarus in den Schoß des reichen Abraham aufgenommen wurde. Ebenso wie den Reichen gilt Christi Wehe (V.25) auch denen, die satt und voll sind, d.h. die im Vertrauen auf sichtbare Güter die himmlischen Güter verachten. Ebenso ist das Wehe über die Lachenden zu verstehen: Jesus meint solche, die versunken sind in den Vergnügungen des Fleisches und jede Mühe scheuen, die sie etwa zur Ehre Gottes auf sich nehmen müssten. Das letzte Wehe (V.26) richtet sich gegen der Ehrgeiz. Nichts ist üblicher, als nach dem Beifall der Menschen zu haschen oder sich von ihm ködern zu lassen; um seine Jünger davon abzuschrecken, zeigt Christus, dass die Gunst der Menschen nur Unheil bringt. Diese Mahnung geht besonders die Lehrer an, die sich vor allem anderen vor dem Ehrgeiz fürchten müssen, weil die reine Lehre Gottes ganz gewiss verunstaltet wird, wenn sie nach der Gunst der Leute fragen. Das Wort „jedermann“ bezieht sich auf die Kinder der Welt, die nur Betrügern und falschen Propheten Beifall zollen. Bei rechtgesinnten Menschen mögen treue und rechtschaffene Prediger der gesunden Lehre immer ihr Lob und ihre Anerkennung finden. Nur das verkehrte Haschen nach Menschengunst wird hier verurteilt: denn, wie auch Paulus (Gal 1, 10) lehrt, niemand wird Christi Diener sein können, solange er Menschen zu gefallen sucht. (Jean Calvin)
6:25 Weh euch, die ihr voll seid! denn euch wird hungern. Weh euch, die ihr hier lachet! denn ihr werdet weinen und heulen.
6:26 Weh euch, wenn euch jedermann wohlredet! Desgleichen taten eure Väter den falschen Propheten auch.
6:27 Aber ich sage euch, die ihr zuhört: Liebet eure Feinde; tut denen wohl, die euch hassen;
6:28 segnet die, so euch verfluchen und bittet für die, so euch beleidigen.
6:29 Und wer dich schlägt auf einen Backen, dem biete den anderen auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem wehre nicht auch den Rock.
6:30 Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das deine nimmt, da fordere es nicht wieder.
6:31 Und wie ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, also tut ihnen gleich auch ihr.
6:32 Und so ihr liebet, die euch lieben, was für Dank habt ihr davon? Denn die Sünder lieben auch ihre Liebhaber.
6:33 Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut, was für Dank habt ihr davon? Denn die Sünder tun das auch.
6:34 Und wenn ihr leihet, von denen ihr hoffet zu nehmen, was für Dank habt ihr davon? Denn die Sünder leihen den Sündern auch, auf daß sie Gleiches wiedernehmen.
6:35 Vielmehr liebet eure Feinde; tut wohl und leihet, daß ihr nichts dafür hoffet, so wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Allerhöchsten sein; denn er ist gütig über die Undankbaren und Bösen.
Das ist ein merkwürdiger Spruch, weil so ausdrücklich gesagt ist, Gott sei gütig über die Undankbaren und Boshaftigen. Es ist eigentlich damit gesagt, daß im Grunde alle Menschen, auch die Besten, noch undankbar und boshaft seien. Denn beachten wir's, daß das Wörtlein „auch“ weggelassen ist. Wohl kann man immer noch einen Unterschied machen, wie ihn der HErr in der Bergpredigt macht, da Er sagt: „Er lässet Seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten, und lässet regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Aber warum, könnte man fragen, macht Gott keinen Unterschied mit Seiner Güte? Sicher darum, weil, wie unser Spruch uns belehrt, der Unterschied nicht so ist, daß an den Gerechten nichts von Ungerechtigkeit, an den Dankbaren nichts von Undankbarkeit, an den Guten nichts von Bosheit mehr wäre. Weil's so ist, muß Gott auch die eigentlich Undankbaren und Boshaftigen mit segnen, wenn Er nicht Allen zusammen Seine Güte entziehen wollte, wie das bei allgemeinen Landplagen oft zu sein scheint.
Daß es auch den Besten noch fehlt, geben diese, wenn wir sie dafür halten, selber zu. Denn gerade sie fühlen sich stets beschämt, wenn Gott ihnen eine besondere Güte zukommen läßt, indem sie sagen, sie seien so viel Güte nicht wert. Prüfen wir uns doch genau. Wer ist frei auch nur von Bosheit? ich meine eben vom Ärgsten, welches ist die Bosheit. Wer hat nicht, auch wenn er noch so gut scheint, noch etwas Boshaftiges in sich? Wie oft muß man nicht auch bei den Besten noch verwundert sagen: „Wie? so kann's der auch noch?“ Wenn daher Gott nach unsrer Bosheit aufhören wollte, gütig zu sein, was würde aus uns? Somit ist unser Spruch, daß Gott gütig sei über die Undankbaren und Boshaftigen, ein Trostspruch für uns, da wir erschrecken müßten, wenn es hieße: „Gott ist gütig über die Dankbaren, Guten und Unschuldigen.“ Wie zaghaft müßten wir da werden, auf die Güte Gottes zu hoffen!
Indessen ists doch, wie schon bemerkt, ein Unterschied. Die Einen sind, was sie Böses sind, mit Gleichgiltigkeit, Gewissenlosigkeit, Frechheit, Unbußfertigkeit; die Andern beugen sich über alles, was sie Böses an sich entdecken, und suchen sich zu reinigen. Den Letzteren wird Solches zur Gerechtigkeit gerechnet, so daß sie auch, unter Umständen, in besonderer Weise die Güte Gottes erfahren dürfen.
Wie aber machen's nun wir gegen die Undankbaren und Boshaftigen? Können wir diesen vergessen, was sie gegen uns sind, und doch noch vorkommenden Falls ihnen Gutes tun? Nehmen wir uns doch in Acht, und bedenken wir, daß eben darum der HErr von der Güte Gottes gegen Undankbare und Boshaftige redet, daß wir als Kinder unsres Vaters im Himmel es Ihm nachmachen sollen. Darum schließt Er mit den Worten: „Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist.“ Um gütig zu sein, sollen wir nicht erst fragen, ob die Bedürstigen undankbar und boshaftig seien oder nicht, gleichwie der Vater im Himmel auch nicht darnach fragt, wenn Er gütig ist, - sollen vielmehr einfach da barmherzig sein. Ja, gerade gegen die Undankbaren und Boshaftigen müssen wir vorzugsweise gütig sein lernen, wenn eine gewisse Zucht nicht scheinbare Zurückhaltung erfordert. Denn fangen wir an, selbstgerecht unser Herz zu verschließen, dann wird die Zeit kommen, da Gott Sein Herz auch gegen uns verschließen wird. Denn „mit eben dem Maße, damit wir messen, wird uns gemessen werden.“ (Christoph Blumhardt)
6:36 Darum seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Bei dem Haß wider das Böse, und bei der Schärfe, welche wir zuweilen, wenn es nöthig ist, dagegen beweisen müssen, sollen wir barmherzig sein; denn die Menschen, mit denen wir’s zu thun haben, sind auch schwach, geplagt, verwahrlost, und haben also eine Seite, nach welcher wir sie mit Barmherzigkeit ansehen sollen. Keine Schärfe ist Gott angenehm, und keine hat einen Nutzen, wenn sie nicht mit Barmherzigkeit gemildert ist. Unser Vater im Himmel ist barmherzig, darum sollen auch wir als Seine Kinder barmherzig sein, denn es gebührt den Kindern, daß sie das Bild ihres Vaters an sich tragen. Wenn Gott nicht barmherzig wäre, so würde kein Mensch selig; denn Er fände an einem Jeden genug Ursachen, ihn nach der Strenge zu richten und zu verdammen. Aber wie ich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der HErr über die, so Ihn fürchten; denn Er erkennt, was für ein Gemächt wir sind, Er denkt daran, daß wir Staub sind, Ps. 103,13.14. Er erhält, die da fallen, und richtet auf, die niedergeschlagen sind, Ps. 145,14. Er zerbricht das zerstoßene Rohe nicht, und löscht das glimmende Docht nicht aus, Jes. 42,3. Er vergibt um Seines Namens willen, und gibt den Müden Kraft, und Stärke genug den Unvermögenden, bis Er sie zum Ruhm Seiner Barmherzigkeit vollendet und herrlich gemacht hat.
Auch an diesem Abende soll die Barmherzigkeit des Vaters im Himmel mein Trost sein. Sehe ich meine Natur und meine Werke an, so finde ich, daß jene sehr schwach und unrein sei; diese aber sehr mangelhaft und mit wirklichen Vergehungen untermengt seien. Sehe ich um mich herum und vor mich hinaus, so bemerke ich drückende und gefährliche Versuchungen. Was kann mich also trösten als die Barmherzigkeit des himmlischen Vaters? Er ist barmherzig, denn Sein eingeborner Sohn, der in Seinem Schooße ist, hat es selber gesagt. Zu dieser Seiner Barmherzigkeit wende ich mich jetzt, und finde in derselben eine neue Kraft und einen neuen Frieden meiner Seele. In der Rücksicht auf die vergangene Zeit kann ich sagen: HErr, ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue, die du an Deinem Knecht gethan hast (1 Mos. 32,10.). Aber in Ansehung der gegenwärtigen und zukünftigen Zeit bete ich wie Nehemias Kap. 13,22.: schone meiner nach Deiner Barmherzigkeit, und wie David Ps. 119,77.: laß mir Barmherzigkeit widerfahren, daß ich lebe; denn ich habe Lust zu Deinem Gesetz, und wenn ich so bete, so darf ich mich auf das Wort des Sohnes Gottes berufen, der gesagt hat: euer himmlischer Vater ist barmherzig. Ohne Zweifel will der Vater in dem Himmel barmherzig sein, damit die Wahrheit dessen, was Sein Sohn geredet hat, zur Ehre desselben immer bestätigt werde. Ich soll aber auch barmherzig sein. Bin ich’s heute gewesen? Oder ist mein Eifer wider das Böse in einen bittern Grimm ausgeartet, so daß ich in meinem Herzen ein Todtschläger geworden bin? Finde ich einen solchen Grimm in mir, so vergebe mir der barmherzige Vater meine Vergehung und lösche ihn durch Seinen Geist wieder aus, damit die barmherzige Liebe als Sein Bild in mir sei und bleibe.(Magnus Friedrich Roos)
Ist es nicht auffallend, daß Weltmenschen, wenn sie solche Ermahnungen hören, ihrem Beifall unverhohlenen Ausdruck geben? Läßt man sich in eine Unterhaltung mit ihnen ein, merkt man bald, woran das liegt. Solche sittliche Ermahnungen scheinen kein Dogma, keinen Wunderglauben, kein Gebetsleben vorauszusetzen; außerdem denkt der Weltmensch nur daran, wie angenehm es für ihn wäre, wenn die andern ihn nach Christi Vorschriften behandelten; daß er selbst zuerst sich danach richten müßte, liegt ihm fern. Und hier liegt der Schlüssel begraben. Wer eine einzige solche Vorschrift in eigener Kraft verwirklichen will, wird inne, daß er das nicht kann. Die tiefe Erkenntnis unseres Unvermögens ist der Weg zum Heiland, der uns von unserer Sünde scheiden und mit Liebeskraft aus der Höhe erfüllen will. An ihm erleben wir erst die ganze Tiefe und Herrlichkeit der Barmherzigkeit Gottes. Sonst könnten wir es ja gar nicht wissen, w i e barmherzig der Vater ist! Seit wir aber Jesum kennengelernt haben, und in ihm des Vaters Barmherzigkeit uns überwunden hat, so daß uns alle Waffen der Unbarmherzigkeit aus den Händen fielen, kann er uns auf seinen Pfaden weiterführen. Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Vater im Himmel, wir danken dir für alles, was du aus Barmherzigkeit an uns getan! Nun stärke in uns deine Art, deine Barmherzigkeit mit unsern Brüdern, damit sie an uns etwas von dir erkennen können. Amen. (Samuel Keller)
6:37 Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammet nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebet, so wird euch vergeben.
Jesus Christus muss oft Seine lieben Jünger mit allerlei Krankheiten heimsuchen, damit sie Zeit und Gelegenheit finden, ihr Wesen und ihr Verhalten zu erforschen. „Reiniget euch!“ ruft Er uns zu. Ehrsucht und Selbstsucht sind Ihm ein Gräuel. Diese Dinge müssen ausgetilgt werden, denn der Herr nimmt es genau mit den Seinen. Wir dürfen unsere Unarten nicht entschuldigen, sie sind nicht selten die Ursache der Not. Findest du keine Erleichterung, keine Erhörung, so werde weder gleichgültig noch verzagt; bitte um Selbsterkenntnis, um Erleuchtung; vielleicht hat der Herr ein ernstes Wort mit dir zu reden. Freude und Erquickung begehrst du. Tue zuerst Buße über deine Bitterkeit, trage dem Nächsten nichts nach, vergiss die Beleidigung! Dann kann die Lebenssonne dir wieder freundlich scheinen, das Evangelium wird dir wieder groß, und dein Gebet findet Erhörung. „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung.“ Sorge dafür, dass dein Gebet nicht verhindert wird. Wer Liebe säet, wird Liebe ernten! Unser Heiland ist uns auch auf diesem Gebiete vorangegangen. Wir wollen uns als die Seinen erweisen, indem wir bitten für diejenigen, die uns schmähen. Kannst du dies nicht, so bitte um den Geist der Liebe. Die Liebe bewahrt auch vor Angst, denke daran. So oft du bei Gott um Vergebung flehst, so vergib auch du; so oft du nach Trost verlangst, bringe auch deinem Nächsten Trost entgegen. Behandle andere nicht hart, wenn du selbst Milde und Liebe für dich genießen möchtest. Die Natur verändern ist schwer, aber mit Gottes Gnade kommst du doch zum Ziele. Halte dich an Sein Wort. (Markus Hauser)
6:38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein voll, gedrückt, gerüttelt und überfließend Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messet, wird man euch wieder messen.
6:39 Und er sagte ihnen ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?
Im Leiblichen kommt es nicht wohl vor, daß ein Blinder sich einem Blinden zum Führer anbietet oder anvertraut. Aber im Geistlichen ist es etwas gar Gewöhnliches. Da sind die Blinden oft gerade die ärgsten Stürmer und zudringlichsten Leute, die alles am besten wissen wollen, und darum commandiren, Jedermann bemeistern und zwingen wollen, mit ihnen zu laufen. Je blinder, je schlimmer. Da muß dann der andere Blinde, - blind, sofern er noch nicht genug Erkenntnis und Einsicht hat, - wohl aufmerken. ob er's mit einem Sehenden oder Blinden zu tun habe. So oft uns jemand einen Weg, den wir selber noch nicht kennen, weisen will, müssen wir solchen Führer gleichsam vom Kopf bis zum Fuße besehen, ob er's auch wisse und recht wisse, oder ob er nicht selber blind sei. Man muß nicht gleich Jedem, der sich pomphaft hinzustellen weiß, trauen, sondern sich wohl besinnen, ob man trauen dürfe oder nicht, und wenn es eine wichtige Sache ist, desto mehr mit stillem Aufblick nach oben, und zartem Aufmerken auf das, wie man's innerlich fühlt. Man bekommt nirgends leichter ein bestimmtes Gefühl davon, daß man sich in Acht zu nehmen habe, als wo man's mit falschen Geistern zu tun hat, mit Leuten, die Eigenes anpreisen. Wer da sein eigenes Gefühl verleugnet und mißachtet, - und wie viele haben sich schon darüber zu spät anklagen müssen, - der kommt in den Fall, mit einem Blinden zu gehen; und da kann's übel ablaufen, - sie verrennen sich beide in den gleichen Ruin, des Leibes und der Seele.
Ach, daß Gott uns klug machte, nur mit Sehenden zu gehen und zeitig zu erkennen, wo man uns nur einen Köder vorwerfen will, um für alles Andere uns blind zu machen! Es ist sicher besser, allein als blind zu gehen und den Weg, daß ich so sage, mit dem Stecken zu suchen, denn vermittelst eines Scheinlichtes sich zu Blinden zu gesellen. (Christoph Blumhardt)
6:40 Der Jünger ist nicht über seinen Meister; wenn der Jünger ist wie sein Meister, so ist er vollkommen.1)
6:41 Was siehst du aber einen Splitter in deines Bruders Auge, und des Balkens in deinem Auge wirst du nicht gewahr?2)
6:42 Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt stille, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuvor den Balken aus deinem Auge und siehe dann zu, daß du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest!3); 4)
Warum Heuchler? Wie kann es dazu kommen? Weltart war es gewesen, sich durch Richten und Verdammen der Fehler des Nächsten eine Art Herzenserleichterung zu schaffen. Sind die andern so schlecht, helfe ich mit, daß nur über ihre Schuld gesprochen wird, so webe ich dadurch einen falschen Tugendschleier über meinen eigenen Herzenszustand. Heuchler bin ich dabei, wenn mir doch heimlich das Gewissen bezeugt, daß ich gar nicht besser bin als die, über die ich urteile. Im Gegenteil wenn ich mehr Barmherzigkeit Gottes erfahren habe als sie, bin ich, auch bei geringerer äußerer Schuld, viel schlechter als sie. Muß das nicht demütigen und ins Gebet treiben: Jesu, nimm du mir den Balken meines Hochmuts, meiner inneren Verbundenheit mit jener Sünde! Und nur, wenn eine neue Erfahrung seiner süßen Barmherzigkeit uns die Seele weich und froh gestimmt hat, werden wir Zartheit und Stille genug haben, dem Bruder einen so schwierigen Liebesdienst zu tun, ihn von einem kleinen Balkenteilchen zu befreien. Man könnte auch sagen, wer nicht den Kreuzbalken seiner eigenen Sünde schmerzlich empfunden hat, wer nicht unter seiner Sünde gelitten hat, der soll nicht an jene Operation beim Bruder gehen: sonst weiß er nicht, wie jede Berührung jener Gebiete weh tut.
Lieber Vater im Himmel, fülle uns Armen die Seele mit deinem Erbarmen, damit wir lernen, so zu werden gegen unsere Brüder, wie du bist gegen uns. Amen. (Samuel Keller)
6:43 Denn es ist kein guter Baum, der faule Frucht trage, und kein fauler Baum, der gute Frucht trage.
6:44 Ein jeglicher Baum wird an seiner eigenen Frucht erkannt. Denn man liest nicht Feigen von den Dornen, auch liest man nicht Trauben von den Hecken.
6:45 Ein guter Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatz seines Herzens; und ein böser Mensch bringt Böses hervor aus dem bösen Schatz seines Herzens. Denn wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.
6:46 Was heißet ihr mich aber HERR, HERR, und tut nicht, was ich euch sage?
6:47 Wer zu mir kommt und hört meine Rede und tut sie, den will ich euch zeigen, wem er gleich ist.
6:48 Er ist gleich einem Menschen, der ein Haus baute und grub tief und legte den Grund auf den Fels. Da aber Gewässer kam, da riß der Strom zum Hause zu, und konnte es nicht bewegen; denn es war auf den Fels gegründet.
6:49 Wer aber hört und nicht tut, der ist gleich einem Menschen, der ein Haus baute auf die Erde ohne Grund; und der Strom riß zu ihm zu, und es fiel alsbald, und das Haus gewann einen großen Riß.5)