Jesaja, Kapitel 64
64:1 Ach daß du den Himmel zerrissest und führest herab, daß die Berge vor dir zerflössen, wie ein heißes Wasser vom heftigen Feuer versiedet,
64:2 [1b] daß dein Name kund würde unter deinen Feinden und die Heiden vor dir zittern müßten,
64:3 durch die Wunder, die du tust, deren man sich nicht versieht, daß du herabführest und die Berge vor dir zerflössen!
64:4 Wie denn von der Welt her nicht vernommen ist noch mit Ohren gehört, auch kein Auge gesehen hat einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.
64:5 Du begegnest dem Fröhlichen und denen, so Gerechtigkeit übten und auf deinen Wegen dein gedachten. Siehe, du zürntest wohl, da wir sündigten und lange darin blieben; uns ward aber dennoch geholfen.
Es ist ein großer Trost, wenn man sich dessen erinnern kann, daß Gott auch da, wo Schuld und große Schuld war, dennoch geholfen hat.
Es kann uns freilich bange werden und der Mut will uns ganz entschwinden, wenn wir in der Trübsal das Gefühl haben, daß Gott zürne und darum Seine Strafe so hart mache; und wenn wir uns auch dessen gar gut bewußt sind, warum Er zürne. Aber man hat's erfahren, daß Gott in ähnlichen Lagen dennoch geholfen hat, wenn man sich ernstlich zu Ihm wandte. Das ist denn ein herrlicher Trost in allen Bedrängnissen. Ja, es ist ein schönes herrliches Dennoch, daß es heißt: „Aber dennoch ist geholfen worden“ 1 Das muß immer wieder wahr werden, daß Gott dennoch hilft, sei die Schuld auch noch so groß. Darum sagt auch David (Ps. 103, 9f.): „Er wird nicht immerdar hadern noch ewiglich Zorn halten. Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat.“
Darum wollen wir den Mut zur Gnade Gottes nie aufgeben! Oft sagen die Leute, das sei das Ärgste an ihrer Trübsal, daß sie's selber verschuldet hätten; und das ist's, was sie ganz in Verzweiflung bringen will. Begreiflich ist es wohl, daß so das Unglück besonders schwer auf dem Menschen liegt, zumal dieser immer so gerne der Unschuldige wäre, der zum lieben Gott sagen könnte: „Warum schlägst Du mich so, der ich doch so brav bin?“ Aber vergessen wir's nicht, daß wir Gnadenkinder sein und als Gnadenkinder uns fühlen müssen. Darum lässt's Gott oft recht herausgestellt werden, wer wir sind, damit wir um Gnade schreien lernen. Wenn Er aber unsre Sünde heimsucht, so dürfen wir darüber, daß wir selbst schuld an
allem sind, die Hoffnung nicht aufgeben; und auch wenn wir fühlen, daß Gott zürne - und mit Recht zürne -, dürfen wir nicht denken, Er werde ewiglich zürnen und sei nicht mehr zu versöhnen. Wir dürfen uns dennoch an die Gnade anklammern.
Und es wird nach der Erfahrung dennoch geholfen, obwohl wir selbst schuld sind, wie es eben sein kann. überhaupt ist oft das, was wir bei Gott „Zorn“ nennen, lauter Liebe. Und zuletzt wird das Erbarmen Gottes - wenn auch anfangs langsam, doch immer mehr - so offenbar sein, daß nichts als Lob und Dank im Herzen übrig bleibt.
Dennoch Hilfe
Der Prophet spricht diese Worte in einem eigentümlichen Zusammenhang aus. Er versetzt sich in eine Zukunftszeit, da für das Volk Gottes der Himmel wie verschlossen sein und da Gott sich gar verborgen haben würde, ohne auf das Bitten und Flehen Seiner Kinder zu amten. Man erinnere sich, wie unmittelbar sich einst der HErr Seinem Volke bezeigt hatte! Da seufzt der Prophet (Jes. 64, 1): „Ach, daß Du den Himmel zerrissest und führest herab, daß die Berge vor Dir zerflössen!“ Dabei hält er dem HErrn vor, daß Er doch in früheren Zeiten, auch wenn Er zornig gewesen sei, Sich doch habe erweichen lassen und dennoch geholfen habe. „Warum“, sagt er (64, 12) „willst Du jetzt so hart sein und schweigen und uns so sehr niederschlagen?“ Und vorher hatte er gesagt (63, 17): „Warum lässest Du uns, HErr, irren von Deinen Wegen und unser Herz verstocken, daß wir Dich nicht fürchten?“ So seufzt und betet der Prophet aus einer Zukunftszeit heraus, die kommen würde.
Wir wissen aber, wie Jesaja stets auf die messianischen Zeiten hin redet, und zwar nicht nur auf deren Anfang, sondern auch auf ihren Schluß, welcher die Vollendung bringt. Auf beides beziehen sich daher unsre Worte. Ehe Christus kam, war's wirklid1 so, als ob Gott ganz ferne getreten wäre und als ob alles Flehen derer, die auf das Reich Gottes warteten, umsonst wäre. Aber endlich tat sich der Himmel auf und offenbarte sich der HErr in der verheißenen Herrlichkeit (in Christus).
In unserer Zeit aber ist's wieder so geworden, daß der HErr in weiter Ferne zu stehen scheint, als ob Er vergessen oder aufgegeben hätte, das Angefangene zu vollenden. Man sieht Verfall und Schwachheit und übermacht der Finsternis von innen und außen in hohem Grade allenthalben; und das persönliche Sich-Bezeigen und Helfen Gottes scheint fast aufgehört zu haben. Da hat man Ursache wieder zu beten, wie es uns Jesaja auf solche Zeit hin in den Mund legt: „Warum lässest Du uns, HErr, irren auf unsern Wegen und unser Herz verstocken, daß wir Dich nicht suchen?“ Da liegt selbst in dem der Zorn Gottes verborgen, daß Er uns nicht den Geist der Buße und der Furcht sendet; daß Er also Kräfte zur Erneuerung der Herzen, wie sie uns so nötig wäre, gleichsam vorenthält. Ein Zorn Gottes aber ist es darum, weil uns der rechte Ernst und das rechte Verlangen nach Ihm und Seinen Erweisungen fehlt, wodurch die Gesamtschuld der Christenheit, des Volkes Gottes, groß geworden ist.
Sollen wir aber nun weitere Hoffnungen aufgeben? Nein, wir nehmen den Seufzer des Propheten als einen Wink, daß wir in ähnlicher Weise seufzen und beten sollen, weil dies der Weg zu etwas Besserem ist. Wir halten uns auch wie er an die geschichtlichen Tatsachen, daß Gott, „auch wenn Sein Volk sündigte und lange darin verblieben war, dennoch geholfen hat“. Der HErr kann nicht ewiglich Zorn halten, Er kann nicht - wenn Er auch noch so viele Ursachen dazu hätte - das Weitere, das verheißen ist, aufgeben. Wir können Ihn wieder herbeibeten, wie auch der Prophet endlich Antwort bekam (Jes. 65, lff.). Endlich wird Er's wieder in die Hand nehmen, wird Er sich aufmachen und Seine Gnaden und Gnadengaben in Strömen kommen lassen über Sein verlassenes, verstörtes und weit verirrtes Volk - auf den Tag der letzten Offenbarungen hin. (Christoph Blumhardt)
64:6 Aber nun sind wir allesamt wie die Unreinen, und alle unsre Gerechtigkeit ist wie ein unflätig Kleid. Wir sind alle verwelkt wie die Blätter, und unsre Sünden führen uns dahin wie Wind.
Der Gläubige ist eine neue Kreatur, er gehört einem auserwählten Geschlecht an und einem heiligen Volk; der Geist Gottes wohnet in ihm, und in jeder Hinsicht ist er weit verschieden von dem natürlichen Menschen. Aber trotz dem allem ist der Christ doch noch immer ein sündiger Mensch. Er ist es durch die Unvollkommenheit seiner Natur und wird es bleiben bis zum Ende seines Lebens. Die schmutzigen Finger der Sünde lassen auf unsren schönsten Gewändern Flecken zurück. Die Sünde besudelt unsre Reue, ehe der große Töpfer sie auf seiner Scheibe vollendet hat. Selbstsucht entweiht unsre Tränen, und der Unglaube umstrickt unsern Glauben. Das beste, was wir je ohne das Verdienst Christi vollbracht haben, mußte nur die Menge unsrer Sünden vermehren; denn wenn wir in unsern Augen am allerreinsten gewesen sind, so sind wir so wenig als der Himmel selbst rein vor Gottes Angesicht; und wenn Er an seinen eignen Engeln Tadel findet, so muß dies in noch viel höherem Grade bei uns der Fall sein. Der Lobgesang, der gen Himmel steigt und mit dem Lobgetöne der Seraphim wetteifert, wird von menschlichen Mißklängen getrübt. Das Gebet, das den Arm Gottes bewegt, ist ein beflecktes und verderbtes Gebet und bewegt jenen Arm nur, weil der Sündlose, der große Mittler, ins Mittel getreten ist und unsre Bitte von allem Sündlichen gereinigt hat. Der lauterste Gedanke oder die höchste Heiligung, zu welcher je ein Christ auf Erden gelangte, hat doch so viel Unlauteres in sich, daß sie, an sich betrachtet, verbannt zu werden verdienten. Jeden Abend, wo wir uns im Spiegel betrachten, sehen wir einen Sünder und müssen bekennen: „Wir sind allesamt wie die Unreinen, und alle unsre Gerechtigkeit ist wie ein unflätiges Kleid.“ O wie köstlich ist doch das Blut Jesu für unsre Herzen! Welch eine unschätzbare Gabe ist seine vollkommene Gerechtigkeit! Und wie herrlich ist die Hoffnung vollkommener Heiligung danach! Ob auch die Sünde uns noch anklebt, so ist dennoch schon jetzt ihre Macht gebrochen. Sie hat keine Macht mehr, sie ist eine Schlange mit zertretenem Kopf; wir stehen wohl noch in hartem Kampfe mit ihr, aber wir haben es mit einem besiegten Feinde zu tun. Noch eine kleine Weile, so werden wir mit Ehren zur ewigen, heiligen Stadt einziehen. (Charles Haddon Spurgeon)
64:7 Niemand ruft deinen Namen an oder macht sich auf, daß er sich an dich halte; denn du verbirgst dein Angesicht vor uns und lässest uns in unsern Sünden verschmachten.1)
64:8 Aber nun, HERR, du bist unser Vater; wir sind der Ton, du bist der Töpfer; und wir alle sind deiner Hände Werk.
Die Hand Gottes erzielt in der Erziehung der Menschen sehr verschiedene Resultate. Da wird ein Gottesfürchtiger krank. Nun hat er viel Zeit für sich; offenbar will ihm der Herr eine Gelegenheit verschaffen zu ernster Selbstprüfung. Aber er langweilt sich, wünscht gesund zu sein, fragt gereizt: Warum widerfährt mir solches? Er liest allerlei Gutes, wohl auch dann und wann ein Gotteswort. Endlich tritt erwünschtes Wohlsein ein und er kann die Arbeit wieder frisch aufnehmen. Was hat der Herr bei ihm erreichen können? Nichts, gar nichts! Im Gnadenleben ist er eher rückwärtsgekommen, das Herz ist vielleicht gleichgültiger und kälter als je! - Ein anderer wird auch krank und es wird ihm schwer, die Arbeit zu unterbrechen. „Was will der Herr mir sagen?“ fragt er sich. Still geht er in sich, zerbrochener wird sein Herz mit jedem Tag, Gottes Geist kann mit ihm reden, und bald geht er durch ein bitteres Selbstgericht. Doch werden ihm auch die Worte lebendig: „Kein Haar kann von eurem Haupte fallen ohne den Willen eures Vaters im Himmel.“ Darum nimmt er dies Leiden demütig aus der Hand des Herrn an. Die Bibel ist das Buch, in das er sich jetzt mehr als je vertieft. Die Gebete werden wärmer, bestimmter, demütiger. Er empfängt in seiner Krankheit einen solch reichen Gewinn, dass er Gott für diese Gnadentage nicht genug danken kann. Unter derselben Gnadensonne wird das eine Herz hart und das andere weich. In derselben erziehenden Gotteshand bleibt der eine in seiner verkehrten Art, der andere aber wird geschmolzen, wird rein und klein. Lieber Leser, denke darüber nach: Was kann der göttliche Töpfer aus dem Ton machen, der sich willig formen lässt! (Markus Hauser)
64:9 HERR, zürne nicht zu sehr und denke nicht ewig der Sünde. Siehe doch das an, daß wir alle dein Volk sind.
64:10 Die Städte deines Heiligtums sind zur Wüste geworden; Zion ist zur Wüste geworden, Jerusalem liegt zerstört.
64:11 Das Haus unsrer Heiligkeit und Herrlichkeit, darin dich unsre Väter gelobt haben, ist mit Feuer verbrannt; und alles, was wir Schönes hatten, ist zu Schanden gemacht.
64:12 HERR, willst du so hart sein zu solchem und schweigen und uns so sehr niederschlagen?
In dieser heiligen Adventszeit, wo das Gebet auf den Lippen aller Betenden liegt: „Ach, daß Du den Himmel zerrissest und führest herab!“ will ich in mich gehen und mich vor Dir, o Du mein Gott, sammeln, um im Stillschweigen das Geheimniß Deines Sohnes anzubeten und zu erwarten, daß Er im Grunde meines Herzens geboren werde.
Ich harre Dein, o göttlicher Jesus, wie die Propheten und Patriarchen Dein geharret haben. Von Herzen sage ich mit ihnen: „Träufelt, ihr Himmel, von oben, und die Wolken regnen die Gerechtigkeit, die Erde thue sich auf und bringe Heil.“ Du bist schon einmal gekommen, und die Deinen haben Dich nicht erkannt. Komme wieder, Herr, die undankbare Erde zu schlagen und die verblendeten Menschen zu richten. Wann wird es doch von oben über uns herab kommen, das Reich der Gerechtigkeit, des Friedens und der Wahrheit? Wann wird Dein Gericht über die verhärtete Welt hereinbrechen und der Tag Deines Triumphs? Erhebe Dich, Gott, richte Deine eigne Sache, rechtfertige Dich vor den Augen aller Völker: Deine Ehre suchen wir und nicht die unsere.
Ja, ich liebe Dich um Deinet-, und nicht um meinetwillen. Mein Herz grämt sich, daß ich die Ungerechtigkeit auf Erden überhand nehmen sehe und Dein Evangelium mit Füßen treten. Es grämt sich, daß ich mich wider meinen Willen der Eitelkeit unterworfen sehe. Wie lange, Herr, willst Du Dein Erbtheil trostlos lassen? Kehre doch wieder, Herr Jesus, wende das Licht Deines Antlitzes wieder zu uns. Ich will nichts von den Dingen, die mich hienieden umgeben: sie werden bald nicht mehr sein. Die unermeßlichen Vesten des Himmels werden zusammenstürzen, diese mit Sünden bedeckte Erde wird durch das rächende Feuer verzehrt und erneuert werden. Die Sterne werden herabfallen, ihr Licht wird verlöschen; die Elemente werden zerschmelzen und die ganze Natur zu Grunde gehen. Der Gottlose zittre, wenn das geschieht! Ich aber rufe mit Liebe und Vertrauen: schlage, Herr; verherrliche Dich, und rotte aus Alles, was Deiner Heiligkeit zuwider ist. Schlage auch mich und schone mein nicht, um mich zu reinigen und Deiner würdig zu machen. Ach, diese unverständige Welt ist nur mit dem gegenwärtigen Augenblick beschäftigt, der flugs dahin ist. Alles hier vergehet, und man will sein genießen, als würde es ewig bleiben; der Himmel und die Erde vergehen wie ein Rauch; Dein Wort allein bleibet in Ewigkeit! O Wahrheit, man kennet Dich nicht! Die Lüge wird angebetet und erfüllt des Menschen ganzes Herz. Alles ist falsch, Alles betrügt. Alles, was gesehen, Alles, was berührt werden kann, Alles, was sinnlich ist, Alles, worüber die Zeit Gewalt hat, ist Nichts. Muß denn dieser flüchtige Traum sich Wahrheit dünken und Deine unbewegliche Wahrheit für einen Traum gehalten werden? Ach, Herr, warum duldest Du ein solches Wesen? Die ganze Werde ist in Todesschlummer gefallen: wecke sie auf durch Dein Licht. Ich, Herr, ich will nur Dich; ich warte nur auf Dich; ich fürchte den Tod nicht, er ist die Befreiung Deiner Kinder. Ja, Herr, wir werden sterben, und der unglückliche Zauber wird sich plötzlich zerstreuen. Ich will Dich lieben, Herr, ich will Dich allein lieben, und mich nur in Dir und um Deinetwillen. O wie habe ich Deine Zukunft so lieb! Schon hebe ich nach Deinem Befehl die Augen und das Haupt auf, um Dir entgegen zu gehen. Ich bin schwach, elend, zerbrechlich; ich habe, wenn Du mich nach der Strenge Deiner Gerechtigkeit richtest, Alles zu fürchten; allerdings! aber eben meine Zerbrechlichkeit lehrt mich, daß das Leben Gefahr, und der Tod eine Gnade ist.
O Herr, nimm hinweg die Sünde; komm, und regiere in mir; entreiße mich mir selbst, und ich werde allein Dein sein und keines Andern. Was habe ich auf der Erde zu thun? Was kann ich hoffen in diesem Thränenthal, wo das Böse alle Gewalt zu haben scheint und das Gute unvollkommen ist? Nur Dein Wille kann mich darin zurückhalten. Ich habe nichts lieb von allem dem, was ich sehe; ich will nichts lieb haben als Deine Zukunft, und mich selbst nur in Dir und Deinem Wohlgefallen. Amen. (Johann Friedrich Wilhelm Arndt)