Psalm 90
90:1 Ein Gebet Mose's, des Mannes Gottes. Herr, Gott, du bist unsre Zuflucht für und für.
90:2 Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit,
90:3 der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!
90:4 Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.
Tausend Jahre - wahrlich ein langer Zeitraum. Wieviel kann sich in ihm zusammendrängen. Das Emporsteigen und Zusammenbrechen von Weltreichen, die Glanzzeit und die Vernichtung von Herrschergeschlechtern, der Anfang und das Ende kunstvoller Systeme der Weltweisheit und zahllose für die einzelnen wie für die Familien hochwichtige Ereignisse, die den Federn der Geschichtsschreiber entgehen. Dennoch ist ein so langer Zeitabschnitt, der in der menschlichen Sprache beinahe mit einem unendlichen Zeitabschnitt gleichbedeutend ist, für den Herrn wie nichts. Ein Augenblick, der noch vor uns liegt, ist länger als das Gestern, wenn es am Schwinden ist; denn was vergangen ist, das ist nicht mehr. Ein ganzes Jahrtausend erscheint Gott, wenn er es überblickt, wie uns der gestrige Tag, wenn wir an der Grenze des neuen Tages auf ihn zurückblicken, ja, wie eine Nachtwache - ein Zeitabschnitt, der, kaum gekommen, auch schon vergangen ist. Ein Jahrtausend bietet den Engeln kaum Zeit, die Wachen zu wechseln. Wenn sie einen tausendjährigen Dienst fast hinter sich haben, ist es ihnen noch, als hätte die Wache kaum begonnen. Wir durchträumen die lange Nacht der Zeit, Gott aber hält immer Wache. Wieviel Tage und Nächte gehören für uns dazu, ein Jahrtausend voll zu machen, während dieser Zeitraum für Gott noch nicht einmal eine ganze Nacht, sondern nur den dritten Teil einer solchen ausmacht. Sind aber tausend Jahre für Gott nur wie eine einzige Nachtwache, wie lang muß dann die Lebenszeit des Ewigen sein. (Charles Haddon Spurgeon)
90:5 Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom; sie sind wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird,
90:6 das da frühe blüht und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorrt.
90:7 Das macht dein Zorn, daß wir so vergehen, und dein Grimm, daß wir so plötzlich dahinmüssen.
90:8 Denn unsere Missetaten stellst du vor dich, unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht.
Die Erkenntniß unserer Missethat und Sünde ist das erste Erforderniß, wenn wir die Gnade Gottes und Vergebung der Sünde erlangen wollen. Erkenne deine Missethat, daß du wider den Herrn, deinen Gott gesündigt hast. Aber wie unvollkommen ist diese Erkenntniß, so lange sie nur menschlich bleibt! Man stellt seine Sünde sich gering vor, indem man sie nur vor sich stellt, vor sein getrübtes Auge und unter sein bestochenes und partheiisches Urtheil. Man mißt ihre Größe nur nach dem Schaden und der Schande, die sie uns und andern hier auf Erden zufügt, und nennet nur die schädliche, schändliche und vor menschlichem Gericht strafbare That, Sünde. - Eine ganz andere Sündenerkenntniß lehrt Moses, wenn er, vor Gott stehend, spricht: „Unsere Missethat stellest du vor dich; unsere unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht.“ Er erkennt seine und seines Volkes Missethat nicht nach menschlicher, sondern nach göttlicher Vorstellung, wie sie Gott vor sich stellt, sie anschaut und beurtheilt, der Gott, welcher Herzen und Nieren prüft, der nicht nur recht sieht, sondern auch mehr als wir, auch die von uns unerkannte Sünde sieht, was im Finstern verborgen ist, ans Licht zieht, ja ins Licht stellt vor seinem Angesicht. So bekommt man erst eine rechte Vorstellung von der Sünde, ein zerschlagenes Herz und einen demüthigen Geist, ein beschämendes Gefühl seiner Sündenblöße, darüber einem alle stolzen Gedanken und Einbildungen vergehen, und man wie Hiob seufzet: „Herr, deine Augen sehen mich an, darüber vergehe ich!“ oder wie der Zöllner an seine Brust schlägt und spricht: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Und bei solcher Vorstellung seiner Sünde bekommt man durch das Evangelium eine herzerquickende Vorstellung von Gottes Gnade. Denn siehe da, Gott hat Christum vorgestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben in seinem Blut, damit er die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, darbiete, in dem daß er die Sünde vergibt, welche bis anhero geblieben war unter göttlicher Geduld; auf daß er zu diesen Zeiten darböte die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, auf daß er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist des Glaubens an Jesu (Röm. 3, 25.). (Carl Johann Philipp Spitta)
Hast du es nie erlebt, wie die Nähe des Herrn Buße wirkt? - Die sich opfernde Liebe unseres Erlösers kann das harte Herz mächtiger zerschmelzen, als alle Donner Sinais es zu erweichen vermögen. Des Sünders Herz ist verschlossen, es will nicht Buße tun. Nun aber erleuchtet ein Lichtstrahl aus dem oberen Heiligtum seine Seele. Sein ganzes Leben, sein sündiges Herz sind auf einmal enthüllt. Im göttlichen Lichte sieht und erkennt er sein Elend. So steht auch der gerechte, heilige Gott vor dir, du kannst Ihm nicht ausweichen. Er spricht hinein in deine Seele, du wirst Ihn nicht los, auf jedem Schritt und Tritt, bei Tag und Nacht umgibt dich die alles entdeckende Gegenwart des heiligen Gottes. Nachdem ich solches selbst durchgelebt hatte, konnte ich bei nicht wenigen dasselbe beobachten. Keine Buße geht tiefer und gründlicher als diejenige, welche durch eine Begegnung mit dem lebendigen Gott bewirkt wird. Dort begegnet ein roher Sünder einem einfältigen Kinde Gottes, das in der ersten Liebe steht. In aller Herzlichkeit legt es ein wahres, warmes Zeugnis ab von der Gnade und Huld des Herrn. Und siehe da, der vorher so stolze Mensch wird unruhig, ein Liebesblick des Heilandes scheint in sein Herz, er wird zum ersten Male von seiner Sünde und von der Menschenliebe Gottes überführt. Nimm dir jetzt einige stille Minuten, lies mit Nachdenken den 51. Psalm, dann knie nieder und suche mit aufrichtigem Ernst das Angesicht des Herrn. Er naht dir, und nun kannst du Buße tun. Und Er vergibt so gern jedem wahrhaft Bußfertigen alle Missetaten. (Markus Hauser)
90:9 Darum fahren alle unsere Tage dahin durch deinen Zorn; wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz.
90:10 Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.
90:11 Wer glaubt aber, daß du so sehr zürnest, und wer fürchtet sich vor solchem deinem Grimm?
90:12 Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden.
90:13 HERR, kehre doch wieder zu uns und sei deinen Knechten gnädig!
90:14 Fülle uns früh mit deiner Gnade, so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang.
90:15 Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück leiden.
90:16 Zeige deinen Knechten deine Werke und deine Ehre ihren Kindern.
90:17 Und der HERR, unser Gott, sei uns freundlich und fördere das Werk unsrer Hände bei uns; ja, das Werk unsrer Hände wolle er fördern!1); 2)
Es war auf dem Zuge in der Wüste, während das ganze Volk, täglich zu hunderten, umherstarb, daß Moses diesen Schwanengesang sang über die Kürze und Vergänglichkeit des menschlichen Lebens, so wie über seine Mühsal und Plage, den Grund davon in der Menschen Sünde und in Gottes Zorn fand, und Gott anflehete, Er möge der langen Plage ein Ziel setzen und sich wieder in Gnaden Israel zukehren. Er vergleicht das Leben bald mit einem gestrigen Tage und einer Nachtwache, bald mit einem früh blühenden und schnell verwelkenden Grase, bald mit einem Schlafe, bald mit einem Vogelfluge durch die Luft, bald mit einem Geschwätz, das in kurzer Zeit ausgeredet und vergessen ist. Moses hat Recht. Nichts ist vergänglicher als die Lebenszeit. Kaum geboren, werden wir schon allüberall an das Sterben gemahnt; die Jahre schrumpfen, je älter wir werden, zu Tagen und zu Stunden zusammen, und täglich bewährt sich das herrliche Lied, unter den christlichen Nachbildungen unseres Psalmes die schönste: Wie fleucht dahin der Menschen Zeit, wie eilet man zur Ewigkeit, wie Wenige denken an die Stund von Herzensgrund, wie schweigt hiervon der träge Mund! Wie viele unserer Lebensjahre sind schon verflossen, und wie nahe liegt die Betrachtung, ob wir sie gut ob übel angewandt haben! Wie dringend ist die Pflicht, daß wir uns angelegen sein lassen, die gegenwärtigen Tage wohl anzulegen und auf’s künftige so hinaus zu denken, wie wir dieselben selig enden mögen. Auch das laufende Jahr eilt seinem Ende zu, noch wenige Stunden, und wir stehen an seiner Bahre. Wird der Herr von demselben über uns sprechen: Man hat dich gewogen und zu leicht gefunden; haue ihn ab, was hindert er das Land? O laß die letzten Tage des Jahres Bußtage sein! Ende gut, Alles gut. Wer mag vor Gott bestehen, wenn Er will Sünde zurechnen? So viele Tage das Jahr zählt, so viele Ankläger erheben sich gegen uns vor Gottes Gericht. Gottlob, daß wohl das Jahr zu Ende geht, aber nicht Gottes Wohlthaten, daß seine Barmherzigkeit kein Ende hat, und wir nicht so viel Sünde heute und morgen vor den Heiland bringen können, als Er uns vergeben kann, daß sein Blut am Ende des Jahres noch nicht die Kraft verloren hat, die es beim Anfange desselben hatte! So fleh’ ich denn auch über dieses Jahr: Mein Gott, ich bitt’ durch Christi Blut, mach’s nur mit meinem Ende gut. Amen. (Johann Friedrich Wilhelm Arndt)
Dies ist ein Lehrpsalm, worinnen Moses lehret, wo der Tod herkomme, nämlich von der Sünde, welche Gott allein kennet, und die aller Welt verborgen und doch von Adam uns allen angeboren ist.
Auch zeiget hier Moses an, wie kurz und elend das Leben auf Erden sey, so daß es wohl ein klägliches Sterben heißen könne. Doch sey dies dazu gut, - spricht er -, daß wir dadurch vermahnet werden, Gottes Gnade und Hilfe zu suchen, der uns von dem allen erlöse. Denn die nicht an den Tod gedenken und kein Elend fühlen, bleiben tolle Narren, fragen auch nichts nach Gottes Gnade und Hilfe.
Endlich beschließt Moses den Psalm mit der Bitte, daß uns Gott Sein Werk, das ist Hilfe von Sünde und Tod erzeigen und Christum senden - und unser Werk, so lange wir hier leben, fördern, das ist beide geistliches und weltliches Regiment gnädiglich bestätigen und erhalten wolle.
Es ist dieser Psalm ein kurzes, feines, reiches und volles Gebetlein und so eingerichtet, daß erstlich Gott gelobet wird wegen Seiner großen Güte gegen uns, - darnach wegen Seiner Ewigkeit, - weiter wegen Seiner allgemeinen Regierung, welche man nicht hindern kann, - ferner wegen Seiner Unermeßlichkeit. - Darauf folgt hingegen eine wehmüthige Klage über die Eitelkeit, Mühseligkeit und Kürze des menschlichen Lebens. - Darnach kommt eine demüthige Bitte um Erleuchtung, damit wir dieses unser Elend recht erkennen und dadurch klug gemacht werden, ingleichen um Gnade und göttlichen Segen in Christo. - Zuletzt ist eine Zusage, daß wir Gott für solche hohe Wohlthaten loben und preisen wollen.
Nun, o ewiger Gott, gib uns, Dich in Deiner Vollkommenheit und Unsterblichkeit, uns aber in unserer Unvollkommenheit und Sterblichkeit zu erkennen, damit auch wir klug werden - und Deine Gnade in Christo bei Zeiten suchen - und auch finden und erlangen mögen. Amen. (Veit Dieterich)