Vinet, Alexandre - Die Einsamkeit, den Seelsorgern empfohlen

Vinet, Alexandre - Die Einsamkeit, den Seelsorgern empfohlen

Nicht das Geringste in der Lebensgeschichte des Menschensohns ist unbedeutend; jede seiner Handlungen wie jedes seiner Worte unterrichten uns, und sehr oft entspringt aus den Umständen, die nur bestimmt zu sein scheinen, die Handlungen der Erzählungen unter sich zu verbinden, irgend eine hochbedeutende Lehre. Nicht ohne Absicht hat der Geist Gottes, der die Feder der Evangelisten geleitet, diesen die Wichtigkeit der öfteren Zurückziehungen unsers Herrn auf einen Berg oder in die Wüste einleuchten lassen. Im Hinblick auf den, dessen heilige Seele eine wesentliche und beständige Verbindung mit dem Gott aller Heiligkeit unterhielt, wie er sich von der Menge trennte, um mit seinem Vater zu reden, der die Wahrheit selbst war, wie er sich vom Geräusch der Welt entfernte, um in größerer Nähe die Stimme des Geistes zu vernehmen, darf man nicht zweifeln, daß der Christ der Einsamkeit und der Stille, deren Nothwendigkeit unser Herr und Meister selbst fühlte, nicht auch bedürfe, und insbesonders wir, meine Brüder, dürfen nicht zweifeln, daß, da der oberste Seelsorger die Einsamkeit geliebt und gesucht hat, wir, als Seelsorger in seinem Namen, Prediger der Kirche, die er gestiftet, nicht auch wie er die Einsamkeit lieben und suchen sollen.

Obwohl das erhabene Vorbild uns genüge, so mag es doch nicht unnöthig, vielmehr erforderlich sein, uns Rechnung zu geben von den Gründen, welche, abgesehen von der Macht eines solchen Beispiels, dem Diener des Herrn die Einsamkeit anempfehlen. Dieß ist's, meine lieben Brüder, was wir versuchen wollen; und wir müssen uns gestehen, daß die Zeit, in der wir leben, die jetzige Gestaltung des menschlichen Lebens und unsers Standes unser Interesse an einem ohnedieß für alle Zeiten und alle Religionen so anziehenden Gegenstande noch erhöhen. Der, der zu euch hierüber sprechen will, und der über diesen Gegenstand wie über jeden andern vielmehr von euch zu lernen, als euch zu lehren hat, fühlt sich zu schwach, um denselben würdig behandeln zu können; möchte es ihm auf eine nützliche Weise gelingen! und zu diesem Zwecke betet mit ihm zu Gott, daß er die Empfindungen seines Herzens und die Reden seines Mundes überwachen möge. So geschehe es!

Wir könnten uns an die allgemeinsten Betrachtungen halten und gewiß sein, daß sie sich von selbst auf unsern heiligen Beruf anwendeten. Die Einsamkeit ist der Sammlung des Geistes günstig, und nur, wenn der Mensch sich sammelt, d. h. wenn er in sich selbst geht und Alles, ein Einziges ausgenommen, von sich entfernt, ist er im Stande, eine große Gedanken- und Willensfestigkeit zu, entwickeln. Jedes kräftige Leben ist immer auch ein tiefes. Nun ist aber dich Sichsammeln um so schwerer, als mehrere Gegenstände unsre Aufmerksamkeit fesseln, und als mehrere verschiedentliche Eindrücke sich unsrer Seele bemeistern wollen. Was uns zerstreut, kann uns nur schwächen. Die Einsamkeit, welche uns von diesen Gegenständen trennt, diesen Eindrücken entzieht, auf die kleinstmögliche Zahl die äußern Ursachen der Zerstreuung reducirt, ist demnach allen Menschen mehr oder weniger nützlich; die Größten unter ihnen haben ihren Werth erkannt und Gelegenheit dazu aufgesucht; selbst der Mißbrauch, den man damit getrieben, zeugt von deren Nützlichkeit, indem die Ueberspanntheiten, die davon Folge waren, alle sich als die tyrannische Macht eines einzigen Gedankens stets zu erkennen geben, welcher nach und nach unbeschränkter Beherrscher der Einbildungskraft, der Seele und des Lebens geworden. Solche Beispiele leiten uns auf den Gedanken, daß zwei entgegengesetzte Stellungen, die Gesellschaft und die Einsamkeit, miteinander, um die vollendete Bildung des Menschen streiten, die erste, indem sie seine Gedanken weckt und seinem Willen einen Zielpunkt giebt, die letztere, indem sie vollendet, was die erstere nur entworfen hat, und indem sie ihn auf die Stufe der eigentlichen Ueberzeugung und des festen Willens emporhebt.

Wenn die Einsamkeit mehr oder weniger allen Menschen nothwendig ist, so ist sie besonders wichtig für den religiösen Menschen. In der That ist die Religion durch die Ausübung gewisser äußerlicher Handlungen, sei es des Cultus, sei es der Moral, noch nicht erfüllt. Diese Handlungen sind an und für sich nichts Anderes, als eine Folge oder eine Offenbarung eines mehr innerlichen Lebens, welches die Verbindung der Seele mit dem unsichtbaren Wesen ist. Die sichtbaren Dinge aber, welche der Schöpfer zu unserm Dienste bestimmte, damit sie gleichsam die Treppe zum Unsichtbaren bilden, - die äußerliche Welt, deren jeder Gegenstand, jeder Wechsel uns an Gott erinnern sollte, sie hat diese Kraft in unseren, durch die Sünde blind und taub gewordnen Seelen verloren; sie übt seitdem einen ganz entgegengesetzten Einfluß auf uns aus; sie zieht unsre Gedanken und unsre Zuneigung von Gott ab und führt sie mehr dem Materiellen und der Eitelkeit zu; sie entthront in unsern Herzen die Unendlichkeit und die Unsterblichkeit; sie beraubt uns endlich noch des Geschmacks und des Gefühls für die wahren Güter, so daß, den Eindrücken von Außen ganz hingegeben, wir bald diejenigen der Wahrheit nicht mehr empfinden, und daß ohne ein sehr starkes und sorgsam unterhaltenes inneres Leben die leichte und von Dünkel aufgeblasene Seele jedem Reize der Leidenschaft, der Eigenliebe und der Neugier in die Arme fällt. Wie sehr muß uns daher die Religion, deren Hauptendzweck ist, daß sie uns den Eindrücken der sichtbaren Welt entfremde, die Zurückgezogenheit und Einsamkeit anempfehlen!

„Es ist nicht gut“, selbst in religiösem Sinne nicht, „daß der Mensch allein sei.“ Aber noch viel weniger wäre es gut für ihn, nie allein zu sein. Durch die Verbindung mit den Menschen verliert man die Eigenthümlichkeit; man vertauscht seinen eignen Charakter mit einem allgemeinen; man denkt mit dem Geiste Andrer; man hört auf, sich selbst anzugehören. Nun muß man aber, um Christ werden zu können, zuerst sich selbst angehören; man muß sich sich selbst zueignen, um sich Gott hingeben zu können. Wenn wir in der Verbindung mit der Erde diese angeborne Gestalt unsers Wesens verloren hätten, welche uns zu dem macht, was wir sind, so würde die sich uns nähernde Wahrheit umsonst sich an uns zu halten suchen, und wir, die wir nach und nach die Seele Aller die unsre hätten besiegen lassen, wir besäßen nichts mehr, das die Wahrheit empfände, sie erkennete und sie in uns aufnähme. Meine Brüder, nie drohte diese Gefahr so sehr wie gerade jetzt; sie begegnet uns immer, in der Kirche wie im Leben; Alles verschwört sich, selbst unter den heiligsten Gestalten, uns von uns selbst zu entfernen, und wir laufen jeden Augenblick Gefahr, die Stimme des Jahrhunderts für die Stimme des Geistes Gottes zu halten. Ich weiß nicht, was für eine alberne Seele, was für ein erkünsteltes Leben unaufhörlich die Stelle unsrer Seele, die Stelle unsers Lebens einzunehmen drohen. Ich weiß nicht, was für eine magische Kraft, gleich der ungeschminktesten Eingebung unsers Gewissens, uns uns sammeln und mit der Wärme der Ueberzeugung Systeme und Formen vertheidigen heißt, die außer uns aus dem Streite der Ideen und dem Lauf der Begebenheiten geboren sind. Man betrachtet, man ahmt nach, man wiederholt und glaubt einen Versuch zu machen. Niemals hat wohl der Wunsch des Königs der Propheten in mehr Herzen wieder geklungen: „Ach! wer giebt mir die Flügel der Taube! ich flöhe fort und setzte mich an irgend einem Orte“; fern von dem Lärm und dem Staub der Erde, fern von ihren Erinnerungen laßt uns, wenn es möglich ist, uns selbst aufsuchen; laßt uns jenen frühem Menschen, jenen wahren Menschen unter der dicken Hülle der Sektenmeinungen und des Zeitgeistes wieder finden; wecken wir die innere Stimme wieder auf; eröffnen wir wieder feierlich den lange unterbrochenen Zusammenhang mit unserm Gewissen: ja, feierlich; denn in jener Stille der Welt können wir Gott selbst hören; durch die innere Stimme spricht Gott. „Wenn ich ihn werde in die Wüste geführt haben,“ spricht Gott zu dem Propheten, „so werde ich zu seinem Herzen sprechen.“

Wir machen uns der Uebertreibung nicht schuldig, wenn wir sagen, daß ohne Liebe zur Einsamkeit keine Liebe zur Wahrheit möglich ist. Wenigstens dieß ist gewiß, daß die, welche die Wahrheit nicht lieben, eben so wenig die Einsamkeit lieben. Warum? weil die Einsamkeit sie mehr und weniger zwingt, in sich selbst zu gehen, und weil all ihre Anstrengung dahin gerichtet ist, dieselbe zu verlassen, um in derselben nicht der Wahrheit zu begegnen. Denn es ist gewiß, daß alles, was uns in uns selbst zurückführt, uns der Wahrheit und Gott wiedergiebt, weil in unserm Innern, in unsrer innersten Tiefe ein Etwas, lebt das unaufhörlich von der Wahrheit und von Gott Zeugniß ablegt, ein Etwas, das bejammert und bewundert, ein Etwas, das sich an's Unsichtbare und Unsterbliche reiht, ein Etwas, vom Evangelium gebilligt, ein Etwas, das zum Voraus, selbst ohne unser Zuthun, christlich ist. Wir haben es in jenen Augenblicken erfahren, wo, da alles Geräusch der Erde todt und unsre Beziehungen zu derselben abgebrochen, wir uns plötzlich uns selbst gegenüber befanden; des Morgens, wenn wir mit erneuten Kräften wieder zu leben und zu denken anfangen, des Nachts, wenn wir erwachen, und, nach dem Ausdrucke des Propheten, „unsre Gedanken uns unterrichten“, in der Stille der Außenwelt kann endlich die innere Stimme sich hören lassen, jener liebliche, sanfte, aber durchdringendere Ton als der Donner ist es, jener leise Hauch ist's, der, nach dem Orkane, au den Lippen des Propheten vorüberweht, und vor dem sich alle Haare seines Antlitzes sträuben. Eine Binde fallt von unsern Augen; unser Taumel ist gehoben; alle Dinge haben ein schöneres Ansehen unter einem reineren Himmel erhalten; unsre Träume von ehedem machen uns staunen, wir erröthen im Innersten unsrer Seele vor unsern Schwärmereien und vor unsern Aufwallungen, unsrer Furcht und unsern Wünschen; in solchen, ach! zu schnellen und von uns noch verkürzten, Augenblicken setzt sich nichts zwischen die Wahrheit und uns, und wenn wir sie verlängern wollten und in unsern Leben vervielfachen, zweifelt nicht, daß dieses selbst nicht nach und nach eine andre Gestalt und eine andre Haltung annähme. Wenn wir jedoch, im Gegentheil, diese Augenblicke hassen um des Lichtes willen, welches sie über unsern geistigen Standpunkt verbreiten, und, weil wir sie hassen, wie die sie vervielfachende Einsamkeit meiden, geben wir uns den Geschäften und den Menschen als Raub hin, lassen wir sie um unsre eignen elenden Lappen sich zanken und sie sich einander entreißen und genießen des traurigen Glückes, uns uns selbst entfremdend Gott entzogen zu haben.

Außerdem wollen wir nicht vergessen, meine Brüder, daß wir auf die Erde gesetzt sind, um uns in der Religion zu üben; auf der Erde und durch die Hindernisse, die uns da in den Weg treten, stärkt und entwickelt sie sich; die langanhaltende Einsamkeit würde unsrer Religion eben so sehr schaden, als unsre stete Verbindung mit der Außenwelt; sie müßte uns Schaden bringen, weil sie mit den Absichten und dem Befehle Gottes im Mißklang wäre; sie würde unsern Ungehorsam nicht strafen, und ihre Gerechtigkeit würde unsrer vergeblich unter dem Titel Klugheit versteckten Feigheit noch traurigere Folge nachsenden, als alle die sind, welche ein bewegtes, ruheloses Leben erzeugen kann. Wenn die bösen Geister die Erde beunruhigen, so verfolgen sie in der Einöde den, welchen Gehorsam und Liebe in der Welt zurückhalten sollten; ist die Erde das Stelldichein der Täuschungen, so ist die selbstsüchtige Einsamkeit das Land der Gespenster; die Täuschung aller Täuschungen, der größte Irrthum ist, zu glauben, man sei sicher im Vergessen der unmittelbarsten Pflichten. Zudem hat unser Herr gesprochen, er hat zu seinem Vater gesagt: „Ich bitte dich nicht, daß du sie von der Welt hinwegnehmest, sondern, daß du sie vor dem Bösen bewahrest.“ Dürften wir wohl ein andres Gebet aussprechen, einen andern Wunsch hegen, andre Grundsätze befolgen? Nein, meine Brüder, laßt uns nur beten, vor dem Bösen bewahrt zu bleiben; aber lernen wir in der Einsamkeit, das heißt, in der Sammlung unsers Geistes, im Nachdenken und im Gebete, die Kräfte stählen, welche wir in der Welt und gegen dieselbe bedürfen.

Meine Brüder! wenn nun aber die Einsamkeit dem Menschen im Allgemeinen und besonders dem christlichgesinnten Menschen heilbringend ist, so ist es ganz klar, daß sie dem Seelsorger, der Mensch und Christ im kräftigsten und vollendetsten Sinne ist, den diese beiden Wörter haben können, dienlich ist. Es ist die Aufgabe des Seelsorgers, wenn sie wohl aufgefaßt ist, die größte der menschlichen Aufgaben, ihrer Quelle, ihren Mitteln und ihren Wirkungen nach. Ihrer Quelle nach, weil sie die Religion betrifft, und weil die Religion dem menschlichen Leben die höchste und vollendete Bedeutung giebt. Ihren Mitteln nach, weil wir durch die beste Seite unsrer selbst auf die beste Seite Andrer einwirken. Ihren Wirkungen nach, weil die Bekehrung einer einzigen Seele einer Auferstehung von den Todten gleicht, und dieser erhabne, so weit als möglich ausgedehnte Eindruck die Auferstehung der Menschheit sein würde. Diese Aufgabe ist wie die schwerste so auch die schönste, wie die verwickeltste in einem Sinne so auch die einfachste in einem andern; wenn sie oft bei der großen Gebrechlichkeit der menschlichen Mittel erfüllt wird, auf daß Gott aller Ruhm werde, erheischt sie doch nicht weniger allen Muth, alle Geduld, alle Beharrlichkeit, alles Wissen und allen Geist, den wir besitzen mögen; dieser Aufgabe ist Alles gut genug, weil sie Gott zur Stütze hat, aber es ist ihr auch nichts zu gut, weil sie Gott zum Gegenstände hat; und wollen wir uns die größte Höhe des Geistes der menschlichen Aufgaben einerseits und die des Geistes des Apostelamtes anderseits denken, werden wir einsehen, daß in allen Beziehungen der letztere über den erstem den Sieg davon trägt. Die Aufgabe des Seelsorgers ist demnach, unter den verschiedenen Aufgaben, die den Menschen aufgelegt sind, die erhabenste, und der Seelsorger ist Mensch schon des Amtes wegen. Wenn daher die Einsamkeit Jedermann zum Denken und Handeln große Vortheile gewährt, muß es noch in größerm Maße der Fall bei dem Menschen des Denkens und Handelns, beim Seelsorger sein.

Der Seelsorger, meine Brüder, ist aber vornehmlich Christ von Amts wegen, das heißt, er soll es sein. Diese Worte enthalten die ganze Definition des evangelischen Lehramtes. Ist der Seelsorger in der That denn etwas Anderes als ein ausgezeichneter Christ, ein Christ, von Amts wegen verpflichtet, wie wir es alle sind, „die Tugenden dessen auszukünden, der uns aus der Finsterniß zu seinem wunderbaren Licht geführt“? Wenn ihr von seinem Amte die Pflege des Kultus, der nur die Form des Amtes ist, trennt, was bleibt noch übrig, wenn nicht eine Pflicht, welche alle Menschen, nach Maßgabe ihrer Mittel und nach der Art, wie ihre Lage es verträgt, zu erfüllen berufen sind? Wo ist der Christ, der nicht, so viel an ihm ist, unterrichten, ermahnen, trösten, Zeugniß geben, „sein Licht vor den Menschen leuchten lassen“, „das Salz der Erde sein“, seinerseits zu Errichtung des lebendigen Tempels, der die Kirche des Herrn ist, beitragen sollte? Wenn jeder Christ Seelsorger ist, um wie viel mehr und in welch herrlicherm Sinne ist der Seelsorger Christ! Wie sehr soll sich dieser „Gottesmann“ „zu jedem Werke geschickt“ machen! Wie sehr soll er „für sich selbst Sorge tragen“, wie für seine Lehre, auf daß sein Charakter und sein Leben selbst zur Lehre werden! Wie soll er nicht „in allen Dingen das Vorbild der Heerde“ sein! Er ist mehr noch: er ist der Schild und die Standarte des Christenthums in mitten der Erde. Beurtheilt die Welt eine Religion nach ihren Anhängern, wie viel mehr nach den Predigern! Prediger des Evangeliums, ihr seid das verkörperte Evangelium; höher kann man sich nicht erheben, man hält sich an euch: ein guter Seelsorger kann dem Evangelium günstige Vorurtheile erzeugen, aber daß ein schlechter Seelsorger ungünstige einflöße, ist viel gewisser, und das Böse, das einem guten Seelsorger anklebt, verwischt leicht alles, was er Gutes besitzt; die Strenge der Welt gegen euch ist unerbittlich, die Forderungen unendlich; sie weiß, bis in's Kleinste, wie ihr sein und was ihr thun sollet. Dieß ist sehr abschreckend, aber es ist gut, es ist gerecht; ihr, möget davor zittern, ihr könnet euch aber nicht darüber beklagen. Gebt es auf, protestantische Prediger zu sein, oder seid streng, was man von euch fordert, christliche Vorbilder. Wiederholet euch jeden Tag, daß dieß es sei, was ihr sein sollet, und Met dann, daß, wenn der gewöhnliche Christ sich angelegen sei„ läßt, sich, mitten in den Tagesbeschäftigungen, Augenblicke zu verschaffen, in denen er ungestört seinem Gott nahe sein kann, ihr, nicht nur als Prediger, nein, als Christen schon besonders, die Einsamkeit lieben und suchen sollet.

Endlich aber ist's Zeit, es zu sagen, ihr seid Seelsorger, ihr habt besondere Geschäfte und Pflichten: ist denn die Einsamkeit für den Seelsorger nicht auch von besonderer Wichtigkeit? Mehr als ein Andrer ist der Seelsorger berufen, „seine Pfade zu suchen und zu erforschen“. Auf dem Pfad, den er verfolgt, zieht er viele Seelen sich nach. Nun ist aber nicht jeder Weg offenbar gut oder offenbar schlecht. „Der Weg scheint grad, der zum Tode führt.“ Man kann sich in den Mitteln täuschen, ohne im Ziel zu irren, und die besten Absichten können auf traurige Resultate hinauslaufen. Auf den wahren Grund kann man „ein Haus von Holz und Stroh“ aufbauen, „welches vom Feuer verzehrt wird“, oder „ein Haus von Gold und Edelsteinen“, welches bleiben wird. Beim Brennen des erstern wird der Baumeister „sich wie mitten durch's Feuer retten“ können,- aber welche Betrübniß, welch schmerzenvolle Glaubensprobe, diese traurigen Ueberreste betrachten zu müssen; nun in Wirklichkeit und später in der Erinnerung von dem Untergang so vieler Seelen Zeuge zu sein und zu denken, daß ihm keine derselben zum Throne des Allvaters folgen werde! Ach! diesem göttlichen Vater ist nicht verborgen, wie er solch bittere Schmerzen im Herzen eines treuen Seelsorgers stillen kann: aber welche Schmerzen, bis daß sie zu der unbegreiflichen Glückseligkeit des Himmels aufgelöst sein werden! Und diese Erinnerung mit sich an's Grab zu schleppen! - Ueberdieß ist selbst die Absicht nicht immer gut; man kann sich für aufrichtig, treu halten, ohne es zu sein; und um es nicht zu ahnen, nicht zu wissen, muß man stets, ohne Athem zu holen, ohne rückwärts zu blicken, vorwärtsschreiten. Eine unausgesetzte Thätigkeit läßt den klugen und gewissenhaften Prediger Betäubung - Abstumpfung - befürchten; er hat nöthig, sich über seine Beweggründe zu befragen; er mißtraut selbst der Hitze seines Eifers, und je mehr er sich mit seinem Thun verwoben sieht, um so mehr erforscht er mit Aengstlichkeit, ob er feinen Beruf um des Berufes willen, oder ob er in demselben nur sich selbst liebe. Da die kurzen Betrachtungen, die er in seine Geschäfte mischt, sich fast nie vollenden und in seinem Geiste nur ungewisse und schwankende Eindrücke hinterlassen, darf er solch flüchtigen Wahrnehmungen nicht trauen, und wie stark auch die kalte Ueberlegung und die gewöhnliche Sicherheit seines gesunden Sinnes in menschlichen Dingen sein mag, er wird sich denselben nicht hingeben, weil er wohl weiß, daß bei zarten Fragen die gewöhnliche Gewahr nicht hinreicht, und daß der natürliche gesunde Sinn nicht immer vor unzähligen Irrthümern schützt. Wie viele Mühe wird es ihn nun aber kosten, dieß Erforschen seiner Wege, diese strenge Beobachtung seiner Mittel und seiner Beweggründe, diese ernste Kritik alles seines Thuns zu bewerkstelligen, wenn er sich nicht einige Augenblicke der Einsamkeit verschafft!

Man sagt, meine Brüder, die Erfahrung sei ein großer Vortheil, und man hat Recht, denn das Denken, obwohl es viele Dinge erforscht, vermag doch nicht Alles zu ergründen. Aber man hat Unrecht, zu glauben, die Erfahrung entstehe nur aus den Handlungen, an welchen man Theil genommen, oder denen man beigewohnt hat, und sie nach der Zahl der Jahre zu schätzen. Das Wer allein giebt keine Erfahrung, und man kann lange gelebt haben, ohne viel erlebt zu haben. Jedermann hat gesehen, aber nicht Jedermann hat betrachtet. Die Erfahrung ist nicht allein ein Gegenstand, sie ist eine Handlung. Es sind die durch Nachdenken erleuchteten Ereignisse unsers Lebens, oder, wenn ihr lieber wollt, es ist das Nachdenken, welches sich mit den Ereignissen eint, um ihnen ihre Bedeutung zu geben und ihnen ihre Folgen anzuknüpfen. Man hat nur dann viel erfahren, wenn man viel nachgedacht hat. Warum dann daran zweifeln, daß die so zu sagen in der Außenwelt begonnene Erfahrung sich in der Einsamkeit vollende und erfülle? Wie viele Keime, die das Leben schuf, sind verdorben und verloren gegangen, weil der Augenblick, sie zu sammeln, mangelte! Wie viel erhaltene und fruchttragende Keime, wie viel Zukunft aus einer der Betrachtung eines einzigen Ereignisses geweihten Stunde!

Das Wort Gottes ist die schmackhafte und süße Speise, mit welcher ihr eure Heerde erquicken könnt, aber ihr, als Seelsorger, sollt euch selbst damit speisen, denn eure Gesundheit ist das Leben euerer Heerde. Aber, glaubet es mir, es wäre betrübend, wenn ihr dieses Wort nie läset, als in Gegenwart oder im Angesichte euerer Heerde. Es bleibt, ich will es glauben, immer etwas für uns von einem Studium, das wir für die Kirche unternommen haben, aber niemals etwas so inniges, als von einem Studium unmittelbar für uns selbst unternommen. Unser Heil, wir müssen es uns gestehen, bildet sich nicht gerade zu derselben Zeit wie das der Andern; unser Heil läßt sich nicht von dem ihrigen vorabnehmen; wir sind die Sorger für unsre eigenen Seelen; wir sind ein Theil unsrer eigenen Gemeinde, und auf uns selbst soll unsre erste Sorge gerichtet sein. Daß wir aus der Bibel Gegenstände der Betrachtung und Predigttexte heraussuchen, ist für uns ebenso wie für unsre Heerde, die ja nur verlieren kann, wenn wir selbst verlieren, keineswegs gering. Wir müssen lernen, die Bibel nicht als Prediger, sondern als einfache Gläubige zu lesen. Und welche Erholung für einen Prediger, sie auf solche Weise zu lesen, ohne damit immer den Gedanken der Arbeit und Pflicht zu verbinden, sie recht langsam zu lesen, sich frei durch die fruchtbaren und reichen Ebenen zu bewegen, sie in allen Beziehungen zu durchwandeln, alle verborgnen Stellen darin zu ergründen und deren Einheit zu umfassen! Wir sollen daher neben den Arbeitsstunden uns für diese geistige Mahlzeit wenigstens Augenblicke verschaffen; wir sollen dann und wann vom Lehrstuhle, auf welchem unser geistliches Vorurtheil uns unaufhörlich zurückhält, niedersteigen, uns als Schüler zu den Füßen Jesu Christi setzen, verborgen in den Reihen des Volkes, das ihn anhört.

Viel ließe, meine Brüder, sich sagen über eine andre Anwendung unsrer einsamen Stunden, über das in so mancher Hinsicht empfehlenswerthe Studium der Wissenschaft, das besonders zu Berichtigung eines ganz praktischen, ganz von besondern und zufälligen Geschäften angefüllten Lebens, das im Stande ist, bei den größten Geistern Beschränktheit und Eigensinn zu erzeugen, nothwendig ist. Da nun aber eine sinnreiche Frage ohne Hülfe einiger Entwickelungen nicht mit Sicherheit gelöst werden kann, so erlaubt mir, daß es mir genüge, sie vorerst nur angedeutet zu haben, und daß ich mit euch zu der höchsten Sphäre meines Gegenstandes hineile, zu der besten Anwendung der Einsamkeit, dahin, wo alles Andre Nützlichkeit und Weihe schöpft. „Jesus entwich in die Einöde und betete.“ Bei welchem aus euch hätte ich nicht mit diesen wenigen Worten Erinnerungen an die innigsten und liebsten Tröstungen seines Amtes erweckt? Ach, meine Brüder, wenn unser Amt auch nichts als Vergnügen böte, so müßte man, um sie zu genießen, sie gleichwohl auf dem Altare niederlegen, gleichwohl müßte man sie durch Dankbarkeit und tiefe Demüthigung heiligen, die Erstlinge und der Tribut unsrer Erfolge gebühren dem Schöpfer unsrer Erfolge, erst dann mögen wir unsern Theil hinnehmen. Was ist da natürlicher als, die Einsamkeit zu suchen, auf daß alle unsre Freude, unser Herz ganz zu ihm sich erhebe, daß nichts davon sich im Zeitstrom verflüchtige! Aber der Prediger, dieser unaufhörliche Kampfer gegen die Mächte der Sünde und des Irrthums, nähert sich Gott mit andern Dingen als mit Aufzählung seiner Siege. Zu wem wird dieser Gottesmann, aber dennoch Mensch, zu wem wird er reden von dem Geheimnisse jener Zweifel, jener Schwachheiten, jener Schlaffheiten, jener innerlichen Aergernisse, die ein schwerer und gehemmter Kirchendienst so oft auch in der priesterlichsten Seele gebiert? Zu wem wird er bei schmerzhaften Erfahrungen sich flüchten, wem sich erschöpft, blutend und in Thränen schwimmend zu Füßen werfen? Die heiligsten Beziehungen des Menschen zum Menschen, des Seelsorgers zum Seelsorger, und wären sie noch so edel, vermögen nicht, die innigere Verbindung der Seele mit dem Herrn zu ersetzen. Es giebt Dinge, die sich nur zu Gott sagen lassen, und die Man selbst nur vor Gott denken kann. Er allein, so groß und so furchtbar er auch ist, weiß uns zum äußersten und schwersten Vertrauen zu ermuthigen und aus den innersten Falten unsers Herzens Geheimnisse zu entlocken, die wir nie weder Andern noch uns selbst hätten sagen können. Bei wem wird der Prediger sich Rath holen, wenn die besten Rathschläge, aus Mangel an jener innern Eingebung, die die beste Beratherin ist, mißlingen? Von wem erfleht er, wie sein tägliches Brodt, so auch die Gabe der Wunder, da Alles in diesem Geschäfte, das die Verwandlung krönt, Wunder ist? Wem anempfiehlt er, in der Beklemmung der christlichen Liebe, jene Seele, die er vergeblich erfleht, wieder mit Gott sich auszusöhnen, und die 'er mit schaudervoller Sorglosigkeit ihrem Verderben schnellen Schrittes entgegenrennen sieht? Bei wem wird er für seine gekränkte Eigenliebe, für seine verwundete Empfindbarkeit einen feinen und zarten Balsam, einen heiligenden Trost suchen? Nach welchem Sterne am Himmel wird er, um auf sicherem Wege durch den Ocean des Lebens, wo des Menschen Hand keinen Pfad vorgezeichnet, zu kommen, aufblicken?

Laßt uns das Gebet nicht allein als ein Privilegium ansehen: es gehört zur Aufgabe des Christen, es ist eine Pflicht des Seelsorgers. Eine Pflicht, sagen wir; und wie ist dieser Gedanke für den Prediger nicht tröstend, wenn er sich den Mangel an Kraft und Wirkung seines äußern Priesteramtes nicht zu verhehlen vermag! Wie köstlich ist es da nicht für ihn, die bessere Seite jener Pflichten des Priesters, dessen ehevorige Attribute durch die neuen Satzungen verdrängt worden, wieder ergreifen zu können! Wie fühlt er sich glücklich, wenn er seine demüthigen Bitten an die Menschen umsonst gerichtet hat, sie zu Gott emporzusenden, in dem er stets sicher einen aufmerksamen und geneigten Zuhörer findet! Ein demüthiger Sünder betritt er, mit gesenktem Haupte, den heiligen Ort, aber er betritt ihn doch; er bringt die unendlichen Verdienste Jesu Christi und, so zu sagen, die Pfänder, die er von Gott selbst empfangen hat, mit sich, und, wie in frühern Zeiten der Hohepriester, bittet er für sein Volk in der Nähe des Ewigen. Ja, meine Brüder, das Gebet für eure Heerde ist eine der Verrichtungen euers Kirchendienstes, wie es auch eine der Verrichtungen des obersten Seelsorgers war und gewiß hauptsächlich in feinen einsamen Stunden Anwendung fand. „Der Satan hat euer begehrt, euch wie den Weizen zu reitern“, spricht der Herr zu Simon, „ich aber habe für dich gebetet, daß dein Glaube nicht abnehme.“ Er sagt nicht: ich bete, obwohl er gerade zu jener Stunde ohne Zweifel betete; nein, Jesus sagt: „er habe gebetet“. Sehet ihr ihn nicht, meine Brüder, wie er, auf eine besondere Weise, der Fürbitte gewisse Augenblicke jenes heiligen Lebens, das nur eine einzige Fürbitte war, weihte? Du weißt es jetzt, Sohn Jonas, oder beginnst es einzusehen, was für ein Gedanke die Seele deines Herrn erfaßte, als er „auf den Berg stieg, allein zu sein, um zu beten“; und ihr, Nachfolger des Sohnes des Jonas, ihr werdet, begreifen, daß ihr auf dem Berge und allein einen Theil der Pflichten eures Standes erfüllen und eure Thränen anwenden sollt, wenn eure Predigt ohne Wirkung geblieben, oder, daß diese selbst mehr Wirkung hervorbringe. Zu der reinen Himmelsluft des Berges müßt ihr, wenn es möglich wäre, hinaufsteigen; ihr müßt allein sein, von aller Welt zurückgezogen; dieß sind besondere Augenblicke, die ihr euerm Amte vorbehalten müßt. Liebet ihr die euch anvertrauten Seelen? betet viel für sie. Liebet ihr sie noch nicht stark genug? betet viel für sie, auf daß ihr sie lieben lernet; betet angelegentlich; betet mit einer geraden und bestimmten Gemüthsstimmung; widmet jenem besondern Gebete, der Fürbitte eigene Augenblicke; verschafft euch demnach auch Stunden der Zurückgezogenheit: stellet euch nicht über die unmittelbaren Jünger unsers Erlösers, die ersten Prediger seiner Kirche, welche um Abnahme einiger irdischen Sorgen baten, die, wenn auch würdig, dennoch irdisch waren, wie sie sagten, um „im Gebete verharren zu können“. In der That ist das Gebet ein Etwas, in dem man verharren muß, und allervorderst in dem Gebete des Seelsorgers; und wenn wir auch nur diesen Grund hätten, die Einsamkeit aufzusuchen, dieser Grund allein, meine Brüder, würde genügen.

Meine Brüder, diese verschiedenen Anwendungen der Einsamkeit entsprechen den verschiedenen mit dem evangelischen Predigtamt verbundenen Pflichten. Fassen wir das Einzelne zusammen, betrachten wir im Allgemeinen den Geist des evangelischen Predigtamtes, und nehmen wir unter dieser neuen Form die Frage, die uns beschäftigte, wieder auf. Es giebt einen Geist, eine Gabe zum Predigerstand für alle diejenigen, welche aus wahrhaftem Antrieb in diese geheiligte Schaar eintreten. Aber dieß Geschenk hat, wie jede Gabe der Gnade, um nicht auszulöschen, nöthig, unaufhörlich angefeuert zu werden. Wir dürsten nach Lesung jener Worte des heil. Paulus an den Timotheus: „Ich erinnere dich, die Gabe Gottes, die in dir ist durch die Auflegung meiner Hände, immer mehr anzufeuern“, kaum mehr daran zweifeln. Will der heil. Paulus mit diesen Motten den einfachen Christen Timotheus oder den Seelsorger Timotheus ermahnen? Unstreitig diesen letztem. Nun wäre aber, wenn die bloße Ausübung des Predigtamtes genügt hätte, die Gabe zum Predigtamt stets wach und kräftig zu erhalten, die Ermahnung überflüssig, oder sie wäre schon in allen den Ermahnungen zum Gehorsam, zum Eifer und zur Treue, die der Apostel früher schon an feinen geliebten Schüler gerichtet, enthalten gewesen. Er setzt keineswegs voraus, daß sich diese Flamme, die Timotheus in seinen Händen durch die Welt trage, einzig durch die Bewegung seines Laufes unterhalten und verstärken könne. Vielmehr scheint er zu glauben, daß, trotz dieser Bewegung, trotz dieser ganz evangelischen und priesterlichen Thätigkeit, diese Flamme nothwendiger Weise auslösche, und daß sie beständig auf dem Punkte stehe, auszulöschen. Die Ausübung des Predigtamtes genügt demnach nicht zur unausgesetzten Wiederbelebung des Geistes des Predigtamtes, es braucht Vorsicht und Mittel, die außerhalb seines Dienstes liegen. Was ist's denn, wenn nicht eine Einwirkung der Seele auf sich selbst, eine innerliche Handlung, die von der äußerlichen Uebung allerdings unterstützt wird, die aber zuvor die äußerliche Uebung unterstützt? Wenn nun aber diese innerliche Handlung nothwendig ist, wer zweifelt daran, daß die Einsamkeit, die uns ihr ganz hingiebt, und welche uns die Widmung aller unsrer Kräfte gestattet, uns mit besonderm Nachdruck beistehe, die Gabe, die wir empfangen, in uns wieder frisch anzufeuern?

Wir müssen wohl weiter gehen, meine Brüder, und gestehen, daß die äußerliche Thätigkeit, weit entfernt, zur Unterhaltung der heiligen Flamme in uns zu genügen, sie vielmehr zu ersticken droht. Wer kennt nicht aus Erfahrung die unvermeidliche Wirkung der Gewohnheit? Durch Gewohnheit können uns die verschiedenartigsten Dinge lieb und nothwendig werden, aber sie achten lehrt sie uns nicht; selbst ihre wesentlichste Wirkung dient dazu, die Achtung zu schwächen. Sie zerstört die Eigenschaften eines Gegenstandes, die ihm ein Recht zur Achtung geben, nicht und kann sie nicht zerstören; sie bleiben wohl dieselben, wir aber, wir verändern uns. Furcht und Bewunderung, welche die Achtung erzeugen, verlieren sich mit der Neuheit, und wenn irgend eine Pflicht, irgend eine besondere Stellung uns zu häufigen Verbindungen mit einem Wesen, einer Idee, einem Namen zwingt, so wird sich die Wirkung, von der wir so eben gesprochen, mit schrecklicher Schnelligkeit bewähren. Jeder Eindruck vermindert sich, wenn es eben nur Eindruck, ein Zustand und nicht eine Handlung der Seele ist; wenn man es für genügend hält, daß die Gegenstände auf sie einwirken, wirken sie nur kurze Zeit. In unserm Stande, meine Brüder, ist die Gefahr größer als in keinem andern. Die feinsten Werkzeuge schleifen sich auch am schnellsten ab. Dem Gefühl ist's gefährlich, wenn es zum Gewerbe wird, und es ist sehr zu befürchten, daß, wenn die christliche Liebe zum Beruf erhoben wird, der Beruf zum Handwerk ausarte. Das Gesetz, welches uns befiehlt, unser Predigtamt „zur Zeit und zur Unzeit“ zu üben, ist eben so furchtbar, als es gerecht ist. Gottesfurcht, Glaubenseifer haben, nicht nur für sich selbst, sondern auch für Andre und zu ihrer Zeit; stets bereit, stets aufgelegt zu sein; immer zu haben, um immer geben zu können; zu jeder Zeit von Jesu Christo reden und doch nie von ihm reden, als wenn das Herz davon voll ist, - welch eine Aufgabe, meine Brüder, welch eine Verantwortlichkeit, „und wer thut in diesen Dingen ein Genüge“! Glücklich, überglücklich unter einer großen Zahl, der Seelsorger, der sich nicht zu erinnern weiß, je, weder auf der Kanzel, noch im Gespräche oder im Gebet, den Namen Gottes unnütz gebraucht zu haben! Glücklich der, der nie von irgend einer pfarramtlichen Verrichtung oder einem Krankenbesuch, sein Gewissen vom Gefühle der Entweihung belastet, zurückgekehrt ist! Was sage ich? Glücklich der, der es empfunden hat, dieses Gefühl, glücklich der, der davon litt, und dem es nicht zur Gewohnheit geworden, die heiligen Gedanken und Namen so fast unwillkürlich zu verbreiten, so gleichgültig, wie die Quelle auf der Höhe des Berges den Reichthum ihres Wassers ausströmen läßt!

Wir sollen darum, meine lieben Brüder, nicht zu sehr auf unser Predigtamt selbst zählen, um in uns den Geist desselben zu erhalten. Ohne Zweifel liegt eine heiligende Tugend in einem heiligen Dienste: aber diese Tugend kann schwächer werden, untergehen; und wenn sie untergegangen ist, wird dieser nämliche Dienst, und wäre es der heiligendste gewesen, zum Verderben und führt uns eben so viel Böses zu, als er uns Gutes bringen sollte. Die Verantwortlichkeit richtet sich nach den Vortheilen, die Gefahren nach den Gebeten, und der Reiz verschwindet nur, um der Abneigung Platz zu machen. Nichts ist gefährlicher, sagt ein tiefer Denker, als die Verderbniß des Vortrefflichen. Je höher man steigt, desto tiefer fällt man. Nichts ist demnach unter dem Prediger, der den Geist und die Liebe zu seinem Stande verloren hat, und weil sogar die Uebung in feinem Stande ihn dieser Gefahr aussetzt, braucht er ein Etwas, das ihn täglich wiederum auf den rechten, von ihm früher betretenen Standpunkt zurückführt; sein innerer Antrieb muß sich täglich kräftigen, auf daß ihm täglich seine Weihe auf's Neue verliehen werde. Das Predigtamt, seine Freude und sein Ruhm, soll ihn schrecken und demüthigen. Er soll - weit entfernt, sich einzubilden, das Predigtamt bilde den Prediger - sich sagen, der Prediger bilde das Predigtamt, und das Bedürfniß, sich Gott zu nähern, nie mehr fühlen, als wenn seine Verrichtungen, und nur sie allein, ihn zu ihm hinzuführen scheinen. Da muß er die Regel befolgen, die Franz von Sales aufgestellt: „immer den Geist zu Gott zurückzuführen, selbst mitten in Handlungen, die Gott zum Gegenstande haben.“ Ist es nun noch nöthig, zu sagen, daß uns alle diese Betrachtungen die Einsamkeit nur um so kostbarer und lieber machen müssen?

Ueberdieß ist an den Verrichtungen, die uns obliegen, so wenig Alles geistig, als Alles geistlich. Viele unsrer Verrichtungen sind Geschäfte, und recht materielle Geschäfte. Welchen Theil die christliche Liebe, welche Alles adelt und verschönert, dabei haben mag, es sind doch Geschäfte. Es kommen sogar solche vor, deren Uebereinstimmung mit dem wahren Zweck des Predigtamtes schwer einzusehen ist. Dieß Hemmende hängt jedoch nur zum Theil von der Verwaltung, unter der wir stehen, ab. Keine geistliche Satzung wird diesem je abhelfen können, weil keine verhindern könnte, daß der Seelsorger wirklich das sei, was er bei uns ist, der Anwalt und Rathgeber der Armen, der natürliche Tröster aller Leidenden, die Seele der ersten Erziehung, der Vereinigungspunkt fast alles Guten, der oberste (der) Friedensrichter und thätiges permanentes Mitglied eines Sittengerichts, dessen die Gesellschaft nie entbehren wird. Dieß unsre Aufgabe, meine Brüder; wir wollen sie vor uns nehmen, aber mit Furcht und Zittern und uns nicht verhehlend, daß die Menge und Verschiedenheit unsrer Geschäfte zu einem Leben verurtheilen, das - Preis seinem Gegenstand und seinem Zwecke! - alle Eigenschaften zur Zerstreuung in sich vereinigt.

„Aber, wird man einwenden, wenn unsre Amtsgeschäfte so vielfach sind, warum noch die Liebe zur Einsamkeit nähren? Was sie nothwendig macht, ist gerade das, was sie schwer macht.“ - Meine Brüder, bis daß es dargethan sein wird, daß sie gänzlich unhaltbar sei, glauben wir uns berechtigt, den entgegengehaltenen Satz umzukehren und zu sagen: „Was die Liebe zur Einsamkeit erschwert, ist gerade das, was sie nothwendig macht.“ Je weniger Augenblicke ihr der Zurückgezogenheit opfern könnt, um so mehr sollt ihr beflissen sein, so wie sie sich darbieten, ihr dieselben zu verschaffen. Und, frei gesprochen, sind diese Augenblicke, so selten sie auch sein mögen, denn so wenig zahlreich, als ihr sagtet? Habt ihr sie wohl gezählt? Seid ihr gewiß, alle Augenblicke, die ihr der Einsamkeit verweigertet, der Pflicht gewidmet zu haben? Tragen die langen Unterhaltungen, die Neugierde, die unnützen Verbindungen, die thörichten Formalitäten, der eitle Wohlstand nicht zu den Hindernissen bei, die ihr empfindet, und zu der betäubenden Geschäftsmenge, derentwegen ihr euer Leben beklagtet? Ach, meine Brüder! das Zerstreuende der Liebesdienste macht mir keinen Kummer; wenn sie auch unsre Arbeit und unsre Sorgen unendlich vermehren, geben sie auf der andern Seite allen unsern Stunden eine gewisse Weihe; sie sind geizig und zu gleicher Zeit verschwenderisch; sie nehmen auf der Erde, um Gott zu geben; sie wissen für Alles Zeit zu finden. Ueberlasset euch ihnen ganz; fürchtet es nicht, ihren Eingebungen euch hinzugeben; sie werden euch zu entschädigen wissen: wenn von ihrer Seite ein Ruf an euch ergeht, so erhebt euch und folget ihm; unterbrechet euch, um ihm zu folgen, im Nachdenken, im Lesen, im angefangenen Gebete; auf der Straße mögt ihr euer Gebet fortsetzen; gehet, ihr habt die sichersten Unterpfande in Händen. Gott ist euer Schuldner; er weiß euch die Stunde der Einsamkeit wieder zu verschaffen, die ihr für ihn verloren habt.

Wir müssen darum nicht in der Armenpflege, sondern in der Welt, unser Hinderniß suchen, in dem leichtfertigen Erforderniß ihrer Gebräuche, in der Menge ihrer vielfachen und wechselnden Reize, in der immer wachsenden Verwicklung des menschlichen Lebens, in dieser jetzigen Form der Gesellschaft, die alle Elemente durcheinanderwirft und jede Grenze verwischt. Aber wenn es wahr sein sollte, daß das Leben des Seelsorgers, selbst bei Entschlagung alles Weltlichen, ganz ausgefüllt wäre, könnte da die Empfehlung, die wir ihm gemacht, keinen Anklang finden? Ja wohl, meine Brüder: denn es ist nicht so wohl an der Einsamkeit als vielmehr an der Liebe und dem Geiste der Einsamkeit gelegen. .

Ohne diese Liebe und diesen Geist der Einsamkeit giebt es keine wahrhafte Einsamkeit; die wahrhafte Einsamkeit ist im Herzen, und wer sie nicht da zu finden weiß, wird sie auch nirgends finden; man begegnet gewöhnlich der Welt in seinem Zimmer, wenn man die Welt mit sich hineingebracht hat. Ach! da sind wir nicht lange allein. Die Schwierigkeit, mit unserm Gewissen allein zu sein, wirft uns wieder mitten in Dinge, von denen wir uns getrennt glaubten. Was sage ich! da verlangen und erhalten böse Leidenschaften und Gedanken, welche die äußerliche Thätigkeit verdrängt hatte, Gehör. Wir sammeln uns, ja! aber zum Argen, und unser zweite Zustand ist schlimmer als der erste. Wir müssen drum, meine Brüder, die Einsamkeit nicht als ein Verhältniß, sondern als eine Handlung, als eine Uebung betrachten; auf daß sie sich auch in der Zurückgezogenheit fortsetze, muß sie in unserm Herzen angefangen haben; sie soll sich da ausgebildet haben; sie soll sich mehr und weniger von den äußern Umständen unabhängig erhalten, so daß wir, selbst im Strudel der Geschäfte und im Geräusch der Welt, ihre Wohlthaten genießen und mit jenem Bischöfe, von dem ich früher schon gesprochen, sagen können: „Ich bin von Leuten umgeben, aber mein Herz ist dennoch allein.“

Das Herz aber ist allein, wenn die Welt ihm ferne ist, und die Welt, die uns umgiebt, die uns einschließt, kann uns nur ferne sein, wenn sich Etwas zwischen uns und sie setzt. Der Schmerz, ein tiefer Schmerz, ist oft geeignet, diese Wirkung zu thun, und wohl hiezu ist er von Gott bestimmt; aber auch selbst diese Wirkung wird nicht erreicht, wenn der Schmerz nicht den Gedanken an Gott in sich trägt; ist dieß nicht, weh uns! dann kettet der Schmerz uns stärker an die Erde, von der er uns losmachen sollte. In einem wahrhaft einsamen Herzen ist Gott gegenwärtig; die Gegenwart Gottes, die der Zweck der Einsamkeit ist, ist auch das Mittel dazu. Denn nur Gott kann die Welt aus unserm Herzen verdrängen; nicht genügt dazu, was nicht Gott ist, weil alles, was nicht Gott ist, noch von der Welt ist. Ja, von der Welt ist noch das ernste Geschäft des Nachdenkens; von der Welt ist noch jene aufmerksame Selbstbeobachtung: zu sich selbst zurückkehren, ohne die Leitung Gottes, ist zu der Welt zurückgekehrt; in einem Herzen, das Gott nicht kennt, ist's ungestüm, lärmend und zerstreut wie auf einem Markte oder an einem Scheidwege, wo alles, was Welt heißt, an allen Seiten zu- und abläuft. Die wahre, ächte Einsamkeit besteht einzig in dem Fühlen der Gegenwart Gottes.

Jeder Mensch, meine Brüder, hat seinen Gott; beherrscht den Menschen eine Leidenschaft, so ist die sein Gott; und wenn der Gegenstand dieser Leidenschaft nicht materiell ist, wenn sie, um uns so auszudrücken, eine Leidenschaft des Geistes ist, so erhält sie gar leicht das Aussehen einer Religion. Wie viele Menschen haben nicht schon einen Gottesdienst einer Idee aufgeopfert! Wie viele Menschen haben sich, um sie ihnen eigen oder fruchtbar zu machen, von der Außenwelt losgerissen, sich kaum die nothwendigsten Bedürfnisse gestattet und haben in stetem Begleite einer abstrakten Idee oder einer weitliegenden Hoffnung lange Jahre gelebt! Was sage ich? Viele hatten keiner wirklichen Hoffnung nöthig, keines außer ihnen gesuchten Zieles, und sie sind mit einem wunderbaren Erfolg dahin gekommen, unaufhörlich in Gegenwart ihres Gottes zu leben.

Ist nun aber unser Gott weniger Gott als der ihrige? Können wir ihn, der die Liebe ist, der Mensch ward für uns, arm für uns, geächtet für uns, den Gott der Güte, den Gott-Heiland nicht in uns aufnehmen, wie sie ihren Gott in sich, aufnehmen? Giebt es kein Mittel, ihn in unserm lebendigen Tempel, den er höher hält, als alle Tempel, zu erhalten? Kann er sich uns denn nicht so mittheilen, daß er mit allen unsern Lagen, allen unsern Handlungen sich eint, wie sich unser Athemholen mit allen Bewegungen unsers Körpers eint? Können wir diesen Gott nicht überall und immer bei uns haben, wie das Weltkind seinen Götzen? Können wir nicht auch Alles auf Gott beziehen, wie das Weltkind Alles auf seine fixe Idee oder seine herrschende Leidenschaft bezieht? Und wie! darf ich mit nein antworten, wenn ich Menschen sehe, die sich mitten in ihren Geschäften sammeln, und welchen selbst die Geschäfte zur Sammlung verhelfen, weil sie, je nachdem sie sich von Menschen und Dingen gedrückt fühlen, in sich selbst zurückkehren und mit erneuter Hast nach den Blicken und dem Thun ihres Gottes spähen? Ja, es giebt Seelen, die es euch, wenn auch zitternd, sagen könnten, in welch seltenen Augenblicken sie es empfunden haben, daß sie von Gott abgekommen. Ohne auf so hohen Vorzug Anspruch zu machen, darf der Christ denn nicht von Gott erflehen, daß er ihm mitten im Wogen der Menschen eine Einsamkeit sei und eine Gesellschaft in der Einöde?

Alles, was wir über den Nutzen der äußerlichen Einsamkeit gesagt, wollen wir festhalten und hoffen, es werde jeder aus uns sie als ein Mittel betrachten, dessen wir uns mit Eifer bedienen sollen. Es liegt in der Pflicht des Christen, es ist dem Geist des Christenthums gemäß, alle Mittel mit so viel Eifer zu ergreifen, als ob sie unumgänglich nothwendig wären, und dann, wenn uns die Mittel gebrechen, zu thun, als ob sie unnütz wären, und sich ganz dem Gott hinzugeben, der selbst zu uns gesagt hat: „Lasset euch an meiner Gnade genügen“. Denn Gottes Gnade schenkt uns die Mittel und ersetzt dieselben. Sie weiß euch in euern Geschäften eine herrlichere Einsamkeit zu geben, als die, welche ihr in eurer Stube suchtet. Wenn ihr dieß stille und zweite Leben lebet, werdet ihr überall allein sein; allein auf der Kanzel, im Angesicht eurer Zuhörer, die euch betrachten und beurtheilen; allein in euern Hausbesuchen, wo ewige Zwiste euch erwarten und verwunden; allein in jenen Berufsgesprächen, wo die Materie und die Zeit euch ganz in Anspruch zu nehmen scheinen. Die Gnade Gottes wandelt Alles um; die Gegenwart Gottes heiliget Alles; die Hindernisse dienen uns zum Wachsthum im Glauben.

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