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Tholuck, August - Predigt bei der ersten Jahresfeier des Hallischen Missions-Hilfsvereins in der St. Moritzkirche gehalten.

Indem ich, meine Brüder in Christo, heut vor euch auftrete, erinnere ich mich jener Inschrift unter dem Bild eines leidenden Christus, welche einen Mann, dessen Wirken wie ein fruchtbarer milder Frühlingsregen durch Weltteile hindurchging, zuerst zu seinem Wirken in der Liebe entstammte. Es war der Stifter der Brüdergemeinde, welcher unter einem Bild eines leidenden Christus die Inschrift erblickte: „Das tat ich für dich, was tust du für mich?“ und in dessen Brust von der Stunde an das Wort nicht mehr verklang, sondern wie ein belebender Odem durch all' sein Tun und Treiben hindurchtönte. Das Werk, welchem diese unsere gottesdienstliche Feier gewidmet ist, ist ein Werk der selbstverleugnenden Liebe. Wer wird verlassen Vater und Mutter und den heimischen Boden, und in die brennende Sonne und die erstarrende Kälte des fremden Landes hinausziehen, um Seelen zu gewinnen, ohne die selbstverleugnende Liebe? Gibt es aber ein anderes Wort, das gewaltiger sie aufriefe in dem liebearmen Menschenherzen, als: Das tat ich für dich, was tust du für mich? Geht nur die ganze Geschichte hindurch - in welcher Religion findet ihr jene Helden in der Liebe, die ihr zeitliches Leben nicht zu teuer achten, um auszugehen an die Enden der Erde, um denen, die ohne Gott sind und ohne Hoffnung in der Welt, das ewige Leben zu bringen? Ach, kein anderes Wort ist stark genug gewesen, um solche Bruderliebe in dem Menschenherzen zu erwecken. Aber auch ihr, meine Freunde, euer Zusammenströmen an dieser Stätte ist eitel und vergeblich, so lange nicht das Wort an euer Herz gedrungen ist: „Das tat ich für dich, was tust du für mich?“ Ach der Not und Klage hat Jeder so viel an seinem eignen Herd, dass hinüber zu blicken in die Heidenlande, wo die Menschen geboren werden ohne einen Helfer in der Not, und sterben ohne ihn, keinem andern möglich ist, als dessen Herz von jener Liebe am Kreuz erwärmt worden, die in ihren Armen eine ganze untergehende Welt umfasste. So lasst denn zu dieser Liebe uns erwecken durch Erwägung des Ausspruchs des Herrn Joh. 13,34. „Und ich sage euch nun: Ein neu Gebot gebe ich euch, dass ihr euch unter einander liebt, wie ich euch geliebt habe, auf dass auch ihr einander lieb habt.

Die Liebe Christi zu uns, das Vorbild unserer Liebe zu den Brüdern, das sei das Thema dieser Predigt.

Wie hat der Herr uns geliebt? Wie sollen wir nach seinem Vorbild die Brüder lieben? Das sind also die zwei großen Fragen, die uns heute beschäftigen werden.

Wie hat der Herr uns geliebt?

Indem er mitgelitten hat unsre Not. Tun für den Unglücklichen, mein Bruder, kannst du nimmer, so du nicht zuerst mit ihm gelitten hast. An seine Stelle musst du dich gestellt haben, seine Tränen geteilt, seinen Jammer mitempfunden, wo du ihm helfen willst. Seine äußerliche Not magst du freilich lindern, auch ohne dass dein Herz mitleidet mit ihm, wiewohl - schneidet nicht die mit kaltem, unerweichtem Herzen hingeworfene Gabe, während sie von der einen Seite die Not des Armen mildert, auf der andern desto tiefere Furchen in sein Gemüt? Und wenn es nun gilt, die größte aller Nöte zu heilen, das von der Sünde krankgeschlagene Herz, wie willst du es, wenn nicht das deinige zuerst mitgeblutet hat? Darum als in der Fülle der Zeit der ewige Gott selbst ein Arzt werden wollte der tief erkrankten Menschheit, hat er seinen Himmelsthron verlassen, und ist herabgestiegen in ihre Mitte, und hat ihre Not und ihre Sünde getragen, und mit ihr gelitten, denn wie die Schrift sagt: „Weil er der Menschen Sünden sich annimmt, so musste er auch in allen Dingen seinen Brüdern gleich werden, auf dass er barmherzig erfunden würde, und uns ein treuer Hoherpriester vor Gott.“ Er stieg hernieder - und wo auf der weiten Erde wirst du deine Wohnung aufschlagen, wenn du unter uns kommst, um unsers Gleichen zu werden? Da ragen in Athen die Säulen der Schulen der Weisheit zum Himmel, da in Rom die kaiserlichen Paläste - aber so hoch der Himmel über der Erde ist, sind Gottes Gedanken über der Menschen Gedanken. Unter den Völkern der Erde wählt er das verachtetste sich aus, unter dem verachtetsten Volke die verachtetste seiner Provinzen, Galiläa, und in Galiläa den geringsten seiner Orte, Nazareth, und in Nazareth der geringsten Familien eine.

Des ew'gen Vaters einig Kind
Jetzt man in der Krippen find't.
Den aller Weltkreis nicht beschloss,
Der liegt in Mariens Schoß.
Er ist geworden ein Kindlein klein,
Der alle Dinge erhält allein!
Hallelujah!

In der Armut, in der er geboren wurde, wallt er über die Erde; „die Vögel unter dem Himmel haben ihre Nester, und die Füchse ihre Gruben, aber des Menschen Sohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlege!“ Der, welcher fünftausende speist, nimmt Almosen von den ihn begleitenden Frauen. „Er ist versucht worden, wie die Schrift sagt, gleich wie wir in allen Stücken, nur ohne Sünde.“ Die Schwächen und die Schmerzen, die unser irdisches Leben drücken - er hat sie auch kennen lernen; er hat die Last des Tages getragen unter dem Getümmel des Volks, und hat seine Nachtruhe geopfert, wenn die Nikodemi ihn hören wollten. Er hat nach angstvoll durchwachten Nächten sich hinführen lassen unter seine Peiniger, die spitze Dornenkrone ist auf sein Haupt gedrückt worden, und sein göttliches Haupt mit dem Rohr geschlagen! unter der Geißel ist sein Leib mit Blut bedeckt worden, und an's Kreuz haben sie ihn hinaufgezogen, und haben seine Hände und Füße durchbohrt, und er hat geschmachtet und geklagt: „mich dürstet,“ bis dass er rief: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Christen! so hat er mitgelitten die Not eures Lebens, und ist ein barmherziger und treuer Hoherpriester gewesen.

Aber Menschen, nicht bloß eure leibliche Not ist es, die er mit euch gelitten hat, die Not eurer Seelen, eurer unsterblichen Geister hat er mitgefühlt und mitgelitten. Wer hat, wie er, durchschaut den Willen seines himmlischen Vaters, wessen Seele ist aufgegangen in der Liebe zu ihm, wie die seinige! O! und wenn nun diese heilige reine Jesusseele, wenn sie hineingestellt ist in eine Welt voll Abfall und Empörung gegen Gott, welches Schwert musste diese Seele durchdringen! Jene einsamen Stunden, welche er, wie wir so häufig lesen, in der Stille mit seinem Vater zugebracht hat, wie mögen sie erfüllt gewesen sein von dem Schmerzgefühl für eine untergehende Welt! Wohl mag schon sein erhabenes Antlitz die Spur der heiligen Wehmut getragen haben, denn zweimal lesen wir, wie der Täufer, das Auge auf ihn geheftet, während er vorübergeht, in den Ausruf ausbricht: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt!“ Kaum kann man anders glauben, als dass schon in der äußern Erscheinung Jesu ein gewisser Ausdruck ernster Wehmut war, welcher gerade jene Worte dem Täufer entlockte. Und nun seht es wandeln, dieses heilige, von Schmerz über die Sünde erfüllte Gotteslamm in dem verkehrten Geschlechte, dort gegenüber dem rohen bitteren Hochmut und Hohn heuchlerischer Schriftgelehrten, hier im Jüngerkreis gegenüber den stumpfen, trägen, irdischen Herzen, nirgends die Seele, die ihn versteht, welche die Größe seines Schmerzes ermessen mag. - Und wenn wir ihn nun in seine letzten Stunden begleiten: Seht ihn zuerst noch im Kreise seiner Lieben, wie das Liebesherz sich ergießt, wie die Liebe fußwaschend vor einem Judas auf den Knien liegt, und diese Liebe, die gekommen ist, selig zu machen, was verloren war, diese Liebe, auf welche Israel zwanzig Jahrhunderte gewartet hatte, jetzt wo sie gekommen ist, wo sie sammeln will die zerstreute Herde, siehe, da wird die Dornenkrone und das Kreuz ihr entgegengebracht. Das geschieht ihm unter den Feinden, aber was geschieht ihm unter seinen Freunden? Im heißen Seelenkampf fleht er seine Geliebtesten an: „Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?!“ und sie schlafen ein, ein Johannes schläft ein in der Stunde, wo sein Heiland blutigen Schweiß schwitzt; der Jünger, um dessen Herz er noch vor einigen Stunden kniend und fußwaschend geworben hatte, verrät ihn; der Jünger, der sich verschworen hatte: „Und wenn sie sich alle an dir ärgerten, so will ich doch mich nimmermehr ärgern,“ verschwört sich abermal und spricht: „Ich kenne des Menschen nicht“, und als sie den letzten Todesgang ihn hinführen, siehe, da fliehen sie alle, auch nicht einer bleibt, auch Johannes nicht. O heiliges Lamm Gottes, unschuldig geschlachtet, wie hast du die Sünde der Welt getragen und ihre Not und ihr Leid mit ihr geteilt, damit sie mit dir deine Seligkeit und deine Herrlichkeit teilen möge: Brüder, seht, welch' ein Mensch ist das! Ruft es hinaus in die ganze Welt: Seht, welch' ein Mensch ist das!

Nur der, welcher so mitgelitten hat all' unsre Not, kann sie auch heilen, und die Heilung unserer Not, das ist die andere Offenbarung seiner Liebe zu uns. Er ist erschienen als ein Heiland aus aller Not, auch aus der des Leibes, wie ja das Wort der Offenbarung des Johannes in der Ferne die Zeit verkündigt, wo alle Tränen getrocknet sein werden. Doch kommt diese Zeit nicht eher, als bis jener Quell am Ende der Zeiten durch Christi Wirken wieder ganz wird verschlossen sein, aus welchem ursprünglich alle Not hervorging, der Quell der Sünde; bis dahin muss in der Welt bleiben allerlei Not und Gefahr, als ein schmelzendes Feuer für die noch unwiedergeborne Natur, bis dass sie geheiligt werde. Dass aber der Stand der Tränen und der Not, in dem wir gegenwärtig über die Erde wandeln, nicht der ursprünglich von Gott uns bestimmte ist, und dass er aufhören soll, sobald die Sünde überwunden ist in der Menschheit, das zeigen uns die Tränen, welche der Erlöser auch über unsere irdische Not geweint, das zeigt uns die Hilfe, die er auch unserer irdischen Not gebracht hat. -

Denkt euch den Gottes- und Menschensohn, dem das Meer und alle Kräfte der Natur gehorchen, wohin wird er sich wenden mit der Allmacht seiner Kräfte? etwa ein herrliches Reich aufrichten, allen Glanz und alle Fülle der Erde um sich versammeln? Stelle dir vor, dass du selbst auf ein Mal begabt würdest mit jener Kraft, die dem Himmel in der Höhe gebietet und dem Abgrund in der Tiefe, würdest du sie auch anwenden, mein Bruder, wozu sie dein Heiland angewendet hat? Würde das auch deinem Herzen am ersten nahe liegen, umherzugehen unter der Not und dem Elend der Menschenkinder, um die göttliche Wundermacht in der Heilung ihrer Gebrechen zu offenbaren? Würde das auch deines Lebens Freude sein, umherzuwandeln unter den Blinden, unter den Tauben, unter den Gichtbrüchigen, um ihr Retter und ihr Helfer zu werden? O wo ist ein Herz, wie Jesu Herz? Sein Werk war Liebe, Liebe floss vom Saume seines Kleides. Christen! seht da, welch' ein Mensch! Doch was hilft es, dass die Blinden das Auge des Leibes wieder bekommen, wenn das Seelenauge blind bleibt, dass ihr leibliches Ohr hören lernt die Rede der Menschen, wenn das geistige Ohr taub bleibt gegen die Rede Gottes, dass die leiblich Toten auferstehen aus dem Staub der Gräber, wenn die geistigen Schläfer tot bleiben in dem Tod der Sünde! Heißt es von ihm, dass ihn „jammerte, als das Volk kein Brot hatte,“ o wie jammert ihn noch unvergleichlich mehr, wenn er sieht, dass die Welt das Brot des Lebens nicht hat! Wie ist er umhergegangen, zu suchen, was verloren war! Blickt hin, in welcher Umgebung findet ihr den Heiligen und Reinen Gottes? Wieder und immer wieder lest ihr: „unter den Zöllnern und unter den Sündern.“ Unter den Ausgestoßenen, unter den Verworfenen des Volkes, gerade da hat er Wohnung gemacht. Seht da, welch' ein Mensch! O wie hat er geworben um die einzelnen Seelen, dass er keinen verliere von denen, die ihm der Vater geschenkt hat. „Welcher Mensch ist unter euch, spricht er, der hundert Schafe hat, und so er davon eins verliert, der nicht lasse die neun und neunzig in der Wüste, und hingehe nach dem Verlorenen“ - hin durch Dornen und Disteln, durch die Anhöhen und Täler, bis dass er es gefunden hat, und wenn er es gefunden hat, so legt er es auf seine Achseln, und bringt es heim mit Freuden. Ja, treuer Heiland, das ist dein Bild, da hast du dich selbst uns abgemalt! Ja. wir wissen es, so hast du uns selbst gesucht, bis dass du uns heimbrachtest zu der Herde deines Vaters. Seht ihn an im Gespräche mit der Samariterin, wer von uns hätte ausgeharrt bei dieser sehr armen, sehr umdüsterten Seele? Er bietet ihr das lebendige Wasser, und sie denkt an das Wasser des Brunnens, das vor ihr ist. Aber, wie er ihr nachgeht, wie er in die Tiefe ihrer Seele dringt! Blickt hin, wie er einem Petrus nachgegangen ist, bis dass das schwankende Rohr in einen Fels umgewandelt war, und aus seiner bewegten Seele drang: „Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe,“ Blickt hin, wie er geworben hat in Liebe um die Seele seines Verräters! So war er, wie er unter uns wandelte. Seht da, welch' ein Mensch! Gerade so ist er aber auch, seitdem er verklärt ist beim Vater, und sein Versprechen erfüllt: „Wenn ich erhöht sein werde, werde ich sie alle zu mir ziehen.“ Ihr, die ihr jetzt wandelt auf seiner Weide und die ihr in der Gemeinschaft mit eurem Herrn täglich nehmt Gnade um Gnade, legt ab das Zeugnis vor der ganzen Welt, wie er eurer Seele nachgegangen ist, wie er euch geweckt und gezogen hat durch seinen heiligen Geist, bis dass ihr endlich zu seinen Füßen lagt, und rufen konntet:

Die treuste Liebe sieget,
Am Ende fühlt man sie.
Weint bitterlich und schmieget
Sich kindlich an sein Knie!

Mensch! das tat er für dich, was tust du für ihn?

Hat er also uns geliebt, meine Brüder! wie sollen wir nach seinem Vorbild die Brüder lieben?

Das Erste, meine Brüder! ist auch für uns, ehe wir etwas tun für die Not unserer Brüder, dass wir müssen mit leiden mit ihnen, und ehe wir mit leiden, dass wir müssen erkennen ihre Nöte und ihr Elend. Die leibliche Not nun, die erkennt man wohl leicht, denn wer ist, der sie nicht selber empfindet! Aber die Seelennot der Menschen! Wenn du nun selber von Seelennot noch nichts gewusst hast - Seelennot, allerdings für Viele ein ganz fremdes Wort! - so muss es denn erst dahin mit dir gekommen sein, dass du das Wörtlein Sünde verstehen lernst. Es muss in deinem eigenen Leben die Stunde gekommen sein, wo im Licht der göttlichen Wahrheit die eigene Gerechtigkeit dir als ein beflecktes Kleid erschienen ist, wo du mit Erbeben erkannt hast: wenn wir nach unseren Werken gerichtet werden, so ist kein Fleisch vor Gott gerecht. Du musst deine Fesseln fühlen, du musst die Tränen kennen, welche aus der Sehnsucht nach geistlicher Freiheit quellen - es muss zu einem Untergang mit dir gekommen sein. Dann aber, mein Bruder, wenn du erst selbst zur Klasse derer gehörst, die der Heiland selig preist, zu den geistlich Armen - o wie wirst du dann nicht bloß mit leiden können, sondern auch mit leiden müssen die Seelennot der sündigen Menschheit. Siehe, in zwei Klassen teilt sich neben dir die Masse deiner in der Finsternis verlorenen Brüder. Die Einen gehen dahin, gefesselt von der Sünde an Händen und an Füßen - unter ihnen wankt der Boden, und über ihnen droht das göttliche Gericht, aber sie jauchzen und frohlocken; sie sind vergnügt und guter Dinge, denn die Finsternis hat ihre Augen verblendet, dass die Nacht um sie her ihnen scheint, als wäre es Tag, und sie wissen nicht, wohin sie gehen. Auch die Anderen tragen ihre Fesseln, auch unter ihnen wankt der Boden, und über ihnen schwärzt sich der Himmel - aber sie weinen, und ihre Seele schreit nach Freiheit: - in die sicheren Knechte der Sünde und in die aufgeschreckten teilt sich die Menschheit. Seit Christus dich selbst aufgeweckt hat aus dem Schlaf, leidest du mit beiden mit. Du siehst die breite Straße, von welcher der Heiland sagt, dass sie in's Verderben führt. Große helle Scharen ziehen auf ihr hin, und in das Ohr deines Herzens tönt zerreißend der jauchzende Schall der Freudenlieder der Einen, wie der zerreißende Klang der Klagelieder der Anderen - auch auf dein Herz, wenn dir erst der liebende Blick in die Not der Menschheit aufgegangen ist, legt sich, wie auf deines Heilandes Herz, eine Welt der Wehmut; deine Seele wird unaussprechlich betrübt, und du möchtest helfen.

Wem unter euch geht so die Not seiner Brüder zu Herzen? Ich weiß es wohl, so lange ihr eure eigene Not nicht fühlt, könnet ihr die Not eurer Brüder nicht mitfühlen, und wer ist's, der die Wunden seines eigenen Herzens sich gestehen will! O wie gehen die meisten Menschen an dem Klaggeschrei der leidenden Menschheit vorüber und halten sich die Ohren zu, dass sie es nur nicht vernehmen. Die Geschichte erzählt von einem asiatischen Fürsten, der, um das grenzenlose Elend seiner jammernden Untertanen nicht mehr zu sehen, für immer in seinem Palast sich verschloss, das Tageslicht für sich auslöschte, und beim Lampenschein, das Elend, was draußen war, vergessend, lustig blieb bis an sein Ende. Der Mann bist du, der du bis zu dieser Stunde die Not der leidenden Menschheit noch nicht als die deinige empfunden! Kannst du denn die Tränen deines Heilandes so ganz vergessen, die er um die ganze Menschheit und zugleich um dich geweint?

Doch nicht bloß das Vorbild, wie wir mit der Not unserer Brüder leiden sollen, sondern auch wie wir helfen sollen, ist unser Herr uns geworden. „Wie er ist, sagt Johannes, so sind auch wir in der Welt.“ O ihr, die ihr bis jetzt noch nicht gewusst habt, was eigentlich eure Bestimmung ist in eurem Leben, wollt ihr sie vernehmen, eine herrliche, eine über alle Maßen selige Bestimmung! „Wie er gewesen ist in der Welt, so sollt ihr auch sein;“ wie er umhergegangen ist unter den Kranken und unter den Armen der Erde, so, mein Bruder, sollst du auch umhergehen. Freilich magst du zum Blinden nicht sagen: sieh'! und zum Lahmen nicht sagen: stehe auf und wandle! Aber viel hat einem Jeden von euch die Güte Gottes Gaben gegeben, um rettende Engel zu werden für die leibliche Not eurer Brüder. Je mehr unsere Liebe wächst, desto mehr erkennen wir unser Vermögen zu helfen. Wenn es am Anfang dir scheinen möchte, dass dir keine Gabe verliehen sei für den leidenden Bruder, o glaube mir, das Auge der Liebe fehlt dir nur; mit deiner Liebe wächst das Vermögen. Und vermöchtest du am Ende nichts zu geben, als das Wort des Rates und des Trostes und den schweigenden Händedruck des Mitgefühls, o wenn du meinen kannst, dass das für den leidenden Bruder nichts sei, so hast du selbst noch nicht gelitten. Gesetzt aber auch, es wäre dir gar nichts verliehen, um die Tränen deines Bruders trocknen zu können, die über die Leiden dieser Erde fließen, nun wohlan, das ist in die Hände eines Jeglichen von euch gelegt, dass ihr seiner Seelennot helfen könnt. „Petrus, sagt der Herr zu seinem schwankenden Jünger, wenn du dermaleinst bekehrt bist, so stärke deine Brüder.“ „Simon Johannes, hast du mich lieb, so weide meine Lämmer!“ O ihr alle, die ihr euch bewusst worden seid, was Christus der Herr an euch für Langmut und Geduld bewährte, ehe aus dem glaubensarmen schwachen Simon ein Kephas, ein Felsenmann geworden, an euch sind diese Worte gerichtet. Ist der gute Hirt euch nachgegangen in die Gebirge und durch die Wüste, bis er euch heimgeholt, wer wollte nicht also seinem verirrten Bruder nachgehen? „Das tat ich für dich, was tust du für mich!“ Du sagst: ach ich bin so schwach, aber lieber Bruder! weißt du wenigstens das, wie du geliebt worden bist? Wenn du das weißt, o so brauchst du nichts weiter zu tun, als aller Welt die Liebe zu erzählen, mit welcher der gute Hirt dich geliebt hat. Es ist etwas Wunderbares in dem evangelischen Zeugnis, es demonstriert sich in kein menschliches Herz hinein; kühn und gewaltig stellt es sich vor die Menschenbrust hin; beuge dich vor mir, ich beuge mich nicht vor dir! Keine Redner, keine Weltweisen braucht Christus, nur allein Zeugen, Zeugen mit der Stimme der Kraft und Liebe von dem, was Christus war, und was er noch ist jedem sehnsüchtigen Herzen, und wer aus der Wahrheit ist, der wird der Wahrheit Stimme hören. Wollt ihr den ersten Anfang des Missionswerkes sehen?: er steht geschrieben bei Johannes 1,41-45. Andreas hat kaum den Herrn gefunden, da eilt er hin, wem er's verkündigen könne. Und findet am ersten seinen Bruder Simon und ruft: „ Wir haben den Messias gefunden!“ Und Philippus findet zuerst den Natanael und ruft: „Wir haben den gefunden, von welchem Moses und die Propheten geschrieben haben.“ Seht, so bildet sich die erste Gemeinde! Zeugengeist, nichts anderes ist nötig gewesen. „Wir können es nicht lassen,“ das ist die Apologie der Apostel für ihr Amt. O ihr Geliebten Gottes! Wenn es nur dahin mit einem Menschen gekommen ist, dass er nicht lassen kann, von der Liebe zu zeugen, die ihn zuerst geliebt, da vergisst der Ohnmächtige seine Ohnmacht, und der Schwache spricht: „Ich bin stark!“ -

Allerdings muss dieses Zeugnis nun anfangen in dem Kreis, der einem Jeglichen von uns zunächst liegt - erst muss die Familie eine Kirche Christi werden, dann deine Vaterstadt, dann dein Vaterland. Es ist göttliche Ordnung, welche uns mit dem einen Menschen näher in Verbindung gesetzt hat, als mit dem anderen. Aber, mein Bruder, so unleugbar wie es ist, dass das Mitleiden mit der Seelennot unserer Brüder bei denen beginnt, die uns nach göttlicher Ordnung am nächsten stehen, eben so unleugbar ist es, dass diese Liebe zugleich auch das Entfernteste umfasst. Der Heiland, der in seinen Lebenszeiten aus den Grenzen Palästinas nicht wich, verkündigt: „Ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall. Und dieselben muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und wird Eine Herde und Ein Hirt werden,“ und wie er scheidet von der Erde, sagt er zu seinen Aposteln: „Geht hin und lehrt alle Völker!“ Oft genug vernehmt ihr freilich die Stimmen derjenigen, welche sagen: wie viel gibt es unter uns noch zu tun, wie vielen muss unter uns noch gepredigt werden. Wohl, mein Bruder! hätten aber die Apostel geharrt, bis dass keiner mehr in Israel gewesen wäre, der nicht seine Knie im Namen Jesu gebeugt hätte, so wäret ihr noch bis zu dieser Stunde ohne Christus und ohne Gott in der Welt. Tut es etwa die Predigt allein, dass die Toten auferstehen? „Naht euch zu Gott, spricht das Wort der Schrift, so naht er sich zu euch!“ Bringt ihr den Hunger und den Durst nicht mit, so mag von dieser Stätte herab das Wort Gottes von Tag zu Tag wie strömender Regen fließen, der Boden des Herzens bleibt hart, und die Steine bleiben, was sie sind - Steine. Und wie, meine Freunde! Sollten hier und hier allein in unserm Vaterland Hunderte von Predigern des Evangeliums den satten Herzen das Brot darbieten, während unter den fernen Heiden Tausende von Hungrigen rufen: Brot, Brot! - Nein, lasst es uns vielmehr aufrichten, das Wort der Versöhnung, bis an die Enden der Erden, damit aus jeglichem Geschlecht, aus jeglichem Stamm, die aus der Wahrheit sind, die Wahrheit finden mögen, und die da hungrig sind, das Brot empfangen.

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