Quandt, Emil - Die Ruhestätten des Menschensohnes - 6. Das Zöllnerhaus in Jericho.
Ev. Lukas 19,5.
Jesus sprach: Zachäe, steig' eilend hernieder, denn ich muss heute zu deinem Haus einkehren.
Nach Jericho führt der Evangelist uns mit derjenigen Erzählung, deren schlagendes Herz der oben genannte Vers ist. Jericho war im Altertum berühmt durch seine Palmenhaine, durch seine Rosengärten und vor Allem durch seine Balsambüsche. Dieser Ruhm ist längst dahin. Aber balsamischer als der köstlichste Balsam duftet nun schon achtzehn Jahrhunderte hindurch das Zöllnerhaus von Jericho; möge der balsamische Duft, den dieses Haus aushaucht, auch uns ein Geruch des Lebens zum Leben sein, wenn wir jetzt im Geist demselben nahe treten.
Die Stadt Jericho war unter Israel durch ein großes Wunder vergangener Zeiten ausgezeichnet. Anderthalb tausend Jahre vor der Geburt des Menschensohnes waren die Mauern Jerichos ohne Schwertstreich vor dem Hall der Posaunen Josuas zusammengestürzt; nicht nur das Alte Testament berichtet davon, sondern auch das neue, in welchem Hebr. 11,30 geschrieben steht: Durch den Glauben fielen die Mauern zu Jericho, da sie sieben Tage umhergegangen waren. Dieser Fall der Mauern Jerichos in grauer Vorzeit, fürwahr das war etwas Großes. Aber wahrlich nichts Kleineres wird uns Luk. 19 erzählt, nämlich dass auf ein Wort des himmlischen Josua, des Herrn Jesu Christi, die Bollwerke des Unglaubens einsanken, die das Zöllnerhaus in Jericho bisher von dem Reich Gottes getrennt hatten. Und vor diesem Wort des Menschensohnes sind seitdem durch die Jahrhunderte hindurch schon oft zusammengebrochen die kleinen und die großen Scheidewände, welche die Häuser sündiger Menschen trennten von dem Gott ihres Heils und von dem Heile ihres Gottes. Dasselbe Wort wirkt noch heute dasselbe.
Als in den Tagen Josuas der Herr die Stadt Jericho in Israels Hände gegeben hatte, da sprach Josua auf ihren Trümmern einen Fluch aus über den, der die Stadt jemals wieder bauen würde. „Verflucht sei der Mann, der diese Stadt wieder aufrichtet! Wenn er ihren Grund legt, das koste ihm seinen ersten Sohn; und wenn er ihre Tore setzt, das koste ihm seinen jüngsten Sohn!“ Als nach Jahrhunderten Hiel von Bethel Jericho wieder aufbaute, siehe da verunglückte beim Anfang des Baues sein Erstgeborner Abiram, und als er auch dann nicht von seinem verwegenen Unternehmen abließ, starb vor Vollendung desselben sein jüngstes Kind Segub. Der Fluch hat fortgewirkt; die Stadt ist jetzt längst vom Erdboden verschwunden; auf ihren Trümmern findet der Reisende heutzutage ein kleines, elendes, schmutziges, arabisches Dorf mit einer Handvoll Leute. Aber des Menschen Sohn ist gekommen, allen Fluch in Segen zu verwandeln. Sein Gang des Segens hat ihn auch durch Jericho geführt. Mit seinem Segen ist er in das Zöllnerhaus des Zachäus eingekehrt, und er hat dies Haus nicht nur für sich gesegnet, sondern es auch zu einer reichen Quelle des Segens gemacht, aus der schon viele Tausende, so Viele bußfertig im Geist eingetreten sind, ihre dürstende Seele gelabt und erquickt haben zum ewigen Leben. Möge der Segen Jesu Christi aus dem Zöllnerhaus von Jericho. auch meine Seele umfangen, wenn sie jetzt über seine Schwelle tritt! Das Zöllnerhaus von Jericho soll von meinem Geist jetzt betrachtet werden als das, was es war, ehe des Menschen Sohn eintrat, ein Haus ohne Heil, und als das, was es wurde, da Jesus eintrat, ein Haus des Heils.
Ein Haus ohne Heil ist das Zöllnerhaus zu Jericho, ehe die Leutseligkeit und Freundlichkeit des Menschensohns es erfüllt, ein Schattenbild aller Häuser, die mitten im Christentum doch kein Christentum haben, weder ein schlechtes noch ein rechtes. Ehe der Heiland durch die Palmenstadt kam, kannte man ihn nicht in dem Haus des Zöllners. Zachäus bestieg eben deswegen den Maulbeerbaum, um Jesum zu sehen, wer er wäre; ein Zeichen, dass des Menschen Sohn ihm bis dahin fremd war. Das Zöllnerhaus zu Jericho war vor der Einkehr Christi ein Haus ohne Christum; und es gilt eben zunächst dies zu betrachten, was es war, um dann mit Frucht erwägen zu können, was es wurde.
Das Haus des Zöllners Zachäus war ein israelitisches Haus. Das beweist schon der Name des Hausherrn, Zachäus d. i. Sakchai. Esra und Nehemia führen unter den Familien Israels, die aus der Gefangenschaft in die Heimat zurückkehrten, die Kinder Sakchai ausdrücklich mit an. Der Herr aber selbst erkennt es im Besonderen an, dass Zachäus auch Abrahams Sohn sei, was doch nicht bloß einen geistlichen, sondern auch den buchstäblichen Sinn hat: Auch Zachäus ist ein Jude, auch er ein Abkömmling des großen Erzvaters, mit dem der große Gott seinen heiligen Bund gemacht hat. Dennoch ehe des Menschen Sohn dieses Hauses Gast wurde, war dieses Haus trotz seiner Zugehörigkeit zu Israel ein Haus ohne Heil und darum ein verlorenes Haus. Denn erst als Jesus in dies Haus kam, hieß es: Heute, nicht eher, ist diesem Haus Heil widerfahren. Vor diesem „Heute“ der Einkehr des Menschensohnes war das Haus also ohne Heil. Es macht also die äußere Zugehörigkeit zum Volk Gottes an und für sich noch nicht selig. Man kann von christlichen Eltern abstammen; man kann einen Vater haben, ehrwürdig und voll Glaubens wie Abraham; man kann eine Mutter haben, gottesfürchtig wie Hanna, und man kann doch verloren gehen. Ach, wie viele Kinder frommer Eltern sind die Wege zur Verdammnis gegangen! Führst du aus keinem anderen Grund den Christennamen, als weil du von christlichen Eltern geboren bist, dann hast du ein Haus ohne Heil, und über deiner Haustür steht die Inschrift: „Verloren“.
Das Zöllnerhaus war ein vornehmes Haus. Zachäus war nicht ein gemeiner Zöllner, wie es deren in jeder Stadt gab; es heißt vielmehr ausdrücklich: Er war ein Oberster der Zöllner. Das will sagen, er hatte die Zollerhebung eines ausgedehnteren Distriktes gepachtet. So muss er, wie das manche Juden waren, wo nicht römischer Ritter, so doch mindestens römischer Bürger gewesen sein, dem römischen Adelsstand angehört haben; denn anders wäre er zu dem einträglichen und vielbegehrten Amt eines General-Zollpächters nicht zugelassen worden. Aber die Vornehmheit des Hauses trug nicht ein Titelchen zu seinem Heil bei. Denn in äußerlichen Ehren steht die Gnade bei Gott nicht; und ob Ritter oder Bürger, ob hochgeboren oder wohlgeboren, das ist für die großen Interessen der unsterblichen Seele nicht von dem mindesten Belang. Alle Ehre den Würden und Titeln, die ihnen gebührt; auch ein Apostel Paulus berief sich darauf, dass er ein römischer Bürger war und appellierte deswegen als Angeklagter von dem Landpfleger an die kaiserliche Majestät in Rom; aber auf der großen Waage des Weltgerichts wiegen alle Würden und Titel dieser Welt nicht mit. Dieser Wahrheit gab einmal der Dekan Hofacker, der Vater des berühmten Württemberger Pfarrers Ludwig Hofacker, auf seinem Sterbebett einen sehr bezeichnenden Ausdruck. Es kam ein Schulmeister, der den gestrengen Herrn Dekan sehr verehrte, zu ihm, näherte sich sachte dem Bett und fragte: „Darf ich mich erkundigen, wie geht es Euer Hochwürden?“ Der Sterbende sah ihn mit liebenden Augen an und erwiderte: „Was Hochwürden? Nichts würden, so sagen Sie! Denn ich bin ein bloßer Sünder, tief herabgesetzt, und allein in der Gnade meines Heilandes frei und selig.“
Das Zöllnerhaus war ein reiches Haus. Lukas hebt diesen Umstand hervor und betont es: Zachäus war ein reicher Mann. Es hatte ihm ja auch wahrhaftig bei der Zollerhebung nicht an Mitteln fehlen können, viel von den Gütern dieser Erde zusammenzuraffen; und er hatte diese Mittel sehr sorglich benutzt. Er war ein Mann von Geld, der reichlich zu leben hatte; die Beträchtlichkeit seines Vermögens war stadtbekannt. Aber auch sein Vermögen gab ihm nicht das Heil. Geld und Gut machen wohl reich, aber nicht selig, nicht einmal glücklich; das Glück und das Heil ist nicht vollauf haben und gemächlich leben und in Seide sich kleiden und köstliche Leinwand. Was sind dieses Lebens Güter? Eine Hand voller Sand, Kummer der Gemüter. Nur die Schätze, die der Sohn Gottes vom Himmel gebracht hat, haben himmlischen und ewigen Wert; Schätze, die aus der Erde gegraben sind, füllen das Herz nicht, das auf den Himmel angelegt ist. Es gibt Häuser, in denen man Alles hat, was die Erde bietet, und Alles genießt, was zu genießen ist, und in denen trotz alledem die Leere und die Langeweile und der Unfriede und die Todesangst auf allen Stirnen geschrieben steht. Nicht bloß Judas Ischariot, sondern auch andere Leute haben am Ende, noch ehe sie selbst dahingefahren sind an ihren Ort, die Silberlinge mit Entsetzen von sich geworfen. Die reichen Häuser, die den Heiland nicht kennen, sind entsetzlich arme Häuser.
Das Zöllnerhaus zu Jericho war ein Haus der Ungerechtigkeit. Zum Zöllnerposten gaben sich so leicht überhaupt keine andern Menschen her, als die mit dem Geist israelitischer Frömmigkeit gebrochen hatten, emanzipierte Juden, die es mit den Geboten und Satzungen Gottes nicht genau nahmen. Da den Zachäus später nach der Einkehr des Menschensohnes die Reue und die Scham über seinen bisherigen Lebenswandel überfällt, wie ein gewappneter Mann, da spricht er es selber aus: „So ich Jemand betrogen habe, so will ich's ihm vierfältig wiedergeben.“ Alle Häuser, die den Heiland nicht haben und nicht kennen, sind Häuser der Ungerechtigkeit. Es soll ja nicht verkannt sein, was die äußerliche, auswendige Ehrbarkeit anbetrifft, da unterscheiden sich die Häuser, die den Heiland nicht haben, bedeutend unter einander; es gibt unter den unchristlichen Häusern tugendhafte und lasterhafte, ehrliche und unehrliche, sparsame und verschwenderische usw. Aber ungerecht sind sie alle, und mit den heiligen zehn Geboten nehmen sie's alle nicht genau. Oder ist denn das das einzige Gebot: Du sollst nicht stehlen!? Ist denn nicht auch das ein Gebot des allerhöchsten Gottes, ein Gebot ganz gleichen, wenn nicht höheren Ranges, das Gebot: Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst!? Will man einen Unterschied machen, was ist denn doch größere Sünde, den Nächsten um Geld und Gut betrügen oder dem großen Gott Jahr aus, Jahr ein den Feiertag stehlen? Es ist uns obenhin gesagt, dass das Gesetz geistlich ist, das ist, dass es nicht bloß heilige Worte und Werke fordert, sondern auch heilige Gesinnungen, Gedanken und Gefühle im Grunde des Herzens. Und was ist denn da nun die größere Sünde, die, den Bruder betrügen, oder die, den Bruder hassen, hassen bis in den Tod? Gott richtet nach des Herzens Grund, darum fordert auch sein Gesetz des Herzens Grund „und lässt ihm an Werken nicht genügen“, sondern straft vielmehr die Werke, ohne Herzens Grund getan, als Heuchelei und Lüge. Darum, alle unbekehrten Häuser, mögen sie noch so sehr von außen gleißen und glänzen, sind wie die übertünchten Gräber, welche auswendig hübsch scheinen, aber inwendig sind sie voller Totenbein und alles Unflats; unbekehrte Häuser sind ungerechte Häuser und stehen unter dem Zorn des Allmächtigen. Denn Gott ist nicht ein Gott, dem gottlos Wesen gefalle; wer böse ist, der bleibt nicht vor ihm. Es ist aber sehr schrecklich, aus einem Haus ohne Heil mit einem Herzen ohne Vergebung in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.
Das Zöllnerhaus zu Jericho war weiter noch ein Haus der Schmach. Die Wirksamkeit der Zöllner war bei den Juden mit der schneidendsten Verachtung belegt. Bittere, tägliche, unverhohlene Kränkungen begleiteten ihr Amt und Geschäft. Die Zöllner standen in der öffentlichen Meinung auf Einer Stufe mit Räubern und Ehebrechern. Eine jüdische Familie, aus der ein Glied Zöllner wurde, galt für entehrt; das Wort „Zöllner“ hatte einen überaus rauen Klang; „Zöllner“ und „Sünder“ waren in Aller Munde Worte von einer und derselben Bedeutung. Daher das Murren der Juden darüber, dass des Menschen Sohn bei einem solchen verrufenen, übelbeleumundeten Manne einkehrt; daher die Missgunst und das Scheelsehen von Priestern und Pharisäern über diesen in ihren Augen unanständigen Verkehr des Herrn Jesu mit einem Ausgestoßenen, Geächteten, Aufgegebenen! Es findet dieser Zug allerdings nicht Anwendung auf alle unbekehrten, Christuslosen Häuser. Im Gegenteil: manches unchristliche Haus erfreut sich eines trefflichen Renommees in der menschlichen Gesellschaft und ist umfangen und umklungen von dem Lob der Leute. Aber so ganz fehlen doch auch heutzutage die Häuser nicht, über die die Menge hin und her redet und bedenkliche Mienen macht; Häuser, um welche die schneidenden Winde der Kränkungen wehen, auf die sich der Platzregen des Spottes und der Schmach ergießt. Das nennen denn wohl die Leute für sich selber Kreuz und machen ein Märtyrergesicht und meinen, weil es hier unter ihnen so schlecht gehe, müsse es ihnen droben außerordentlich gut gehen. Allein dieser Schluss ist ein Trugschluss. Ebenso wenig wie Zachäus durch Würden und durch Schätze das Heil erwarb, ebenso wenig erwarb er es durch das Ertragen von Spott und Schmach. Gepriesen oder gescholten, gefeiert oder über die Achsel angesehen, mit Schmeicheleien oder mit Verwünschungen begrüßt, so wichtig diese Fragen für das Leben unter dieser Sonne sein mögen, der Seelen Seligkeit hat damit doch nichts zu tun und ist davon nicht abhängig wenn nicht in diesem einen einzigen Punkt, dass Schmach und Leid den Menschen eher zum Nachdenken über sich selber bringen, als Glück und Freude, dass der Mensch sich auf sich selbst besinnt und seines geistlichen Elends inne wird, und die Sehnsucht nach dem Heil in ihm Raum gewinnt.
Und so war es bei Zachäus! Das Zöllnerhaus zu Jericho war auch ein Haus der Sehnsucht. Der welthistorische Maulbeerbaum gibt dafür Zeugnis. Des Menschen Sohn in Begleitung nachziehender Volkshaufen zieht durch die Palmenstadt. Zachäus wohnt wohl am Tore, wenigstens nicht ferne davon, und an der Straße. Er hört das Geräusch der nahenden Volksmassen und lauscht. Derselbe Mann, von dem er schon so Vieles und so Großes gerüchtsweise gehört hat, sonderlich dass durch ihn betrübte Seelen getröstet würden, kommt angegangen; und sein Name ist die laute Losung jauchzender Scharen. Zachäus ist bis dahin nie in der Lage gewesen, den berühmten Mann von Angesicht zu Angesicht zu sehen; die Vorkehrungen, die er trifft, lassen mutmaßen, dass er früher schon einmal in einem ähnlichen Fall den Wunsch gehabt hat, den Heiland zu sehen, sein Ziel aber, etwa wegen seiner kleinen Statur, nicht erreicht habe. Diesmal aber muss und soll es ihm gelingen. Er besteigt schnell einen hart an dem Weg, auf dem Jesus kommen musste, stehenden Maulbeerbaum und setzt sich oben auf denselben, in der gespanntesten Erwartung zu sehen, „wer Er wäre“. Gewiss sein Herz klopft ihm lauter als sonst; sein Geist ist unruhig; wer weiß doch auch, wie lange schon bei ihm Inneres und Äußeres, Sehnsucht und Leben in Fehde mit einander liegen. Heil dem sehenden Mann; das Ende der Fehde, die Befriedigung seiner Sehnsucht ist nahe. In ähnlichem Fall aber sind auch bei uns die unchristlichen Häuser, dass irgendwelches gute Gerücht von Jesu Christo zu ihnen gedrungen ist; und wie damals der Herr durch Jericho zog, so zieht er noch heute durch die christlichen Lande. In jedem Gottesdienst wird er den Menschen vor die Augen gemalt, und jeder Platz in der Kirche ist ein Maulbeerbaum, von dem aus verlangende Gemüter Jesum sehen können, wer er ist. Aber wie viele ungläubige Häuser unserer Tage sind dann noch Häuser der Sehnsucht, dass die Hausgenossen sonntags, wenn Jesus Christ feierlich vorüberzieht, auf ihre Plätze eilten, zu sehen, wer er wäre? Das ist der größte Jammer in unserer Zeit, dass die Propheten des leidigen Materialismus den Kindern dieser Welt auch noch die Sehnsucht nach dem Heil wegpredigen. Wenn aber so ein armes Kind dieser Welt, das keinen Heiland hat, sich auch noch seine Sehnsucht nach dem Heiland nehmen lässt, was bleibt ihm dann, wenn ihm der Wahn des eitlen Lebens zerrinnt, als Missglauben, Verzweiflung und andere große Schande und Laster? Leichtsinnig stieg es den grünen Berg des Lebens hinauf, und verzweifelnd endet es auf der Eishöhe des Todes. Ach dass, wo der Glaube noch nicht im Haus herrscht, wenigstens die Sehnsucht wach bliebe: dann würde früher oder später auch die Stunde kommen, wo aus der Sehnsucht Glauben wird. Denn wo man sich nach Jesu sehnt, da kommt Jesus und verwandelt das Haus ohne Heil in ein Haus des Heils.
So geschah es mit dem Haus des Zachäus; und wie es geschah, wie dieses Haus ein Haus des Heils wurde durch die Einkehr Christi, das wollen wir zum Zweiten erwägen. Jesus zog dahin, umwogt von großer Menge. Vor der Stadt hatte er soeben zwei Blinde geheilt, die mit ihrem Freudengeschrei nun den jauchzenden Zuruf des Volkes vergrößern. Von allen Seiten umjauchzt wandert des Menschen Sohn durch die Stadt. Aber der unvergleichliche Menschensohn ist auch der unvergleichliche Menschenkenner. Er weiß wohl, was in dem Menschen und an dem Menschen ist; er weiß auch, wie bald dieser Hosiannaruf der wankelmütigen Menge in den entgegengesetzten Ruf: „Kreuzige, kreuzige ihn“ umschlagen wird. Ihn aber dürstet nach Seelen, die ihm nicht bloß zujauchzen, sondern auch vertrauen, die sich nicht bloß an seiner äußeren Erscheinung ergötzen, sondern sich durch seine innerlichen Gnaden erlösen lassen. Auf dem Maulbeerbaum nun schlägt ein solches Menschenherz, das selbst nicht weiß, wie ihm ist, das sich aber nach Erlösung sehnt, wie der Hirsch nach frischem Wasser. Der Herr aber, der Nathanael unter seinem Feigenbaum sah, sah auch Zachäus auf seinem Maulbeerbaum, sah nicht bloß ihn, sondern auch die Sehnsucht, von der sein Herz durchwogt wurde, und rief ihn daher als der gute Hirte, der seine Schafe immer bei Namen ruft, bei seinem Namen „Zachäe!“ So hat der Zöllner sich ja sicherlich sehr oft nennen hören, aber mit solchem Ausdruck, mit solcher Teilnahme, mit solcher Bekanntschaft hat er sich noch niemals nennen hören. Wie Glockenton aus dem Heiligtum, so klingt der Ruf Jesu Christi an sein Ohr und in sein Herz. Und doch das ist nur der Anfang. „Zachäe“, spricht des Menschen Sohn, und weiter „steig' eilend hernieder, ich muss heute zu deinem Haus einkehren!“ Nur sehen wollte der Zöllner den Heiland; und siehe, er selber wird gesehen von dem Heiland, wird von ihm bei Namen gerufen, wird von ihm mit Gnaden ohne Maß überschüttet. Ein ewig denkwürdiger Vorgang, der sich doch, Gott soll dafür gepriesen sein, tausendmal wiederholt hat und wiederholt. Noch heute, wenn man aus seinem Haus geht, um seiner Heilssehnsucht zu folgen und nach dem Spender alles Heils sich umzusehen, noch heute lässt der Herr diesen Schritt nicht ungesegnet; ohne Ihn ging man aus und mit Ihm kehrt man ins Haus zurück; leer verließ man das Haus, reich kommt man wieder; und das Haus, in das man heim kommt, wird nun ganz etwas anderes, als es zuvor war. Siehe, das Alte ist vergangen, es ist Alles neu geworden.
Das Zöllnerhaus in Jericho wird nun ein Haus des Glaubens. Ich muss bei dir einkehren, spricht der Herr. In dem Wörtlein muss liegt ein ganzer Himmel voll Heilsgedanken, in dem Wörtlein einkehren eine ganze Welt voll Erbarmen. Auslegung und Anwendung dieser gnädigen Zusage Jesu Christi: „Ich muss heute bei dir einkehren“ würde ein ganzes Buch für sich füllen; wir wollen uns nur daraus die Wahrheit ableiten und merken: Jesus Christus muss noch heute bei Allen einkehren, die sein begehren. Sonst gilt es für uns hier im Zusammenhang unserer Betrachtung näher ins Auge zu fassen, wie Zachäus den gnadenvollen Ausspruch Christi aufnimmt. O er durchschaut wahrlich nicht sofort, was an tiefer, ewiger Liebe, was an Unendlichkeiten göttlicher Erbarmung in diesem „muss“ und in diesem „einkehren“ liegt; das aber fühlt der Mann und das begreift er: Es soll etwas Großes mit ihm vorgehen, der Augenblick hat ewigen Wert; und wie er ihn benützt, davon hängt Alles für ihn ab. Darum berät er sich nicht erst mit Fleisch und Blut, fragt sich nicht erst langsam und bedächtig: Hab' ich denn auch recht verstanden? Darf ich armer Sünder denn wirklich den gefeierten Messias in mein Haus aufnehmen? Muss ich denn nicht wenigstens noch Vorbereitungen zu seinem Empfang treffen? Nein, alle solche und ähnliche Fragen unterdrückt er im Keim, steigt eilend hernieder von seinem Maulbeerbaum, öffnet rasch die Pforte seines Hauses vor dem erhabenen Gast und nimmt ihn auf mit Freuden. Und das war denn eben Glauben! Denn das ist doch das ganze Geheimnis und die ganze Herrlichkeit des Glaubens: mitten in seinen Sünden der Sehnsucht nach Christo Raum geben; wenn man die süße Stimme Christi hört, ihr einfach folgen; vergessen was dahinten ist und sich strecken nach dem, was die himmlische Berufung vorhält. Den Christus, der für Alle da ist, zu sich selber aufnehmen, und den, der der Heiland der Welt ist, begrüßen mit einem freudigen: „Mein Heiland! Mein Herr und mein Gott!“ das heißt glauben. Wenn Jesus vor der Tür steht und anklopft, ihm ohne Zögern und Verziehen öffnen und ihm zu Füßen fallen, so als man ist, mit aller Missetat, mit aller Untreue, mit aller Unwürdigkeit, nur um Gottes Willen sich nicht besser stellend, als man ist, das heißt glauben. Glauben heißt nicht, aus blindem Unverstand alles Mögliche für wahr halten - die Welt zeichnet bekanntlich gerne den Glauben und die Gläubigkeit in dieser widerwärtigen Karikatur - sondern glauben heißt, in Jesu Christo die lebendige Antwort finden auf die tiefsten Fragen des Lebens und darum für Zeit und Ewigkeit Ihm und seinem göttlichen Wort mehr vertrauen als dem eigenen armseligen Verstande, der mit Finsternis umhüllt ist. Glauben heißt nicht, reden wie ein Engel und leben wie ein Heide, sondern glauben heißt, dem Sohn Gottes, der uns bei Namen gerufen hat, Alles öffnen, Haus und Herz und Leben. Glauben heißt auch nicht, traurig sein und den Kopf hängen lassen wie ein geknicktes Schilf, glauben heißt vielmehr, den Heiland aufnehmen mit Freuden und sprechen: Weicht, ihr Trauergeister, denn mein Freudenmeister Jesus tritt herein. Mein werter Freund, der du diese Betrachtung liest, das sollst du wissen, dein Heiland ruft auch dich mit Namen; er hat auch dein Haus sich längst aufgezeichnet, dass er daselbst einkehren muss, und so oft du über die Schwelle deines Hauses zu treten im Begriff bist, tritt er im Geist neben dich und sieht dich an fragend, mahnend, bittend, ob du ihn wohl mit über die Schwelle nehmen, ob du ihn nicht endlich in dein Haus aufnehmen möchtest; o zögere doch nicht länger, halte doch deinen Herrn und Heiland, der sich so viele Mühe gibt dich zu locken, fest und sprich zu ihm: Komm herein, Du Gesegneter des Herrn, warum willst Du draußen stehen? Und hast du ihn dann bei dir, o dann schließe deine Kammer hinter dir zu und bete, jauchze oder weine: „Süßes Heil, lass Dich umfangen; lass mich Dir, meine Zier, unverrückt anhangen. Du bist meines Lebens Leben, nun kann ich mich durch Dich wohl zufrieden geben!“ Ist das Mystizismus? Ist das Pietismus? Nein, das ist Glaube, zwar nicht ein moderner Glaube, sondern solch' ein alter Glaube, wie ihn Zachäus hatte, aber es ist der Glaube, der da selig macht. Du großer Gott des Himmels, was muss ich tun, dass ich selig werde? Glaube an den Herrn Jesum Christ, so wirst du und dein Haus selig!
Das Zöllnerhaus in Jericho wird mit der Einkehr Christi weiter auch ein Haus der Liebe. Sobald Zachäus den Herrn mit Freuden aufgenommen hatte, trat er dar, so berichtet uns Lukas, und sprach zu ihm: Siehe, Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und so ich Jemand betrogen habe, das gebe ich vierfältig wieder. Sein Herz ist voll Glaubens, er erkennt in Jesu den Herrn, und sein Glaube ist voll Liebe, voll einer Liebe, die der Liebe der großen Sünderin im Haus Simonis ebenbürtig zur Seite steht. Wie jene Sünderin aus Magdala nur noch Tränen hatte, um Jesu Füße damit zu netzen, nur noch Wohlgerüche, um ihren Heiland damit zu salben, so will nun auch Zachäus, nachdem er Gnade gefunden hat, seinen Reichtum den Armen, das ist Christo, weihen. So lange der Zöllner in dem eitlen Wandel nach väterlicher Weise dahingegangen war, war seine Lebensachse das Silber und Gold der Erde gewesen; seitdem ihn Christi Wort und Ruf getroffen hat, sind ihm die goldenen Ketten, die er getragen hat, verhasst, und er zertrümmert sie und legt sie zu den Füßen seines erhabenen Erlösers. Was nimmer das Gesetz mit seinem harten: Du sollst! vermocht hatte, was nicht die Mahnungen des eigenen Gewissens zu Stande gebracht hatten, das bewirkt das im einfältigen Glauben ergriffene Erbarmen Jesu Christi mit einem einzigen Schlag: Zachäus wirft die Nichtigkeiten, denen bisher sein Tichten und Trachten gegolten hatte, weit von sich, weil er den köstlichen Schatz über alle Schätze, die Gnaden des Heilandes gefunden hatte. Zachäus erniedrigt sich selbst durch Anerkennung seiner Schuld und schämt sich nicht, vor den Menschen zu Schanden zu werden, nachdem ihn der Vater im Himmel in Jesu Christo zu Ehren angenommen hat. Mit den Armen und Betrogenen will er sein Vermögen teilen und mehr als teilen, nicht um sich das Heil zu verdienen - o nein, das Heil hatte er ja schon im Glauben ergriffen, wie es der Herr selber so stark bezeugt: „Heute ist diesem Haus Heil widerfahren“, sondern um dem Herrn, der ihn so reich begnadigt, zu dienen in dankbarer Liebe. Denn Glaube und Liebe müssen einmal zusammen sein, wie Mutter und Tochter. Wer reich geworden ist an dem inwendigen Menschen und hat den großen Schatz der Vergebung der Sünden, des Lebens und der Seligkeit gewonnen, der braucht die Kleinigkeiten dieser Welt nicht mehr so groß anzusehen, sondern verwendet den ungerechten Mammon, so gut er es nur immer kann, zur Ehre Gottes und zur Förderung des Nächsten. Wenn Häuser, die sich gläubig nennen und nennen lassen, nicht auch Häuser barmherziger Liebe sind, dann sind sie nicht, was sie heißen, dann entspricht ihr Wesen nicht ihrem Namen. Wer sich nur vom Unglauben bekehrt, nicht aber auch von der Geldliebe, der bleibt auf halbem Weg stehen und kommt nie vorwärts, nie aufwärts. Eine unvollständige Bekehrung ist so gut wie gar keine Bekehrung. Wer zwar Ja sagt, wenn der Herr spricht: „Soll ich dir meine Gnaden schenken?“ aber Nein sagt, wenn der Herr spricht: „Du sollst mir deinen Mammon schenken!“ der wohnt nicht in einem Zachäushaus, der wohnt nicht in einem Haus des Heils. Das Zöllnerhaus in Jericho war eben nicht bloß ein Haus des Glaubens, sondern auch ein Haus der Liebe, nämlich ein Haus desjenigen Glaubens, der durch die Liebe tätig ist.
Es wurde endlich auch ein Haus der Hoffnung. „Heute ist diesem Haus Heil widerfahren“, spricht der Herr, „sintemal er auch Abrahams Sohn ist; denn des Menschen Sohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ Das Heil, das denen widerfährt, die Jesum Christum aufnehmen, umfasst nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft; und die Seligkeit derer, die verloren waren, aber durch die Gnade Jesu Christi gesucht, gefunden und gerettet worden sind, ist nicht bloß ein lebendiges Haben, sondern auch ein lebendiges Hoffen. Nun wir sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesum Christum, durch welchen wir auch einen Zugang haben im Glauben zu dieser Gnade, darinnen wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben soll. Gelobt sei Gott und der Vater unsers Herrn Jesu Christi, der uns nach seiner Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten. So lange Zachäus ohne den Herrn gelebt hatte, war er gewesen, wie die Heiden, die keine Hoffnung haben; aber nun er dem Herrn sein Haus und Herz geöffnet hatte, ging es mit ihm von Heil zu Heil, von Seligkeit zu Seligkeit. Denn so lange Jesus bleibt der Herr, wirds alle Tage herrlicher; und wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe. Vielleicht haben sie später den Maulbeerbaum zersägt und auf seinen Brettern den vollendeten Zöllner zu Grabe getragen; siehe da hat Jesus Christus die Pforte seines himmlischen Hauses geöffnet und der Seele seines Erlösten geschenkt, worauf sie gehofft hat bei Leibes Leben, nämlich die Einkehr in den ewigen Frieden, und hat zu ihr gesprochen: Zachäe, nun komme du eilend zu mir; du sollst nun für alle Ewigkeit in meinem Haus einkehren! Wer sich bekehrt wie Zachäus, empfängt auch die Hoffnung des ewigen Lebens wie Zachäus, eine Hoffnung, die nicht zu Schanden werden lässt. Denn es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden; wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, dass wir ihm gleich sein werden. Denn was kein Ohr gehört hat und kein Auge gesehen hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, das hat Gott denen, die durch Christi Blut mit ihm versöhnt ihn lieben, bereitet, nämlich ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel. Denn wir haben hier kein bleibendes Haus, sondern das zukünftige suchen wir und finden es durch Jesum Christ. Häuser des Glaubens und der Liebe sind immer auch Häuser der Hoffnung auf ein unvergängliches, unbeflecktes und unverwelkliches Erbe, und der letzte Ausgang aus solchen Häusern ist der Gang zum Himmel.
Wir haben das Zöllnerhaus zu Jericho betrachtet, beides, was es war, ehe Jesus kam, und was es wurde, als Jesus kam. Wie wollen wir unsere Betrachtung praktisch verwerten? Ich meine also, dass wir mit Herz und Hand geloben: Ich und mein Haus wir wollen dem Herrn dienen!