Quandt, Emil - Die Ruhestätten des Menschensohnes - 4. Das Fischerhaus in Kapernaum.
Ev. Marci 2,1. Und über etliche Tage ging er wieder nach Kapernaum; und es ward ruchbar, dass er im Haus war.
Osten oder Westen, daheim ist's am besten, sagt ein niederdeutsches Sprichwort. Der wunderbare Mann, der in Nazareth und Jerusalem seine Vaterhäuser hatte und der im Hochzeitshaus zu Kana ein freundlicher Gast war, hat denn auch er in den Tagen seiner männlichen Jahre ein Daheim gehabt auf Erden, ein Wohnhaus, darin er schaltete und waltete als in seinem eigenen, wie andere Bürger dieser Erde? Ja, so antwortet uns das zweite Kapitel des Evangeliums Marci, auch des Menschen Sohn hat einen Ort gehabt auf Erden, da er wohnte und zu Haus war, so oft er von seinen Wanderungen der Liebe und des Erbarmens ermüdet heimkehrte. Kapernaum hat von allen Städten der Erde die einzigartige Ehre, seine Stadt, die Stadt des Menschensohnes, zu heißen. „Du Kapernaum“, so redet der Herr Matth. 11,23 die Stadt um dieser ihr geschenkten Ehre willen selber an „O, du Kapernaum, die du bist erhaben bis an den Himmel!“ In dies Kapernaum und zwar in das Wohnhaus, das der Herr dort hatte, führt uns Marcus, wenn er sagt: „Und über etliche Tage ging er wiederum nach Kapernaum, und es ward ruchbar, dass er im Hause war.“ Und wenn Marcus dann fortfährt: „Und alsobald versammelten sich Viele, also dass sie auch nicht Raum hatten draußen vor der Tür“, und wenn er uns dann weiter erzählt, dass sogar Manche, die nicht mehr durch die Tür in das Haus gelangen konnten, das platte Dach abdeckten und durch das Dach einstiegen, so nehmen wir wahr, dass das Haus, in welchem der Heiland wohnte, eine ganz erstaunliche Anziehungskraft ausübte. Diese Anziehungskraft des Wohnhauses des Menschensohnes in Kapernaum besteht noch heute. Denn wenn es uns doch immer eine große Freude ist, unsere guten Freunde in ihrer eigenen Häuslichkeit zu besuchen und zwischen ihren vier Wänden mit ihnen Gemeinschaft zu pflegen, wie vielmehr wird unsere Seele sich gezogen fühlen, dem allerbesten unserer guten Freunde, den wir schon kennen von unseren frühsten Kinderjahren her, unserm Heiland, unserm Mittler, unserm Erlöser einen Besuch zu machen in seinem eigenen Haus, dem Haus, das der Sohn Gottes würdigte zur Wohnstätte zu erwählen, als er unter dieser Sonne wandelte, ein Mensch wie andere Menschen, nur ohne Sünde!
Freilich das Haus tut es nicht und tut es uns auch nicht an, sondern der Mann in dem Haus. Denn nicht das Haus macht den Mann, sondern der Mann macht das Haus. Ein Bauersmann bleibt doch ein Bauersmann, wenn er auch in einem Herrenhaus wohnt; aber ein hölzernes Schiffsbauerhäuschen wird zur Residenz, wenn ein Fürst es bewohnt. Das Haus von Kapernaum war ein Haus wie ein andres Haus, aber weil Jesus Christus darin wohnte, war es ein Könighaus. Denn Jesus Christus ist ein König, der König der Menschheit, der König der Welt.
Von einer Wanderung war des Menschen Sohn so eben zu Haus gekommen. Wandern, predigend und heilend umherziehen, das war des Heilands Lebensweise während seiner messianischen Laufbahn; er ist umhergezogen und hat wohlgetan. So still und ruhig seine ersten dreißig Lebensjahre in der Verborgenheit von Nazareth dahin geflossen waren, so voll Unruhe waren die drei Jahre seines öffentlichen Lebens; kaum hatte er in Kana das erste große Zeichen seiner Herrlichkeit gegeben, als er auch anfing, das jüdische Land zu durchziehen von Dan bis Bersaba als der große göttliche Wanderer, der sich selbst der zeitlichen Ruhe beraubte, um den Andern, um den Sündern die ewige Ruhe zu vermitteln. Doch je und je war es auch ihm nach seiner Menschheit ein unabweisliches Bedürfnis, zu Haus zu sein, und er stillte dasselbe in Kapernaum. Das stille Vaterhaus in Nazareth war wohl nicht mehr vorhanden; Joseph, der liebe, fromme Zimmermann, war wohl nicht mehr im Land der Lebendigen, sondern schon vor der Hochzeit von Kana zu seinen Vätern versammelt worden; wir hören schon seit dem Tempelgang nichts mehr von ihm. Eins geht hier, das Andre dort in die ew'ge Heimat fort, ungefragt, ob die und der uns noch weiter nützlich wär'. Die Stadt Nazareth aber verachtete den großen Nazarener, der Prophet galt nichts in seinem Vaterland; so zog der Herr mit seiner Mutter Maria nach Kapernaum, einer Stadt, die an der großen Handelsstraße lag, auf der der Weltverkehr aus Vorderasien sich nach den Ländern des Mittelmeeres bewegte; einer Stadt, in der nicht nur viele Juden, sondern auch eine Menge handeltreibender Fremden wohnten, und in welcher auch eine römische Besatzung lag. Jüdische Schriftsteller brandmarken Kapernaum als eine Wohnung der Ketzer und der Freigeister, der Herr aber, der gekommen war, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, auch die Ketzer, auch die Freigeister, schämte sich nicht, gerade in dieser Stadt, wo das Heidentum stark in Israel hineinragte, seinen Aufenthalt zu nehmen, auf dass, wie es Ev. Matth. 4 heißt, erfüllt würde, was geschrieben stand: Das Volk, das im Finstern saß, hat ein großes Licht gesehen, und die da saßen am Ort und Schatten des Todes, denen ist ein Licht aufgegangen. Was für ein Haus des Menschen Sohn in Kapernaum bezog, steht nicht ganz fest. Viele halten dafür, dass es ein eignes Mietshaus war, in welchem der Herr mit der Maria und etwa einigen. Freunden allein wohnte. Aber es ist bei Weitem wahrscheinlicher, dass es das Fischerhaus Simons, das Haus des Jüngers Petrus war, in dem der Herr wohnte; denn an Petrus, als den Wirt des Hauses, wenden sich die Leute, die den Zinsgroschen einnehmen. In jedem Falle war das Haus des Menschensohnes in Kapernaum ein Haus, wie die andern Häuser dort, kein Marmorpalast, sondern eine Fischerhütte.
Doch was strömen denn die Leute so zu diesem Haus? Kaum wird es ruchbar, dass Jesus wieder zu Haus ist, als sich auch alsobald ganze Scharen in dem Haus versammeln; Viele finden nicht mehr Raum und müssen draußen stehen; Einige decken das Dach ab und verschaffen sich dadurch Eingang. Ei, nicht das Haus als solches, sondern der Mann im Haus zog die Leute an. Es gab in der weiten Welt nicht einen Mann wie diesen, der in diesem Haus wohnte. Und was war denn das Sonderliche an diesem eben von einer Reise heimgekehrten Bürger Kapernaums? Dass er so rastlos tätig war; dass er, obwohl sicherlich ermüdet von der Reise, doch alsobald weiter wirkte nach dem von ihm selbst ausgesprochenen großartigen Grundsatz: Ich muss wirken, so lange es Tag ist; es kommt die Nacht, da Niemand wirken kann!? O gewiss, das ist etwas Großes; das beschämt Tausende seiner Diener, die die Zeit nicht auskaufen und in den Tag hineinleben, als wenn er ewig währte und keine Nacht im Anzuge wäre; allein das erklärt uns den Zusammenlauf der Leute nicht. Er sagte ihnen das Wort und gab dem Gichtbrüchigen den Gebrauch seiner Glieder wieder; o ja, das ist bedeutungsvoll genug - es soll nachher für sich noch näher von uns betrachtet werden, doch Prediger und Wundertäter hat es auch sonst noch gegeben. Aber der Bewohner des Hauses zu Kapernaum, in das die Leute zusammenströmten, tat noch mehr! Er sprach zu dem Gichtbrüchigen, als er seinen Glauben sah: „Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“ Es hatten sich auch Feinde in das Haus hineingedrängt; wie, so brausten sie auf in ihrem Denken und Dichten, wer kann Sünde vergeben, denn allein Gott? Wahrhaftig, sie hatten darin Recht: Sünden vergeben, das kann allein Gott, und wir sehen hinzu: Glauben sehen, das schwache Fünklein der Gläubigkeit in der Herzenskammer des Gichtbrüchigen sehen und weiter auch die bösen Gedanken der Feinde sehen - das kann allein Gott. Wenn also der Mann im Haus zu Kapernaum sich die Macht zueignet, die Sünden auf Erden zu vergeben, dann, ja dann ist eins von beiden nur möglich: entweder die Pharisäer und Schriftgelehrten hatten ganz und gar Recht, wenn sie sagten: „dieser Mensch ist ein Gotteslästerer“, oder die Kirche hat Recht, die da sagt: „Dieser Mensch ist zwar ein wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren, aber er ist auch wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren.“ Das ist die große Alternative, vor der wir stehen in dem Wohnhaus des Menschensohnes zu Kapernaum. Der wundersame Hausherr steht uns Aug' in Auge an und spricht zu uns: „Wofür haltet ihr mich? Für einen Lästerer Gottes oder für den ewigen Sohn Gottes, für die zweite Person der allerheiligsten Dreieinigkeit? Ich lasse euch nicht aus meinem Haus, ehe ihr mir nicht Rede und Antwort gebt!“ Bedenken wir das einmal alles Ernstes, was das für törichte Leute, halbe, inkonsequente Denker, arme Träumer sind, die da sagen: Dass Jesus Christus Gottes Sohn ist, können und mögen wir nicht glauben, ist überdem auch gar nicht nötig zu glauben; aber wir glauben von ganzem Herzen, dass Jesus ein sehr weiser Mann, ein sehr großer Tugendheld, ein sehr erhabenes, sittliches Vorbild ist. Ei, was ist das für eine Erhabenheit, wenn Jemand, der eine Kreatur wie andere war, nur begabter als andere, sich untersteht zu beten: Und nun verkläre mich, Du Vater, mit der Klarheit, die ich bei Dir hatte, ehe denn die Welt war! Das wäre nicht Erhabenheit, das wäre Gemeinheit. Wie kann man das eine Tugend nennen, wenn Jemand, der nur dreißig Jahre dieser Zeit und keine Ewigkeit hinter sich hatte, spricht: Ehe denn Abraham war, bin ich? Das wäre ja doch eine Lüge und zwar eine der allerfrechsten und abenteuerlichsten Art. Weisheit sollte das sein, wenn Einer es wagt mir die Sünden zu vergeben, der weder Recht noch Macht dazu hat? Torheit wäre das, Torheit der Torheiten; ich würde dem armen Träumer ja bald sagen müssen: Mensch, ich fühle nichts von deiner Vergebung, meine Sünden brennen nach wie vor. O nein und dreimal nein! ist Jesus Christus nicht Gott, dann ist er auch nicht ein weiser, nicht ein tugendhafter, nicht ein vorbildlicher Mensch, sondern ein Tor und ein Träumer und der größte Majestätsverbrecher, den es je gegeben hat. Und nun sage, meine Seele, wie dünkt dich um diesen Jesus, den Bewohner des Hauses, das du betreten? Eins von beiden kann er nur sein, entweder der Lästerer Gottes oder der Sohn Gottes, was ist er dir? O, mein Herr Jesu, Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes! Bei Deinem Namen haben seit achtzehnhundert Jahren Millionen Herzen höher geschlagen! Durch Deinen Namen hat eine ganze Wolke von Zeugen das schwere Leid des Lebens und alle Schrecken des Todes siegreich überwunden! Von Deinem Namen bezeugen noch heute Tausende und aber Tausende in allen Landen, dass sie in ihm empfangen haben Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit! In meines Herzens Grunde Dein Nam', Herr Christ, allein funkelt allzeit und Stunde, des kann ich fröhlich sein! Des Menschen Sohn ist Gottes Sohn und der König der Menschheit. Als der Erzvater Jacob zu Bethel seinen Gott gesehen, sprach er: Wie heilig ist diese Stätte; hier ist nichts anders, denn Gottes Haus und hier ist die Pforte des Himmels. Wir stehen im Geist zu Kapernaum im Haus des Menschensohnes, wir erkennen in ihm den Sohn des allerhöchsten Gottes und den König der Welt; wie heilig ist dies Haus, wahrlich auch hier ist nichts anders, denn Gottes Haus und die Pforte des Himmels.
Ist es aber also, ist dies Haus zu Kapernaum ein Königshaus, ist es das Haus des Sohnes Gottes, dann weilen wir gerne noch länger in demselben und sprechen wie Petrus auf dem Berg: Herr, hier ist gut sein! Marcus berichtet uns, dass der Herr den vielen Leuten, die in und bei seinem Haus waren, das Wort sagt, eine Predigt hält. So ist der König des Himmelreichs also zugleich der Prophet des Himmelreichs. Wem geläng' es, wem, ohne Ihn Ihn zu verstehen? O dass es ihm gefallen möchte, auch uns, wie jenen Leuten, Sich Selber zu deuten! Wenn wir auch glauben und erkennen, dass er der Sohn Gottes ist, wir haben doch noch so viel zu fragen: Warum hat sich denn doch der ewige Gott seinen Sohn vom Herzen gerissen? Und wenn er ihn auf die Erde sandte, warum doch so arm und so gering; warum nicht reich und groß und majestätisch, dass ihm gleich alle Welt hätte zu Füßen fallen müssen? Warum? warum? Ach, wer kann die Fragen alle zählen, mit denen sich so ein armer Mensch trägt, wenn er einen Eindruck, aber eben auch noch weiter nichts als einen Eindruck hat von der Hoheit des Menschensohnes? Gott sei Dank, des Menschen Sohn antwortet als sein eigner Prophet auf alle diese Fragen. Wenn er den Leuten in Kapernaum das Wort sagt, so wissen wir zwar nicht die Worte, die er in diesem Fall redete, aber das Wort, das er redete, wissen wir doch. Das Wort des Menschensohnes steht geschrieben auf den Blättern der Heiligen Schrift. Das Wort, das Jesus als Prophet geredet hat, ist das biblische Wort. In diesem Wort, dem Bibelwort, muss jede Seele suchen und forschen, der es darum zu tun ist, befriedigende Antwort auf ihre religiöse Fragen zu erhalten. O die Menschen, die Jesu Wort verachten, sie wissen nicht, was sie tun; sie haben Hunger und verachten das Brot, sie haben eine dürstende Seele und sie verachten das Wasser, sie haben ein krankes Herz und sie verachten die heilende Medizin. Du, meine Seele, sollst das Wort deines Heilandes nicht verachten, du sollst suchen und forschen in der Schrift, die von ihm zeuget; du sollst sein Wort behalten und bewegen, wie die Jungfrau Maria es behielt und bewegte.
Sieh, wir sitzen Dir zu Füßen,
Großer Meister, rede Du;
Sieh, wir hören Deiner süßen
Rede heilsbegierig zu.
Lehr' uns, wie wir selig werden,
Lehr uns, wie wir unsere Zeit,
Diese kurze Zeit auf Erden,
Nützen für die Ewigkeit.
Das aber ist des Menschensohnes Wort und Lehre, das hat er überall gepredigt, wo er seine holdseligen Lippen öffnete, das hat er auch in seinem Haus zu Kapernaum gesagt, das sagt er auch uns: Alle Menschen sind arg von Natur und Knechte der Sünde, Alle von unten her, Fleisch geboren vom Fleisch, die da sterben müssen in ihren Sünden, wenn keine Rettung kommt. Der ewige Gott aber hat eine Rettung für die Sünder bereitet in seinem Sohn; also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingebornen Sohn gab, auf dass Alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Mose und die Propheten haben davon zuvor gezeugt, dass das Heil kommen sollte von den Juden. Als aber die Zeit erfüllt war, ist der Heiland gekommen, nicht dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn selig werde. Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet, denn der große Bürge hat für Alle die Schrecken des Gerichtes auf sich genommen; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er glaubt nicht an den Namen des eingebornen Sohnes Gottes. Wer aber an den Sünderheiland glauben will, der muss zuvor seine Sünden erkennen; denn die Starken bedürfen keines Arztes, sondern die Kranken. Darum tue Buße und glaube an Jesum Christ, wer frei werden will von der Knechtschaft der Sünde und des Todes; und wer also kommt, in Buße und Glauben, den wird der Sohn Gottes nicht hinausstoßen, sondern ihm Ruhe geben für seine Seele und die Anwartschaft auf ein Plätzlein in den Hütten des ewigen Friedens. Das ist der Stern und Kern alles dessen, was des Menschen Sohn als Prophet gelehrt hat und lehrt. Und das nennen sie nun eine ungereimte Lehre, die man unbesehens verwerfen müsse, die nur für vergangene Zeiten mittelalterlichen Aberglaubens gepasst habe, die unvereinbar wäre mit der Bildung und Aufklärung dieses fortgeschrittenen Jahrhunderts! O die Menschen dieser Tage prüfen doch sonst allerlei Ratschläge, die ihnen für ihr zeitliches Wohl, für ihr irdisches Glück gegeben werden, prüfen Alles und behalten das Beste; wie ist es doch nur möglich, dass gerade in denjenigen Dingen, die die Seligkeit ihrer Seele betreffen, so Viele leichtsinnig die erste, beste Theorie eines Weisen dieser Welt annehmen und lebenslang darauf schwören als auf ein unumstößliches Evangelium, während sie das einzige Evangelium, das es gibt und so heißen, darf, die Lehre des großen Propheten von Kapernaum, gar nicht einmal der Beachtung, geschweige der Prüfung für wert erachten? Wie Viele zucken heutzutage die Achseln über die alte Lehre Christi von Christo und haben sich seit ihren Kinderjahren gar nicht um sie bekümmert, gar nicht über sie nachgedacht! Welch' eine grenzenlose Leichtfertigkeit in der allergewichtigsten Angelegenheit des menschlichen Lebens! Dazu welch' ein Treubruch, welch' eine Verletzung des Gelübdes der Konfirmation! O über die unverständigen Galater unserer Tage; wer hat sie doch nur so bezaubert, dass sie das Wort des Menschensohnes nicht einmal zu lesen, viel weniger zu bedenken für würdig, für nötig halten? Das hat der Feind getan! Der alte, böse Feind, mit Ernst ers jetzt meint; groß Macht und viele List sein grausam Rüstung ist; auf Erden ist nicht seins Gleichen. Diesem Feind muss ewige Fehde schwören, wer den himmlischen König ehren und seinem Worte glauben und die eigne, arme Seele retten will. Wohlan so seid zum Kampf bereit! Ergreift die Waffen des Lichts und leistet Widerstand für das Wort Jesu Christi mit dem Wort Jesu Christi.
Herr, öffne mir die Herzenstür,
Zeuch mein Herz durch Dein Wort zu Dir;
Lass mich Dein Wort bewahren rein,
Lass mich Dein Kind und Erbe sein.
Dein Wort bewegt des Herzens Grund,
Dein Wort macht Leib und Seel gesund;
Dein Wort ist das mein Herz erfreut;
Dein Wort gibt Trost und Seligkeit.
Wenn des Menschen Sohn im Haus von Kapernaum seinen Feinden sich kund tut als Gottessohn in königlicher Würde, wenn er der Volksmenge gegenüber tritt als der Prophet ohne Gleichen, der da predigte gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten: so ist er dem armen Gichtbrüchigen, von dem uns Marcus erzählt, der barmherzige Hohepriester, der ihm noch Köstlicheres schenkt, als leibliche Heilung, der ihm den Bann von seinem beladenen Herzen nimmt und ihm Vergebung seiner Sünden schenkt durch sein heiliges Wort und Verdienst. So ist das Haus des Menschensohnes in Kapernaum nicht nur ein königlicher Palast, auch nicht nur eine Prophetenhütte, sondern auch ein hohepriesterliches Heiligtum, in welches man mit Wehmut und Verlangen eintritt, aus welchem man scheidet mit Friede und Freude im heiligen Geist. Mit Wehmut und Verlangen, nicht wahr, mein unbekannter Leser, so stehst du in dem Augenblick, da dein Auge auf diese Zeilen blickt, im Geist in dem Haus zu Kapernaum. Wenn auch ein ewiges Lächeln um deine Lippen spielte, du wirst, du kannst, du magst nicht leugnen, dass durch die tiefsten Saiten deiner Seele ein Gefühl unendlicher Bangigkeit zittert. Die Jahre fliehen schnell dahin; die Sonne neigt sich je länger, je mehr zum Untergang; die Schatten werden immer länger; ein Tag geht nach dem andern hin, und unser Werk bleibt liegen; wie bald werden alle Tage verronnen sein, dann kommt der Abend aller Abende, der Abend und dann die Nacht und dann? Rasch tritt der Tod den Menschen an, der Tod und dann? Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach ja danach das Gericht! Das Gericht?
Zorntag, schrecklichster der Tage,
Der Propheten ernste Sage,
Füllst die Welt mit Angst und Klage!
Welch' ein Zittern, welch' ein Schrecken,
Wenn, was Finsternisse decken,
Einst der Richter wird entdecken!
Wird das Schuldbuch aufgeschlagen,
Die Verbrecher anzuklagen
Aus den allerältsten Tagen,
Dann erscheint vor dem Gerichte
Alle Schuld in grellem Lichte,
Wehe jedem Bösewichte!
Wer uns da helfen könnte, wer unser armes Herz von der Furcht vor dem Gerichte heilen könnte, wer unseren mit Recht erschrockenen Geist von dem tiefen, ernsten, übermannenden Schmerz der Schuld, der Schuld, der großen Schuld des Lebens heilen könnte! Nicht wahr, wer das könnte, der sollte unser Heiland sein, und wenn die ganze Welt ihn verachtete. Ja, wer das könnte, dem wollten wir zu Füßen fallen und sprechen: Du sollst mein Herr sein und mein Gott! Kann es denn Einer? Ja Einer und nur Einer! Des Menschen Sohn kann es! Wir heben unsere Augen auf zu dem Mann im Haus von Kapernaum. Wie ist das? Er hat da auch so eine arme, traurige, kranke Seele vor sich. Er legt ihr die Hände auf das Haupt und spricht: Mein Sohn, sei getrost, deine Sünden sind dir vergeben! Vergeben, welch' ein hohepriesterliches Wort! O mein Herr Jesu, wir sind auch da; wir haben auch so eine arme, sündige, bangende, verlangende, zitternde Seele; wir sehnen uns auch nach Vergebung, nach Trost, nach Hoffnung; wir befehlen uns auch Deinem hohepriesterlichen Erbarmen; vergib uns auch die Sünden, Du großer, wunderbarer, barmherziger Menschensohn! Seufzt du so zu Ihm, lieber Leser, teurer, unbekannter Freund? Dann lass dies Blatt, das du in deinen Händen hast, dir deine Absolution sein! Denn Jesus Christus gestern und heute und derselbige in Ewigkeit. Ob deine Sünde gleich blutrot ist, so soll sie doch schneeweiß werden, und ob sie gleich ist wie Rosinfarbe, so soll sie doch wie Wolle werden! O Lamm, wir müssen niederfallen, denn Dein Erbarmen ist ein Meer; und was soll so ein Würmlein lallen, das Dich erst liebt von gestern her? Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen; lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat; der dir alle deine Sünde vergibt und heilt alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst und dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit. Mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung, deren ich nicht wert; das zähl' ich zu dem Wunderbaren, mein stolzes Herz hat's nie begehrt; nun weiß ich das und bin erfreut und rühme die Barmherzigkeit.
Aber eine Liebe ist der andern wert. Wenn uns selber im Haus des Menschensohnes solches Heil widerfahren ist, dass durch sein hohepriesterliches Erbarmen in unsere Seele gezogen ist der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft: dann gilt es wohl zu bedenken, dass noch so viele Gichtbrüchige sind in unserer Freundschaft und Verwandtschaft, vielleicht noch in unsers Vaters Haus, so müssen wir ihre Träger sein und sie auf betenden Händen und Herzen alle, alle hintragen zu unserm großen, barmherzigen Hohenpriester, dass er heile die klaffenden, blutenden Wunden unserer Zeit. Aber nicht nur durch unsere Gebete, auch durch Wort und Wandel müssen wir unsere gichtbrüchigen Freunde zum Heiland tragen. Dies Tragen ist allerdings eine Kunst, aber man lernt sie in der Schule des Heiligen Geistes. Worte lehren, Beispiele ziehen; ich will hier zwei Beispiele erzählen von christlichen Trägern, wie sie andere Seelen zu Christo getragen haben. Eine gläubige Frau war besorgt um ihren Mann, der sehr lieb und freundlich und fleißig war, aber die Wege der Welt ging und nach des Tages Last und Hitze Abend für Abend im Wirtshaus saß. Sie klagte ihre Sorge und ihr Leid einem gläubigen Freunde des Hauses. Da kam derselbe Abends, den Mann zu besuchen; der Mann ließ aber den Freund bei seiner Familie sitzen und ging zu Biere. Der Freund blieb Abend für Abend, las der Familie aus Gottes Wort und guten Büchern etwas vor, wartete jedesmal, bis der Mann nach Haus kam, reichte dann demselben freundlich die Hand und sagte: „Nun kann ich gehen, denn der Vater und Gatte ist wieder bei den Seinen.“ Nicht lange konnte der Mann das ertragen; so viel Liebe beschämte ihn: er blieb bald weg von dem Wirtshaus, las auch die Bibel mit den Seinen und ward gläubig mit den Seinen. Da hat ein Freund den andern auf sehr einfache Weise zu Christo getragen. Ein wenig kunstvoller machte es ein Anderer. Das war ein frommer Prediger, der bei der Welt verschrien war als ein Pietist vom reinsten Wasser. Er war so eben bei einer neuen Gemeinde angestellt und predigte das lautere Wort des Herrn unter Beweisung des Geistes und der Kraft. Eine alte, siebzigjährige, aber sehr muntere Matrone gehörte zu dieser Gemeinde; sie war nicht zu bewegen, in die Kirche zu gehen, denn nichts war ihr schrecklicher, als Orthodoxie und Pietismus. Der Prediger hört das und geht zu ihr. Er besucht sie, da er gerade einen Spaziergang vorhat, und bittet, nachdem er sie begrüßt hat, sich Feuer aus für seine Zigarre, redet auch noch Einiges mit ihr von Wetter und Wind und dergleichen, aber keine Silbe vom Worte Gottes, und verabschiedet sich dann. „Seltsam“, spricht die Frau, „ich hatte mir die Pietisten anders vorgestellt; sie rauchen auch ihre Zigarre und reden auch über Wind und Wetter, das hätte ich nicht für möglich gehalten.“ Nach einiger Zeit kommt der Prediger wieder und trifft die Alte, wie sie in unverwüstlichem Humor ein Liedchen trillert. „Ei, das ist schön“, sagt er, „so lieb' ich meine Leute, namentlich wenn sie alt und wohlbetagt sind, fröhlich und singend.“ „Ja“, sagte die Alte, „warum sollte man nicht singen, wenn's Einem so um's Herz ist?“ „Gewiss“, antwortete der Pfarrer, „sollt' ich meinem Gott nicht singen? Sollt' ich ihm nicht fröhlich sein? Es eilt ja das zeitliche Leben rasch zu Ende, aber für unser Einen ist der Tod nicht traurig; denn wer da glaubt an Jesum Christ und in ihm Vergebung der Sünden hat, der lebt, ob er gleich stürbe! Mein Herze geht in Sprüngen und kann nicht traurig sein, ist voller Freud' und Singen, sieht lauter Sonnenschein. Die Sonne, die mir lachet, ist mein Herr Jesus Christ; das, was mich singend machet, ist was im Himmel ist.“ Damit empfiehlt er sich und geht. Als er nach einiger Zeit wieder kommt, findet er die Frau sehr traurig. „Ei, ei“, spricht er „was ist das? Wo sind denn Ihre Lieder? Sie singen ja nicht mehr!“ „Ja“, sagt die Frau und sieht ihn wehmütig an, „Sie haben gut reden, Sie können wohl singen; aber wie soll ich noch singen, ich armes, sündiges Weib mit 70 Jahren, dem so spät die Augen aufgehen darüber, dass es bald ein Ende sein wird und dann der Tod kommt und dann das Gericht.“ „So“, sagt der Prediger, „ist das so gemeint? Ei nun, das ist eine gute Traurigkeit und gebiert eine Reue, die Niemand gereut. Gott segne Ihnen diese Traurigkeit; aus ihr wird große Freude geboren, die Freude in Jesu Christo.“ „Ja“, spricht die Frau, „das sagen Sie wohl; aber wie kann ich dazu noch gelangen? Die bekehrten Leute, die mich unterdessen besucht haben, haben mir gesagt, dass es bei Manchem wohl neun ganze Jahre währen könne, ehe er durch die Traurigkeit des Herzens zur Bekehrung des Herzens gelange; und nachdem ich siebzig Jahre unbekehrt gelebt habe, wird's wohl bei mir noch länger dauern, ehe ich mich zu unserem Herrn Jesu bekehrt habe.“ „Da sei Gott vor“, entgegnet der Prediger, „die guten Leute wissen nicht, was sie sagen; bei denen es neun Jahre mit der Bekehrung gewährt hat, das sind sicherlich Leute gewesen, die viel jünger waren, als Sie; unser Heiland weiß alle Dinge, der weiß auch ganz genau, dass Sie viel zu alt sind, um noch neun ganze Jahre mit der Bekehrung warten zu können; aber damit Sie ganz sicher gehen, bitten Sie nur den lieben Heiland: Herr, nimm mich wie ich bin; ich bin zwar eine alte, arme, noch unbekehrte Sünderin, aber, lieber Herr, nimm mich doch, wie ich bin!“ Als der Prediger wieder kam, da sang die Alte wieder, viel fröhlicher noch als früher. Der Herr hatte sie genommen, wie sie war; und unser Freund hatte die Alte wirklich zu Christo getragen. Das sind nun allerdings keine Geschichten zum Nachmachen (nur nichts Gemachtes im Reiche Gottes, auch nichts Nachgemachtes!), aber doch zum Nachdenken für Alle, die gerne auf das Verslein hören:
O geht hinaus auf allen Wegen
Und holt die Irrenden herein;
Streckt Jedem eure Hand entgegen
Und ladet froh sie zu uns ein.
Der Himmel ist bei uns auf Erden,
Im Glauben schauen wir ihn an;
Die mit uns Eines Glaubens werden,
Auch ihnen ist er aufgetan.
Wir sind am Ende. Wir verlassen nun das Haus des Menschensohnes zu Kapernaum. Welch' ein Haus ist dies Haus! Ein Königshaus, ja wahrlich ein Königshaus, denn wir sahen die Herrlichkeit des Herrn dieses Hauses, eine Herrlichkeit als des Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit. Ein Prophetenhaus, wahrlich ein Prophetenhaus: denn so hat nie ein Mensch geredet, wie dieser Mensch, der auch mehr ist als ein Mensch; wohin sollen wir gehen? Er allein hat Worte des ewigen Lebens. Ein hohepriesterliches Haus endlich ist dies Haus zu Kapernaum, denn es wird bewohnt von dem, der Sünde vergibt durch sein heiliges Verdienst. Dreifacher Glanz erfüllt dies Haus; ist auch ein Haus, wie dieses Haus? Ei, jedes gläubige Christenhaus ist ein solches Haus! In jedem Haus, wo der Heiland wohnt, offenbart er sich auch immer als König, Prophet und Hoherpriester.