Quandt, Carl Wilhelm Emil - Der Wert einer Menschenseele.

Quandt, Carl Wilhelm Emil - Der Wert einer Menschenseele.

Dem Wert, den eine Menschenseele hat, dachten schon die alten Heiden mit Begierde nach. Ihre Weisen kannten keine süßere Beschäftigung, als sich Gedanken zu machen über den wunderbaren Fremdling, der aus den Fenstern unserer Augen schaut. Christen liegt es noch um Vieles näher, die Kammern des inwendigen Menschen zu durchspähen; denn die Richtung des Christentums geht wesentlich auf das Innerliche; das Evangelium lehrt uns, das Große, das Edle, das Unvergängliche nicht auswendig, sondern inwendig suchen. Dazu haben wir Christen es tausendmal leichter, uns in etwa klar zu werden über das, was im Menschen ist, als es die alten Heiden hatten. Denn wie in der vorchristlichen Zeit der größte Teil unserer Erde noch unentdecktes Land war, so lagerte auch über ganzen Gebieten der Menschenseele noch undurchdringliches Dunkel; heutzutage aber, gleich wie unsere Erde durch großartige Entdeckungsreisen zu großen Teilen erforscht ist, so ist auch, was eine Menschenseele ist und gilt, immer offenbarer geworden. Wir verdanken das der gnadenreichen Erfüllung jener pfingstlichen Weissagung, die der Heiland den Seinen gab, da er sprach: „Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten.“ Indem wir um die Gnade dieses Heiligen Geistes flehen und seiner gütigen Leitung vertrauen, sammeln wir unsre Sinne für Betrachtung des Wertes, den eine Menschenseele hat.

Welches war der Wert einer Menschenseele im Morgenglanz der Schöpfung? Das ist unsere erste Frage. Ehe wir dieselbe uns zu beantworten suchen, wollen wir im Geist einen Tempelgang machen, einen Gang in einen alten, heidnischen Tempel.

„Groß ist die Diana der Epheser!“ dies Volksgeschrei aus Apostelgeschichte 19. ist jedem Bibelleser bekannt. Der Göttin Diana erzeigte der ganze heidnische Weltkreis Anbetung und Ehre, und Tempel zum Ruhme ihres Namens standen an vielen Orten. Aber zu Ephesus wurde sie am herrlichsten verehrt, hier stand ihr heiligster Tempel. Ein Frevler, Herostratus, hatte ihn einst in Asche gelegt; doch auf den zerstoßenen Kohlen war er prächtiger als zuvor wieder aufgebaut, und war mit seinen Marmormauern und mit seinem Zederndache eines der sieben Wunder der alten Welt. Und doch, was dem Dianentempel zu Ephesus in den Augen der heidnischen Völker den Vorzug gab vor allen anderen, das war nicht seine auswendige Pracht, sondern ein inwendiges Kleinod, das sogenannte himmlische Bild inmitten des Tempels, ein Bild der Göttin, von dem man sagte, dass es vom Himmel gefallen sei. Dieses Bild war der Ruhm und der Stolz von Ephesus, um welches es die übrige Heidenwelt beneidete. „Ihr Männer von Ephesus,“ so ruft Apostg. 19. der ephesinische Kanzler, „welcher Mensch ist, der nicht wisse, dass die Stadt Ephesus sei eine Pflegerin der großen Göttin Diana und des himmlischen Bildes?“

Das ist eine alte Geschichte, das sind heidnische Träume. Es ist nichts mit der Diana der Epheser; ob einst auch der ganze Erdkreis sie verehrte, sie war ein Götze nur und ein Schemen, und ihre Majestät ist längst erbleicht. Es ist auch nichts mit dem himmlischen Bilde im Tempel zu Ephesus; es war ein Holzgebilde nur, nicht wert, dass man es ansah. Und doch ist diese Geschichte nicht ganz eine Fabel, sie ist auch ein Gleichnis. Setzen wir anstatt des nichtigen Götzen den lebendigen Gott, anstatt des Tempels zu Ephesus den Erdball: so ist die Menschenseele das himmlische Bild, und die Geschichte ist wahr.

Ja, sie ist wahr. Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und der Himmel erzählte seine Ehre, und die Erde verkündigte seinen Ruhm. Aber gerade die Erde, von der es Jesaias 45. ausdrücklich heißt: „Gott schuf sie nicht leer“, wurde wüste und leer durch herostratischen Frevel. Da baute der Schöpfer (1 Mos. 1,3) die Erde noch einmal auf zu seinem besonderen Tempel im Weltall, zu einem Wunder der Welt. Er schmückte sie auswendig mit herrlicher Pracht und zog selbst Sonne, Mond und Sterne in ihren Dienst, dass sie ihr Leuchten seien am Tag und in der Nacht. So herrlich war das Alles, was Gott an und auf der Erde schuf, dass es auf ihn selber den Eindruck machte: „Siehe, es ist gut!“ und dass es noch heute auch, unter dem Trauerflor, den es nun trägt, sinnende Gemüter hinreißt einzustimmen in den Vers Tersteegens: „Im Herzen Gott, da draußen die Natur! Ich liebe ihn in seinen Schildereien, und muss mich ja herzkindlich drüber freuen. Wie schön, wie schön ist Gottes Kreatur!“ Noch aber fehlte dem Tempel der Erde das himmlische Bild. Da sprach der Herr in feierlicher Beratung mit sich selber: „Lasst uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei“; und er formte aus der Erde den edlen Rahmen des menschlichen Leibes und hauchte aus seinem göttlichen Odem als Bild ihm die lebendige Seele ein. So schuf Gott den Menschen ihm zum Bilde; zum Bilde Gottes schuf er ihn. Da hatte das Werk seine Krone; siehe, nun war Alles sehr gut. Ein Halleluja ging durch die ungemessenen Räume der weiten, weiten Welt; es jauchzten die Morgensterne und lobten alle Kinder Gottes.

In der makellosen Gottebenbildlichkeit bestand also der Wert einer Menschenseele, als die perlenden Tautropfen des Schöpfungsmorgens sie umglänzten. Sie war der geschöpfliche Abdruck des göttlichen Schöpfers, das irdische Bildnis seines himmlischen Wesens, der geschaffene Glanz seiner unerschaffenen Herrlichkeit. Aber dieses damalige Bild Gottes auf Erden ist für uns ein durch sechs Jahrtausende verschleiertes Bild. Auch die Heilige Schrift lüftet den Schleier nicht ganz, sondern nur so viel, als uns nötig ist zu wissen, um unsrerseits selig zu werden. Wir erfahren, dass Unsterblichkeit, Herrschaft über die Kreatur, Weisheit, Lebendigkeit, Ungezwungenheit zu den himmlischen Zügen des Gottesbildes auf Erden gehörten. Mehr aber als diese Züge betont die Schrift als die zwei leuchtenden Augen im Gottesbild der Menschenseele Gerechtigkeit und Heiligkeit. Rechtschaffene Gerechtigkeit, das richtige Einhalten aller Verhältnisse, wie es stammt aus der Heiligkeit, der fleckenlosen Reinheit der Liebe - Gerechtigkeit und Heiligkeit waren die glänzendsten Merkmale des göttlichen Ebenbildes im Menschen. So war die Menschenseele denn ein Kleinodium, das einzig im ganzen Weltall dastand. Für solches Kleinod schickte sich dann auch nur der Rahmen eines auf Unsterblichkeit angelegten, makellosen Leibes und als weitere Umschließung eine paradiesische Umgebung.

So lehrt die Schöpfungsgeschichte von dem ursprünglichen Wert der Menschenseele. Durch die Geschichte des Sündenfalls tritt dieser Wert noch kräftiger ins Licht.

Das himmlische Bild ist ja nicht mehr, was es war; es ist gefallen, in Sünde und Schuld gefallen; wie bist du aus deinen Himmeln gefallen, du schöner Morgenstern! Aber dass die Menschenseele fallen konnte, ist selbst ein Beweis für ihre ursprüngliche Hoheit. Die Sterne des Himmels mussten von Anfang an widerstandslos Wege, Lauf und Bahn inne halten, die Gott ihnen bestimmt; der Wurm des Staubes kann über die Kreise nicht hinauskriechen, die Gott ihm vorgezeichnet, und den Wellen des Meeres ruft er zu: Bis hierher und nicht weiter! Die Menschenseele aber war zu vornehm geschaffen, um auf gleicher Stufe mit Sternen, Würmern und Wellen behandelt zu werden. Der lebendige Gott musste in seinem Bild das lebendige, der freie Gott in seinem Bild das Freie respektieren - wir reden töricht. Er konnte seinem Bild nur die Wege weisen, die er selber wandelte, und musste er der freien Wahl desselben anheimstellen, ob es sich in kreatürlicher Art auf gleichen Wegen bewegen und so von einer Klarheit zur andern steigen wollte oder nicht. Die Menschenseele, betrogen von feindlichen Mächten, hat nicht gewollt, wie Gott. Der Adler, statt mit seinem Flügelschlage sein Element, die Lüfte, zu durchschneiden, durchschnitt sich vielmehr seine Flügel und kriecht nun auf dem Boden, wo er sich kümmerlich ausnimmt, weil er nicht dahin gehört. Die Seele fiel aus ihrem Element auf den Boden der Schuld und Sünde. Fällt man auch so tief, wenn man nicht zuvor so hoch gestanden?

Aber nicht nur der Sündenfall selbst, sondern auch die Folgen des Sündenfalls sind rückwärts weisende Zeugen für die Herrlichkeit, die die Menschenseele hatte im Morgengrauen dieser Welt. Der leibliche Tod und die Not und was damit zusammenhängt; das ganze Heer von Leiden und Trübsalen ja, die Menschheit hat sich bis auf diesen Tag noch nicht daran gewöhnt, obwohl der Tod nun schon fast sechstausend Jahre lang seine Schreckensherrschaft auf Erden übt. Not und Tod - es sind die schweren diesseitigen Strafen für die Sünde der Seele; und diese schweren Strafen, sie beweisen doch nicht bloß die Größe der Sünde, sondern auch die Größe der Sünderin, der Seele. Nicht die unnützen Knechte, sondern die entthronten Könige schickt man ins Elend und in die Verbannung. Ja, auch in die Verbannung. Nicht bloß die Leiblichkeit der Menschenseele ist nach dem Fall elend geworden, sondern auch die Erde ist für sie aus einem Paradies zu einem St. Helena geworden. Der Mensch hat die Erde mit in sein Elend verwickelt. Wie, wenn ein Riesenrad, an dessen Speichen tausend Kleinigkeiten befestigt sind, vom hohen Bergesgipfel in die Tiefe stürzt, nicht bloß das Rad zerschellt, sondern auch das kleinste Zubehör mit ins Zerschellen gerät: so, da die Menschenseele in Sünde und Verderben fiel, hat alle Kreatur der Erde das schwere Geschick des Falles geteilt, ist unterworfen der Eitelkeit und sehnt und ängstet sich mit uns immerdar.

„Es geht ein allgemeines Weinen,
so weit die stillen Sterne scheinen,
durch alle Adern der Natur.“

Die Hinfälligkeit des menschlichen Leibes und das Seufzen der Kreatur bezeugen, dass die Seele, die durch ihr Sündigen eine solche totale Veränderung in die Natur gebracht, eine Fürstin und Gewaltige gewesen sein muss im Reiche des Schöpfers.

Und dafür zeugen auch noch die Gottesklagen in der Schrift über den Fall der Menschenseele. Kann es auch einen größeren Schmerz geben für einen Meister, als wenn sein Meisterwerk verwüstet wird? Als in einer benachbarten Residenzstadt bei einer Feuersbrunst ein bewundertes Kunstdenkmal in Trümmer gesunken war, ward berichtet, dass der Bildner desselben, von unsäglicher Trauer erfasst, in schwere Krankheit gefallen sei. Gott ist nicht ein Mensch, dass er krank werde; aber er hat ein Herz, nach dessen Gleiche unser Herz geschaffen ist, und aus diesem seinem Gottesherzen heraus hat er eine große Klage geklagt über den Fall seines Bildes. Wehmütig und ergreifend sind die Worte der Schrift, in denen der Herr im Anblick der gefallenen Krone der Schöpfung seiner Trauer Ausdruck gibt. Es dringt durch Mark und Bein, wenn die Schrift den nach Gottes Bild geschaffenen Menschen nun, da er gefallen ist, mit einer Blume vergleicht, die des Morgens blüht und vor Abend verdorrt ist; mit einem Halm, der manche Träne trinkt, bis er in tiefe Erde sinkt; und wenn durch diese Klagen, so oft sie sich auch wiederholen, immer als Grundton hindurchzittert: „Die Sünde, die Sünde ist der Leute Verderben!“ Ei, wird der ewige Gott auch das Gemeine beklagen, wenn es sinkt? Nein, seine Trauerlieder gelten seinem edlen Bild und sind Zeugnisse für den ursprünglichen hohen Wert der Menschenseele.

Worin bestand also der ursprüngliche hohe Wert der Menschenseele nach den Zeugnissen der Geschichte, der Schöpfung und des Falles? Sie war das makellose himmlische Bild des großen Gottes auf Erden, angelegt auf immer herrlichere Ausprägung der ihr eingeprägten Züge der Gottheit.

Doch das ist gewesen. Das sind zerronnene Herrlichkeiten. Näher liegt uns die Frage: Welcher Wert ist der Menschenseele geblieben? Worin besteht der Wert einer Menschenseele, wie sie jetzt ist, befleckt mit der Sünde von Adam her und mit eigner Schuld, ohne dass sie doch schon im Glauben die Erlösung von Golgatha ergriffen hätte? Welches ist der Wert einer sündigen Menschenseele, ganz abgesehen vom Glauben an die Erlösung?

Es gibt eine Anschauung, die sich auf den ersten Blick als sehr christlich ausnimmt, nach welcher der Menschenseele aller Wert, den sie ursprünglich hatte, durch den Fall genommen sein soll; der Mensch soll nicht mehr Gottes Bild in sich tragen, sondern des Teufels Bild. Aber das ist ein Christentum, das sich überschlägt, das das Kind mit dem Bade ausschüttet; das ist wider die Schrift. In der Heiligen Schrift erkennt der Apostel Jakobus im dritten Kapitel seiner Epistel in dem Menschen als solchen, auch wie er jetzt ist, Gottes Bild. Desgleichen St. Paulus 1 Kor. 11., da er von dem Mann spricht, wie er von Natur ist, sagt: „Der Mann ist Gottes Bild und Ehre.“ Derselbe vom heiligen Geist erleuchtete Zeuge der Wahrheit breitet auf dem Markt von Athen über eine unschlachtige heidnische Menge seine Hände aus und ruft: „Wir sind göttlichen Geschlechts!“ Ei, wollen wir erfunden werden, als die wider die Wahrheit streiten? Wollen wir den Menschen schlechter machen, als die Schrift ihn macht? Das sei ferne. Wir halten fest daran: Auch der sündenvolle Mensch trägt göttliche Züge, auch die sündige Menschenseele ist Gottes Bild.

Aber sie ist Gottes Bild mit erloschenen Augen. Gerechtigkeit und Heiligkeit, die Sterne erster Größe in dem himmlischen Bild fehlen ihr. Dafür ist die ganze Schrift ein einiges, einziges Zeugnis. „Da ist Keiner, der gerecht sei, auch nicht Einer. Wir fehlen alle mannigfaltig. Das Tichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. - Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie an Gott haben sollten. - Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker.“ Aus diesem Fehlen der Augen erklärt sich die dermalige traurige Lage der Menschenseele, ob sie auch immer noch in vielen Zügen das Bild Gottes trägt. Was hilft ihr jetzt ihre Freiheit? Es ist eine jammervolle Freiheit, nach Belieben im Finstern tappen zu können. Was hilft ihr jetzt die angeborene Herrschaft über die Kreatur? Man weiß, wie schwach das Regiment eines blinden Königs ist. Was hilft ihr jetzt ihre Weisheit? Weisheit, von Finsternis umhüllt, ist eine Schwester der Torheit. Was hilft ihr ihre Unsterblichkeit? Es ist eine traurige Unsterblichkeit, bei der man aus der zeitlichen Finsternis in die ewige Finsternis fährt. Ein blinder Mann, ein armer Mann; ein blindes Gottesbild, ein armes Bild!

Auch die sündige Menschenseele ist Gottes Bild - wie steigt die Waagschale! Aber sie ist Gottes Bild ohne die Augen der Gerechtigkeit und Heiligkeit wie sinkt die Schale! Und doch, sie steigt wieder, wenn wir noch das Dritte und letzte hineinlegen, was die Schrift auch noch aussagt von der sündigen Menschenseele: Sie ist fähig, erlöst zu werden, den Glanz ihrer Augen und ihre ganze Herrlichkeit wieder zu erhalten.

Diese wunderbare Fähigkeit ist begründet in dem geheimnisvollen Zusammenhang, in welchem das geschaffene Bild Gottes mit einem andern höheren, allerhöchsten Bild Gottes steht, welches unerschaffen und vom Vater in Ewigkeit geboren im Allerheiligsten des Himmels im Anfang war, als das ewige Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Es ist das der Sohn Gottes, welchen er gesetzt hat zum Erden über Alles, durch welchen er auch die Welt gemacht, die Welt und die Krone der Welt, die Menschenseele, welcher ist der Glanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens. Auf dieses Ebenbild Gottes in der Höhe ist jedes Bild Gottes in der Tiefe angelegt; man mag sich wenden, wie man will, man wird nicht ohne Jesum still. Des Vaters ewige Liebe steht nach diesem Sohn; und der Mensch, nach Gottes Gleiche geschaffen, brachte die Sehnsucht nach Vereinigung mit eben demselben Sohne Gottes mit auf die Welt. Wie diese Sehnsucht gestillt worden wäre ohne die Dazwischenkunft der dermaligen sündlichen Entwicklung, darüber herrscht in der Heiligen Schrift ein heiliges Schweigen. Aber dass diese Sehnsucht nach dem Sohn Gottes fortbesteht auch nach dem Fall, dass der Sohn Gottes auch für die sündige Seele der Magnet ist, zu dem es sie mit Wunderkräften zieht, das lehrt nicht bloß die Schrift, sondern auch die Erfahrung. Denn wo auch immer in weiter Welt der Sohn Gottes gepredigt wird, in Residenzen, wie in abgelegenen Weilern, unter Europäern, wie unter Hottentotten und Eskimos, überall jauchzen ihm Menschenseelen entgegen, weil sie in ihm finden, den sie suchen. Und dieser Zug des Vaters zum Sohn, der in jeder Menschenseele leiser ober lauter sich regt, ist das tiefste, wesentlichste Recht des göttlichen Bildes im Menschen; an diese Christussehnsucht kann die göttliche Liebe an knüpfen, um die Menschenseele zu erneuern. Freilich sie kann es nur unter dem schwersten Opfer, unter dem Opfer der Hingabe des Sohnes an die Welt, und zwar einer Hingabe in Schmach und Tod. Gott hat dies Opfer gebracht, der Sohn hat dies Opfer vollbracht. Paulus sagt einmal zu den Galatern, sie hätten ihn im Anfang so geliebt, dass, wenn es möglich gewesen wäre, sie auch ihre Augen ausgerissen und ihm gegeben haben würden. Nun, diese bei den Galatern nur als Möglichkeit gesetzte Liebe ist bei dem Sohne Gottes zur Wirklichkeit geworden. Er hat seine beiden Ebenbildes Augen, seine Gerechtigkeit und Heiligkeit sich ausgerissen und uns gegeben. Das Wort ist Fleisch geworden und hat seine Gerechtigkeit und Heiligkeit daran gegeben, wie Gott Gerechtigkeit und Heiligkeit hingeben kann, ohne sich selbst aufzugeben. Er, den Niemand einer Sünde zeihen konnte, hat sich nicht geschämt, uns Sünder Brüder zu nennen; Er, der Gerechte und Heilige, hat sich als einen Ungerechten und Heillosen behandeln, kreuzigen, töten lassen. Gott aber hat ihn auferweckt von den Toten zum Zeichen und Zeugnis, dass der Sohn gerecht und heilig geblieben und doch seine Gerechtigkeit und Heiligkeit für die Sünder dargegeben. Wo nun eine sündige Seele ihrer Sehnsucht nach dem Sohn Gottes folgt, da schenkt er ihr seine Augen, dass sie wieder sehend wird, gerecht und heilig, und also das Bild Gottes in ihr gerade in seinen Hauptmerkmalen erneuert wird.

Es gibt Wesen, die gleich uns gefallen sind und doch nicht erlöst und erneuert werden können, das sind die Teufel: ihnen fehlt der Zusammenhang mit dem Sohn Gottes. Die Menschenseele aber hat diesen Zusammenhang; jede, auch die ärmste und verkommenste Seele, ist von Natur eine Christin, das ist, auf den Sohn Gottes angelegt. Erst wo eine Menschenseele auch diesen Zusammenhang mit dem Sohn Gottes zerschneidet und die Sehnsucht nach Christo selbst in sich vernichtet, geht ihr auch der Rest des Gottesbildes verloren, und sie sinkt ins Diabolische. Aber dahin zu gelangen, ist für die Menschenseele gar nicht leicht; Gottes Liebe hat das Verlorengehen dem Menschen schwerer gemacht, als man gemeinhin denkt. Derselbe Heilige Geist, der als göttliches Band den Vater und den Sohn umschlingt, sucht auch die einzelne Menschenseele und den Sohn Gottes zu umschlingen und umfangen zu halten; und erst wenn die Seele wie ein bäumendes Ross allen Bemühungen des Heiligen Geistes, sie an den Sohn Gottes zu ketten, endgültig widerstanden - erst dann hat sie die Sünde wider den heiligen Geist begangen, hat das: „Ich will nicht“ in das „Ich kann nicht“ verwandelt, hat die Fähigkeit und die Möglichkeit verloren, erneuert und vor der ewigen Finsternis bewahrt zu werden. Allein es steht keinem Menschen zu, irgendeiner Menschenseele, so lange sie das diesseitige Leben lebt, nachzusagen, dass sie die Sünde wider den heiligen Geist begangen habe, dass sie alles Göttliche in sich vertilgt habe, dass sie diabolisch geworden. In unsern Augen muss unter dieser Sonne jede, auch die glaubensloseste sündige Seele den hohen Wert behalten, dass sie ein Bild Gottes ist, zwar mit erloschenen Augen, aber fähig, durch Christi Blut erlöst und erneuert zu werden.

Wenn aber nun eine Menschenseele sich im Glauben dem Sohn Gottes vermählt, wenn sie vom heiligen Geist sich Christi Augen, Christi Gerechtigkeit und Heiligkeit, willig und mit Freuden einsetzen lässt, was gilt sie dann? Welches ist der Wert einer erlösten, gläubigen Seele? Ei, eine solche Seele, die an den Sohn Gottes glaubt und sein Verdienst ergreift, erhält ihren ursprünglichen hohen Wert wies der, demzufolge sie das makellose Bild Gottes und eine Fürstin unter den Kreaturen ist, nur dass die Fürstenkrone ihr nicht mehr hier, sondern erst dort gereicht wird.

Die gläubige Menschenseele ist wieder das makellose Bild Gottes. Die leuchtenden Augen, die ihr verloren gegangen, hat sie wieder durch Christum. Sein Blut und seine Gerechtigkeit, das ist ihr Schmuck und Ehrenkleid. Die Gemeinden des neuen Testamentes, an die St. Paulus seine Episteln geschrieben hat, waren Gemeinden armer Sünder; aber weil sie gläubig waren an Jesum Christ, begrüßt und behandelt sie St. Paulus als die Heiligen und Gerechten. „Christen sind ein göttlich Volk, aus dem Geist des Herrn gezeuget, ihm gebeuget, und von seiner Flammenmacht angefacht.“ Damit steht gar nicht in Widerspruch, dass gerade gläubige Seelen die tiefste Erkenntnis ihrer eigenen Schäden haben; sie haben ja eben nun erst die Augen, um zu sehen, was an ihnen selber ist. Aber ihre Sünde wird zugedeckt durch Christi Gerechtigkeit, wie die Dunkelheit der Planeten zugedeckt wird durch das Licht von der Sonne. Im Übrigen kann es nicht ausbleiben, dass von dem geschenkten Licht Lichteskräfte ausströmen auf das ganze Bild, dass aus der zugerechneten Gerechtigkeit Christi sich eigene Lebensgerechtigkeit entwickelt, dass aus der geschenkten Heiligkeit des Sohnes Gottes eigne Heiligung folgt. Es ist das eine notwendige Folge, setzt aber dem Wert einer Menschenseele nichts hinzu. Was eine sündige Menschenseele vor den Augen des göttlichen Bildners einzig und allein leuchtend machen kann, ist der Glanz Christi. „Herr, vor dir nichts gilt, als dein eigen Bild.“ Je fester die Seele vom heiligen Geist das Band schürzen lässt, das Glaubensband, das sie mit dem Sohn Gottes verbindet, desto gnadenvoller ruht das Wohlgefallen Gottes auf ihr, desto großartiger tritt das Gepräge Gottes in ihr hervor.

Für solch ein erneuertes Bild Gottes auf Erden will sich dann freilich Manches nicht mehr schicken, was ihr auf Erden begegnet. Hat der geheilte Aar die Kraft seiner Flügel wieder, dann mag er nicht mehr am Boden kriechen, dann strebt er in die Höhe. Aber das erneuerte Bild Gottes muss es sich gefallen lassen, noch eine Weile am Boden zu bleiben. „Es glänzet der Christen inwendiges Leben, obgleich sie von außen die Sonne verbrannt.“ „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werben.“ Das Bild muss sich noch erst bewähren, ob es auch den Glanz Christi festhält; Schächergeschichten sind ja Ausnahmen. Erst wenn die gläubige Menschenseele als das erneuerte Bild Gottes bewährt ist, wird sie die Krone des Lebens empfangen, welche Gott verheißen hat denen, die ihn lieb haben.

Vor Allem muss die gläubige Seele noch erst den Tod des Leibes dieser Sünde durchleben und durchsterben, um, losgelöst von diesem unpassenden Rahmen, in paradiesischer Abgeschiedenheit bei Christo zu sein und mit ihm aufs Innerlichste sich zu verbinden. Dann aber wird ein Tag kommen, wo der große Herr auch den nichtigen Leib auferwecken und der Seele verklärt wiedergeben wird, dass er ähnlich sei seinem verklärten Leib. Und dann wird er auch diese seufzende Erde verklären, dass die gottebenbildliche Seele in herrlichem Leib auf der neuen Erde lebe und webe in einer seligen Ewigkeit, von der auch noch das Wort der Zeit gilt: So lange Christus bleibt der Herr, wirds alle Tage herrlicher. Dann werden wir als die ganz Erlösten sein wie die Träumenden; dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Dann wird ein Stern es dem andern sagen und ein Seraph es dem andern erzählen: „Der Herr hat Großes an ihnen getan.“ Ja, der große Meister hat Großes an seinem Meisterwerk getan, des sind wir fröhlich.

Solche Erkenntnis des Wertes, den eine Menschenseele hat, hat selber freilich dann nur Wert, wenn sie die große Heilandsfrage zur brennenden Frage unsres Lebens macht, die Frage: Was hilft es dem Menschen, so er die ganze Welt gewänne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Das Wissen vom Wert der Seele ist selbst nur dann wertvoll, wenn es die große Sorge in uns wach ruft und wach erhält, die Seelsorge, die Sorge für die eigne Seele und für jede andre Seele, der wir im Leben begegnen. Ach, wie ist doch diese Sorge unter dem Geschlecht dieser Tage so rar geworden!

„Man sorgt, dass nichts dem Leibe fehle;
die Hütte schmückt man reich und schön;
doch die Bewohnerin, die Seele,
lässt man verschmachten und vergehn.“

Da sei Gott vor, dass uns das treffe. Nein, die wir wissen, dass eine Menschenseele Gottes Bild ist, wir wollen in besserer Art als weiland die Epheser, Pfleger sein des himmlischen Bildes. Wohl können wir das nicht sein durch eigene Vernunft und Kraft, aber wir können es durch den heiligen Geist. Beten wir alle Tage um den heiligen Geist, dass er eine Menschenseele nach der anderen, vor Allem unsere eigene, erneuere durch das Blut Christi und die erneuerte vorbereite, kräftige und stärke als ein feines, reines Bild Gottes, „dass dies Bild, rein und mild, schöner stets bei seiner Pflege an uns leuchten möge!“ Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/q/quandt/quandt_der_wert_einer_menschenseele.txt · Zuletzt geändert: von aj
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain