Krummacher, Friedrich Wilhelm - Salomo und Sulamith - Die Taube in den Felslöchern

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Salomo und Sulamith - Die Taube in den Felslöchern

Zweite Predigt.

Hohelied Salomons 3, 14.
Meine Taube in den Felslöchern, in den Steinritzen, zeige mir deine Gestalt, laß mich hören deine Stimme; denn deine Stimme ist süße, und deine Gestalt lieblich.

Süß ist die Stimme, die wir eben vernommen? Es ist die Stimme des Schönsten aller Menschenkinder; es redet der himmlische Bräutigam zur Sulamith, seiner theuer erkauften Gemeine - oder auch zu der einzelnen ihm im Glauben verlobten und angetrauten Seele. Viel süßer denn Milch und Honig sind die Worte, die aus seinem Munde fließen; und wenn die Braut späterhin einmal frohlockend ausruft: „Meines Freundes Lippen sind wie Rosen mit fließender Myrrhe triefend, und seine Kehle ist süß und ganz lieblich“ - so ist wohl nicht zu zweifeln, daß sie es thut in seliger Rückerinnerung an diesen Zuruf des Bräutigams, an die herzlichen Erquickungsworte: „Meine Taube in den Felslöchern, in den Steinritzen, zeige mir deine Gestalt, laß mich hören deine Stimme; denn deine Stimme ist süße, und deine Gestalt lieblich.“

Wir wollen die Worte näher betrachten. Möge der Herr auch uns, so viel unserer einen offenen Mund dafür haben, des süßen Wassers etwas in dieser Stunde zu kosten geben, das in dem Brünnlein jener Stelle reichlich quillet!

  1. Ruhe unsere Betrachtung zuerst auf der Taube in den Felslöchern.
  2. Und erwägen wir dann, was der Bräutigam will, wenn er der Taube zuruft: Zeige mir deine Gestalt, laß mich hören deine Stimme.

I.

„Meine Taube“ - redet der Herr die auserwählte Seele an. Er benennt sie öfter mit diesem süßen Namen. Kapitel 5 spricht Er: Thue mir auf, liebe Freundin, meine Taube - und an einer andern Stelle: Eine ist meine Taube, meine Fromme. Warum nun eine Taube? Etwa um des glänzenden Gefieders willen der Gerechtigkeit Christi, das sie decket? Wie es heißt Ps. 68: „Wenn ihr zu Felde lieget, so glänzt es als der Tauben Flügel, die mit Silber überzogen sind, und mit grünlichem Golde.“ Oder heißt sie so wegen des sanften Geistes Jesu, der in ihr ist - und welcher auch sich selbst einmal in Gestalt einer Taube sichtbar dargestellt? Oder wird sie eine Taube genannt um ihres Auffahrens willen über die Welt, wie es bei Mose heißt: „Ihr sollt oben schweben und nicht unten liegen?“ Freilich, dies alles gehört mit zu ihrer Taubengestalt. Aber wollten wir dem Bilde noch tiefer auf den Grund gehen - es würden sich der Vergleichungspunkte zwischen einer zum Herrn bekehrten Seele und einer Taube wohl noch mehrere, und vielleicht noch anziehendere und treffendere, auffinden lassen.

Es gibt kein wehrloseres Geschöpf, das Lamm etwa ausgenommen, als die Taube. Da ist nicht Zahn noch Klaue, nicht Huf noch Stachel - nur ein Paar Flügel zur Flucht; in der Flucht liegt ihre ganze Stärke und ihr Sieg. So - wir bekennen es, gereiche es nun zu unserer Ehre oder Schande - so steht es auch mit uns, die wir die Gnade haben, Christi Tauben zu sein. Die außer Christi sind, sind alle stärker. Ja was für Helden findet man unter denen nicht; Leute, die sich jedem Strauß und Kampf gewachsen glauben, die von Furcht und Scheu nichts wissen, die vor keinem Feinde zittern, vor keiner Gefahr erschrecken - und die bei Leibe nicht sich selbst den Schimpf anthun mögten, in irgend einer Lage sich nach Hülfe umzusehen. Die bezwingen Königreiche mit eigener Faust; die erlangen die Verheißungen wie einen Raub; mit der rechten Hand ihrer eigenen Gerechtigkeit verstopfen sie des Löwen Rachen; löschen aus mit selbst erworbener Tugend das Feuer des Gerichts, und entgehen des Schwerdtes Schärfe durch selbsteigene Klugheit und Gewandtheit. Das alles vermögen sie - als die Träumenden nämlich - in der Macht ihrer eigenen Stärke. Ja, was sind wir für feige, flüchtige Leute gegen jene Tugendstarken, die Sünde, Welt und Teufel - und wie die bitterbösen Feinde alle heißen - wie Brod zu fressen gedenken, während wir uns nicht schnell genug auf und davon machen können, wenn wir's von jener Seite her nur von fern brüllen oder zischen hören. Wir wagen keinen Kampf auf eigene Hand - so machen wir's nicht wie Andere, die alsdann sich bis auf's Blut abquälen, allerlei gute und ernste Gedanken und Vorstellungen in sich herauf zu rufen; oder zu andern selbsterwählten Mitteln greifen, und am Ende doch sammt ihren Mitteln, guten Gedanken und Vorsätzen, ehe sie's meinen, bis an den Hals im Schlamme liegen; sondern wir flüchten schnell zu dem, der unser Bürge ist. Und siehe, kaum haben wir sein blutig Haupt gesehen - kaum ein: „Herr Jesus!“ hingestammelt, so sind wir weiter schon, als jene mit allen Waffen ihres Eigenwillens und Eigenwirkens; der Sieg ist unser! Seht, das ist unsere Weise, Taubenweise. Wir lassen uns durchaus in keinen Kampf ein; wir suchen unser Heil nur einzig in der Flucht - und Jesus ist der Harnisch, der uns umhüllt; und der Schild, der uns deckt; und der Helm, der uns schirmet; und das Schwerdt, das für uns haut, und die Festung, die uns umfähet - verkriechen uns vielmehr hinter den Schild unseres Vorfechters, sobald zum Streit geblasen wird - während jene, unendlich glorreicher, jeden Beistand männlichstolz verschmähen, und sich selbst vertretend und vertrauend, in's Feuer der heißesten Versuchung hineingehen, als wären sie von Stahl und Eisen, und auch im Unterliegen noch den Ruhm festhalten, auf dem Kampfplatz, wenigstens auf dem Felde der Ehre - gefallen zu sein. Nein, auf solch ein Heldenthum thun wir Verzicht. Wir sind nicht solche Enakim, solche Riesen und Löwen. St. Paulus spricht freilich einmal von Panzern, Harnischen und Kriegesstiefeln, die wir anhätten; von einem Helm, der auf unserm Haupte blitze; von einem starken Schilde, den wir in der Linken, und von einem zweischneidigen Schwerdte, das wir in der Rechten trügen und schwängen; und darnach sollte man denn freilich wunder meinen, was für schreckliche und gewappnete Siegeshelden wir wären. Aber so ist's doch nicht gemeint. Wie man von einer Taube, wenn sie dem Geier in ihr sicheres Haus entflohen ist, und nun in guter Bedeckung sitzt auch wohl sagen könnte: nun hat sie Panzer und Schienen an wider den Feind, und ist bedeckt mit Helm und Schild: in gleichem Sinn wird auch von uns an manchen Stellen der Schrift gerühmt, daß wir gewaltige Leute seien, über und über gerüstet und schrecklich wie Heerschaaren. Unsere ganze Schrecklichkeit und Stärke aber liegt, wie die der Tauben, im Fliehen und im Zufluchtnehmen; denn wir sind wehrlos an und für uns selbst, und ist uns ergangen wie weiland Saul: die Philister haben uns die Waffen abgezogen, und unser Harnisch ist gelegt ins Haus Astaroth. Zischt nun irgend eine Otter satanischer Versuchung auf uns los, flugs jagen wir davon zu dem, der unser Haus und unsre Freistatt sein will - und da sind wir frei und sicher. Hören wir den Teufel brüllen, da hüten wir uns wohl vor eigenen Versuchen, ihn zu schlagen; wir wissen, wohin das führen würde - direct in seinen Rachen nämlich. Wir drängen uns an den Herrn Jesus heran - und da ist eine Feuermauer um uns her gezogen. Wird die Lust munter und wach in unserm Fleische - so machen wir's nicht wie Andere, die alsdann sich bis auf's Blut abquälen, allerlei gute und ernste Gedanken und Vorstellungen in sich herauf zu rufen; oder zu andern selbst erwählten Mitteln greifen, und am Ende doch sammt ihren Mitteln, guten Gedanken und Vorsätzen, ehe sie's meinen, bis an den Hals im Schlamme liegen; sondern wir flüchten schnell zu dem, der unser Bürge ist. Und siehe, kaum haben wir sein blutig Haupt gesehen - kaum ein: „Herr Jesus!“ hingestammelt, so sind wir weiter schon, als jene mit allen Waffen ihres Eigenwillens und Eigenwirkens; der Sieg ist unser! Seht, das ist unsere Weise, Taubenweise. Wir lassen uns durchaus in keinen Kampf ein; wir suchen unser Heil nur einzig in der Flucht - und Jesus ist der Harnisch, der uns umhüllt; und der Schild, der uns deckt; und der Helm, der uns schirmet; und das Schwerdt, das für uns haut, und die Festung, die uns umfähet.

Tauben, das wißt ihr, lieben ihren gewohnten Geburtsort. Und ob ihr zu dem geistlichen Taubenschwarm gehört wollt ihr das wissen? Forschet, wie euch zu Muthe ist in der Welt, wohl oder weh - daran könnt ihrs erkennen. Ist man eine Taube Jesu, aus ihm geboren, so ist einem wehe, eng und bange, allwo er nicht ist; das muß allezeit zutreffen; so kann man in weltlicher Gesellschaft und weltlichem Getriebe nimmer sein mit Lust und Behagen, als ob man da zu Hause wäre; sondern man ist daselbst mit Unruhe und Beklemmung - und das Herz kommt in eine Art Athemsnoth, und hebt die Flügel, das Weite zu suchen. Wie einem kleinen Kindlein gar bange wird unter fremden Leuten, und es nicht aufhört zu fragen, wo doch die Mutter sei, und wie einem Verbannten in der fremden Zone die Seele sich ausdehnt in unaussprechlichem Heimweh nach dem Lande, da er geboren ward, so ungefähr ist den Tauben Christi zu Muthe in der Luft dieser Welt. Nein, da können sie nicht leben noch ausdauern; sie müssen immer nach der Mutter fragen - und recht wohl ist ihnen nirgends, als in der Luft, die um Jerusalems Berge blaset. „In der Welt Habt ihr Angst,“ sagt Christus; das ist eins von den untrüglichsten Kennzeichen des Gnadenstandes.

Indem wir nun von Tauben sprechen, denkt vielleicht mancher unter euch auch an die bekannten Brieftauben des Alterthums - und meint, ob nicht die geistlichen Tauben der Art auch etwas wären? Ei ja - warum nicht? Sie wissen immer und von allen Selten her sich zu Hause zu finden - und haben freien Durchzug - und sind auch gern bereit, fremde Last und Botschaft mitzunehmen.

Als die feurigen Schlangen kamen über das abgöttische Israel, da wagte sich Israel selbst nicht hinauf vor Gott mit seiner Klage, sondern wandte sich an Mose, daß er sie vertrete; und siehe, Moses flog empor zum Hause des Herrn, und brachte Israels Jammer vor des Erbarmers Ohr; da war Mose die Brieftaube seines Volks. So flog David für Salomo, Loth für Zoar, Daniel für Jerusalem, und Hiob für seine Kinder mit Gebetsflügeln aufwärts, und brachten die Angelegenheiten derer, für die sie ausgeflogen, vor den Thron des Vaters. Und da Jerobeam den Mann Gottes ansprach: „Bete, daß meine verdorrete Hand wieder zurechte werde“ - und Darius die Juden ersuchte, daß sie für des Königs Leben bitten mögten - und Simon die Apostel anging, doch für ihn zu flehen, daß der Keines über ihn käme, daß sie gedroht hatten, da sollte der Mann Gottes, und die Juden, und die Apostel als Tauben gebraucht werden, die Sachen derer ins Vaterhaus zu bringen, die selber keine Flügel hatten. O ihr beschwingten Seelen alle, die ihr den Weg wißt nach Oben, und durch Christi Blut freien Ein- und Ausflug habt: verschmäht auch ihr es nicht, solch eine fliegende Post zu sein zwischen Himmel und Erde - und solche willige Zwischenträger zwischen euern Brüdern, denen noch Stimme und Flügel fehlen - und zwischen Gott! Schleppt nicht nur eure eigene Last - nehmt auch die fremde mit vor seinen Gnadenstuhl!

O, eine Taube Christi zu sein - zu Ihm als unserm Hause frei ein- und auszugehen; aus seiner Hand alltäglich und allstündlich die saubern Gnadenkörnlein und Brosamen der Barmherzigkeit zu essen, und sich tränken lassen aus den klaren Brünnlein Israels: fürwahr, das ist ein süßer Stand! Gott wolle unser aller Seelen in diese Taubenart, zu dieser Taubenweise hinüber bilden!

Sehen wir zurück auf unsern Text. „Meine Taube,“ spricht der Herr. Wo befindet sich diese Taube nun? Wo hat sie ihren Sitz? Ezechiel spricht einmal von Tauben, die tief unten in den Gründen sitzen, und alle untereinander kirren, um ihrer Missethat willen. Treffen wir da unsere Taube an? Nein. Früher mag sie da auch wohl gesessen haben, in der Asche - mitkirrend und mitächzend; nun aber ist sie aufgeflogen aus der dunkeln Thal - und Thränenschlucht, und weilet anderswo. Jesaias siehet einen ganzen Taubenschwarm aus weiter Ferne, wie Wolken herüber fliegen. Ist etwa unter diesen Fliegenden die unsere? Nein - unsere Taube ist zu den Fenstern schon eingekehrt, wohin jene erst wollen. Noahs erste Taube, wie ihr wißt, flatterte unstät hin und wieder über den Gewässern, und fand nicht, wo sie ruhen konnte. So flattern viele. Ist unsere Taube vielleicht wie Noahs Taube? Mit nichten. Unsere Taube hat gefunden, wo ihr Fuß ruhe - und schon den Oelbaum angetroffen, in dessen Krone sie sich niederlassen konnte. Unsere Taube sitzt - in den Felslöchern. „Meine Taube sitzt in den Felslöchern, in den Steinritzen“ - spricht der Herr.

Nun sehet doch einmal an das schwache wehrlose Vöglein, wie es da so stolz und sicher sitzet in seinem Felsen, wie ein König in seinem Schloß - wie ein Feldherr in seinem Lager, und bietet Trotz der ganzen Welt. Da schießt kein Jäger hinauf; kein Geier dringt in diese Wohnung ein; keine Schlange sprüht bis hieher ihr Gift; und wie auch tief unten im Thal die Wölfe untereinander heulen: die Taube lachet ihrer in ihrer Festung - und siehet getrost hinaus in das Getümmel. Die Wolken jagen darüber hin und donnern; aber das schreckt sie nicht. Die Blitze fahren kreuz und quer herum; aber der Felsen schmilzt in ihrem Feuer nicht. Der Sturm wirft Berge um und entwurzelt starke Bäume; aber das Haus, darin die Taube wohnt, ist festgegründet - das wankt und weichet nicht.

In den Felslöchern also wohnt die Taube. Laß nun das Naturbild zurückweichen, und richte es geistlich, so tritt statt des Felsen Christus vor dein Auge, der Fels des Heils - und statt der Felsenspalten stehest du seine blutigen Wunden - und in ihnen ruhend als Taube - die begnadigte, gläubige Seele. Fürwahr, die hat die rechte Ruhestatt gefunden! Nicht ihr, die ihr euch festgenistet in den dürren Reisern eurer eigenen Gerechtigkeit. Siehe, die Reiser werden verbrennen im Feuer des Gerichts - und ach! der arme Vogel mit. Nicht ihr, die ihr festhangt zwischen dem Laubwerk eures eigenen Frommseins, und davon euer Heil erwartet. Ach, glaubet nur, dieses Laubwerk wird wie Heu geachtet werden am jüngsten Tage, das in den Ofen geworfen wird - nicht aber als ein Grund, euch loszusprechen. Aber unsere Taube fand das Zoar; - nicht in sich; ach Gott! da war ja nur Fluchwürdigkeit, wohin sie sehen mogte. Nicht in eigenem Fühlen, Thun und Treiben; das war ja Alles in den Koth getaucht. Sie war so thöricht nicht, von den Ufern des todten Meeres Trauben lesen zu wollen. Sie fand das Lager ihrer Ruhe, und den Grund ihres Heils, und die Sicherheit für ihre Wiederbringung und einstige Seligkeit - außer sich, allein in Jesu Wunden, in seinem blutigen Verdienst und seinem Opfertode. Ihr Gemüth war so gerichtet und verfasset, daß sie sich gerecht wußte vor Gott, nicht um des neuen Lebens willen, das in sie eingegangen war; sondern allein von wegen des für sie vergossenen Blutes ihres Bürgen. Und das ist der Grund, der hält und bleibt, wenn Alles sinkt und weicht.

Wer nun also sein Heil auf die große vollgütige Satisfaction des ewigen Bürgen festgegründet, und sich mit seiner ganzen Hoffnung allein auf das Verdienst des wahren Osterlammes geworfen hat, und sich allein um Jesu willen gerettet weiß - von dem kann man wohl sagen: siehe da, eine Taube in den Spalten eines hohen Felsen - und in den Steinritzen! So sicher saß noch nie ein Fürst zwischen seinen Schanzen, Wällen und Mauern, wie diese Taube. Moses ist ein scharfer Schütze und sendet Flüche; aber hier mag er sein Geschoß nur ruhen lassen. Kein Bann haftet mehr an dieser Taube, kein Fluch ist da mehr anzubringen. Für sie herrscht nächtlich Schweigen auf Sinai und Ebal, und die wilden Feuerflammen sind erloschen im Blute des Mittlers. Satan ist ein verschmitzter Geselle; aber er schleiche nur um den Felsen her und brülle - die Taube faßt er nicht - er müßte denn den Felsen selbst verschlingen, darin sie wohnt. Und ob ihre Liebe matt würde - und ihr Glaube wie ein glimmend Döchtlein; ob ihr Eifer erkühlte, und ihr Herz trocken wäre, wie ein Sandfleck; sie sitzt doch wohl und sicher - denn, Gottlob! ihr Glaube, ihr Eifer, ihre Liebe sind nicht ihr Lager; ihr festes Schloß und ihre Burg sind einzig die gebenedeiten Wunden Jesu Christi. In diesem Rahmen ist sie immer schön vor Gott - in dieser Einfassung strahlt sie zu jeder Stunde, wie elend sie auch sei - als eine goldene Krone in des Herrn Hand. Und gesetzt, der Ewige wollte sie verzehren wie fressend Feuer; in diesem Palast ist sie stärker als Gottes Zorn, und überwindet den Ewigen in seinem Grimm. So ruf ich euch denn zu - euch allen, mit Jeremias Worten: „O ihr Einwohner Moabs, verlasset die Städte, und wohnet in den Felsen; und thut wie die Tauben, die da nisten in den hohlen Löchern!“

II.

Wir haben nun die Taube angeschaut in ihrer sichern Wohnung, wie sie alles Eigene verlassend und an sich selbst verzagend, in die Felskluft der Verdienste Christi sich verborgen hat Hört nun auch die Stimme des Bräutigams. „Meine Taube, ruft Er, meine Taube in den Felslöchern, in den Steinritzen, zeige mir deine Gestalt, laß mich hören deine Stimme; denn deine Stimme ist süß, und deine Gestalt ist lieblich.“ Was will der Herr mit diesen Zuruf? wie ist er zu verstehen, und welche geheime Absicht liegt ihm wohl zu Grunde? Laßt uns forschen. Ich glaube es zu ahnen.

Der Herr will die Gestalt seiner Taube sehen und ihre Stimme hören, weil ihre Stimme süß ist und ihre Gestalt lieblich. - Ihre Gestalt? Nun, das ist das Goldgefieder der ihr zugerechneten Gerechtigkeit Christi, das sie decket; das ist das neue Leben aus Gott geboren, das in sie eingegangen ist, die neue Kreatur in ihr, der Mensch des Lichts, dem die Welt zu enge worden ist - der Glaube, der sie durchdrungen hat, der Friede und die Stille, welche die begnadigte Seele überschüttet; ihre Erleuchtung, ihr himmlisch Sehnen und Verlangen, und ihr inneres, fortgesetztes, unwillkürliches Widerstreben gegen alle Finsterniß und Sünde, das Alles gehört zur Gestalt der Taube. Und ihre Stimme? Das ist ihr Flehen, Beten, Loben und Preisen, dies Räuchwerk alles miteinander, vom Heiligen Geistes-Feuer angezündet. Diese Stimme will Jesus hören - diese Gestalt will Er schauen. Wunderts euch, daß Ihn darnach gelüstet? Wie heißts Psalm 104, 31? „Der Herr, heißt's da, hat Wohlgefallen an seinen Werken.“ Er ist die einzige wahre Schönheit, und seine Belustigung besteht im Beschauen seiner Selbst und dessen, was von Ihm ausgeflossen. Die Seraphinen an seinem Thron sind seine Freude, weil Er in ihnen, als in klaren Spiegeln, sein eigen herrlich Bild erschaut. Aber noch lieber sieht Er's im dunkeln Grunde einer armen Sünderseele. Darum sagt Johann Angelus: „War' ich ein Seraphim, so wollt' ich lieber sein - dem Höchsten zu gefallen, das schnödste Würmelein.“

Ja freilich - die Morgensterne loben Ihn miteinander, auch wenn sie schweigen; und in wunderbarem Glanze wird an ihnen die Klarheit dessen sichtbar, der sie machte. Aber von allen Werken in der Welt lobt keins den Meister mit so lautem Schalle, als das Gnadenweg im Herzen eines abgewichenen Sünders ausgerichtet. In einer unerhörten Glorie erscheint da des Herrn Macht und Liebe. Denkt nur: ein fluchwürdiger Sünder wird plötzlich heilig; wie David sagt in einem Athen,: ich bin elend und arm - und bin heilig. Ein Knecht des Argen verwandelt sich in ein theures Gotteskind; ein verfinstertes Geschöpf wird Licht, wie die Sonne, weil kein Licht kommt; ein abgestorben Holz beginnt zu grünen und zu blühen - und in einem Sumpfe malt sich ab das Strahlenbild der heiligen Gottheit - und was der Wunder mehr sein mögen. Welch' eine Offenbarung der Herrlichkeit des Herrn! Welche Verklärung seines Namens, seiner unbeschränkten Macht und unausforschlichen Barmherzigkeit - es ist zum Erstaunen! Wie, sollte der Herr nicht seine Lust und Augenweide haben an solchen Werken seiner Hand? Er will es sehen, dieses Werk, und in demselben sich seiner selbst freuen. „Zeige mir deine Gestalt, und laß mich hören deine Stimme; denn deine Stimme ist süß, und deine Gestalt ist lieblich.“ Aber warum denn: „zeige mir deine Gestalt?“ warum denn: „laß mich hören?“ Was sagt der Bräutigam? Ist denn die Braut nicht gar zu ihm gewandt? Lebt und webt sie nicht in Ihm? Sieht Er sie nicht jeden Augenblick? Wie spricht er denn, daß sie ihre Gestalt erst zeigen soll? Er will ihre Stimme hören: Er hört sie ja ohne Unterlaß im Inwendigen ihrer Seele - diese Stimme, sie verstummt ja nimmer vor seinem Ohr? - Freilich - das ist Alles wohl wahr. Doch wisset: zuweilen gefällt es dem Herrn auch wohl, heraustreten zu lassen in die Erscheinung, was seine Gnade Großes im verborgenen Heiligthume der Seele ausgerichtet, theils um demjenigen, in welchem er sein Werk hat, dies Werk zu klarerem Bewußtsein zu bringen, und ihn zu desto größerem Lobe zu reizen; theils um den Engeln und der Welt ein köstlich Schauspiel zu bereiten, und seinen heiligen Namen vor ihren Augen zu verherrlichen. Zu diesem Zweck führt er dann die Seinen aus der lieblichen Beschattung der Palmen Elims wieder hinweg in die rauhe Wüste, und ruft sie aus der Stille , und der ruhigen Beschauung hinaus ins Leben, in mancherlei Gedränge, in Nacht und Dunkel, wo das Licht, das durch seine Gnade in ihnen ist, Gelegenheit hat, sein Dasein zu beweisen und herauszubrechen in die Sichtbarkeit. - Die schwere Prüfung, die er über Abraham verhängte, und der Befehl: „Gehe hin, und schlachte deinen Sohn, den du lieb hast,“ was war's wohl anders, als ein verstecktes: „Meine Taube, zeige mir deine Gestalt, und laß mich hören deine Stimme?“ Und siehe, die Stimme dieser Taube war süß und ihre Gestalt lieblich! Der Kampf mit Jacob - zu welchem Zweck geschah er doch? Ans Tageslicht sollt's treten, wie mächtig des Herrn Kraft in unsrer Schwachheit werden, und welchen Muth und welche Überwinderkraft Er in ein blödes, verzagtes Menschenherz legen könne; und siehe, die Gestalt auch dieser Taube trat auf das Lieblichste in die Erscheinung. Und das wisset denn, ihr geistlichen Tauben alle, wenn Jesus euch gleiche Wege führt, Nacht um euch her lagert, oder ein Reiserfeuer um euch her anbrennt; wenn Er euch aus eurem Lager weckt, und Laban auf euch hetzt von hinten her, und Esau von vorne; so sucht er nur damit Gelegenheit, sein Gnadenwerk in euch, theils selbst zu sehen - theils euch und Andern sehen zu lassen; und in der dunkeln Führung ergeht an euch der Ruf: „Meine Taube in den Felslöchern, in den Steinritzen, zeige mir deine Gestalt, laß mich hören deine Stimme; denn deine Stimme ist süß, und deine Gestalt ist lieblich.“

Was wir da gesagt haben, ist wahr. Ob sich das aber auch auf unsere Taube im Hohenliede anwenden läßt, ist eine andere Frage. Ich glaube nicht. Meines Bedünkens ist es hier nicht die Absicht des Herrn, diese Seele aus der Stille und dem beschaulichen Leben ins Gedränge herauszurufen, daß da, was durch die Gnade Schönes in ihr sei, an's Licht des Tages trete. Nein, eine unendlich liebreichere und süßere Absicht noch scheint mir's zu sein, die hier dem Ruf zum Grunde liegt: „Zeige mir deine Gestalt - laß mich hören deine Stimme.“ Ich denke mir's also: Die Seele, welche Jesus hier seine Taube nennt, ist zur Einsicht kommen in sich selbst und ihre Zerrüttung - und in die Tiefe des schauerlichen Abgrunds, an dessen Rande sie lange unbewußt geschlafen; sie hat von fern den Richterstuhl erblickt, und darauf den Herrn, wie ein fressend Feuer, und ihr Todesurtheil in seinem Munde: da ist Angst über sie kommen und Grauen, wie ein gewappneter Mann - da ist sie umher gezittert- von einem Ort zum andern, ob sie nicht wo eine Freistadt fände, und eine sichere Zuflucht vor dem Zorn für ihre arme, der Hölle verfallene Seele. Sie suchte, aber sie fand nicht, und die Wogen er Angst schlugen wilder und wilder über sie zusammen: da hat sich ihr der Mittler dargestellt. „Ich - hieß es - ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen, und gedenke deiner Sünden nicht!“ Dies hören - Ihn sehen und Ihn umfassen - war nur Eins; sie warf sich auf Ihn hin mit ihrer ganzen Hoffnung: und in seinem Verdienst, in seinen Wunden, fand sie die lange vergeblich gesuchte Freistadt und ihr Ruhelager. Da sitzt sie nun in ihren Felslöchern, froh - als ein Feuerbrand noch eben aus den Höllenflammen entrissen zu sein. Aber ihre Freude ist nicht ungemischt - ihr Gnadenstand noch nicht vollkommen; es liegt noch manches Trennende zwischen ihr und dem Herrn. Es lastet noch so viel Druck, so manche Beschwerniß auf ihrer Seele, daß es zum freien Jauchzen über die Gnade noch nicht recht kommen will. Bald fällt ihr der Gedanke an ihre große Unwürdigkeit wie ein Berg aufs Herz, daß sie ihre Augen nicht aufheben mag; sie kanns gar nicht begreifen, daß um ihretwillen der Mittler solcher Arbeit und Mühe sich sollte unterzogen haben. Die Wunden, die ihr Heil sind, sind ihr Schmerz. Bald peinigt sie die Furcht, sie möchte wieder in Sünden fallen, und wieder verlieren, was sie hat - und so mühet sie sich denn ab auf allerlei Weise mit Furcht und Zittern, gegen den brüllenden Löwen sich zu waffnen und zu sichern, der sie zu verschlingen droht; denn daß der, der sie gerettet, nun auch ferner für sie sorgen werde, - nein - das kann sie noch nicht annehmen - das, denkt sie im Gefühl ihrer Unwürdigkeit, das sei zu viel von Ihm verlangt; es sei ja schon genug, mehr als genug, daß Er sie gnädig aus dem Feuer riß. Der kindliche Muth zu Jesu fehlt ihr noch ganz; sie liegt gebeugt zu seinen Füßen - sie möchte danken und fühlt doch: „ach! was kann dem König unter seinen Seraphinen an meinem armen Dank wohl gelegen sein!“ Sie möchte beten und wagt doch kaum den Mund zu öffnen vor Ehrfurcht und meint, es sei ihr schon zu viel geschehen, als daß sie noch ein Mehreres verlangen dürfe. So ist ihr Stand, viel Furcht noch in der Freude, viel Druck noch auf dem Herzen; und ihr Verhältniß zu ihrem Heilande, es ist noch nicht das kindliche, das innige, freimüthige, in welchem so großes Heil, so reicher Segen ruht.

Und der Herr sah's wohl, wie seiner armen Taube eigentlich um's Herz war - und sah es theils mit Freude, theils mit herzlichem Bedauern. Er tritt hin zu ihr: „Meine Taube, redet er sie zärtlich an, um sie zutraulich zu machen - was denkst du? du wärest nur so eben entkommen und gerettet, und nun dürftest du weiter nichts mehr an mir haben, und meine Gnade sei erschöpft? Ei siehe, du weißt nicht, wie mein Herz zu dir stehet. Ich habe dich erlöset - ja wohl - aber meinest du etwa nur so, wie man eine gleichgültige Creatur erlöset, und dann seine Straße weiter ziehet? Nein - ich habe dich auch lieb, du gefällst mir: zeige mir deine Gestalt, deine Gestalt ist mir lieblich, ich habe Freude daran - verstumme nicht vor mir, sondern laß mich hören deine Stimme; ich höre sie gerne, sie ist mir süße; es liegt mir viel an dir, und es ist mir eine Herzensangelegenheit - vielleicht in höherm Grade noch als dir selbst - daß du bewahret werdest vor dem Argen, und das Werk, das in dir begonnen ist, zu deinem Heil und meiner Ehre und Freude sich vollende.“

Und als die Taube dies süße Liebeswort vernommen hatte, da mags erst recht zum Freuen und Frohlocken gekommen sein. - Hinweg war nun jedweder Druck, hinweg die letzte Last von ihrer Seele. Wie fühlte sie sich nun so frei in ihrem Herzen, in ihrem Muthe, und ihr Verhältniß zu Jesu war ein ganz anderes nun geworden, als zuvor; -es war fortan ein seliger, vertraulicher Verkehr, ein Verhältniß des Nehmens und Gebens, des freimüthigen Anklopfens, des kindlichen Begehrens, und des fortwährenden Empfangens, und an die Stelle der Furcht und Blödigkeit war nun die fröhlichste Zuversicht getreten; denn sie wußte jetzt: „es ist nicht mir an Christo bloß, es ist auch Christo was an mir gelegen.“ - Glückseliges Bewußtsein ,dies, in welchem Alles untergeht, was zwischen uns und unserer Lebensquelle noch trennend in der Mitte stand; - in welchem Alles gar vernichtet wird, was die völlige Hingabe und Überlassung unserer an den Besten aller Herren noch aufhielt und verhinderte, und was das freie Schöpfen aus seiner Gnadenfülle uns noch erschweren wollte.

O ihr Erlöseten des Herrn, die ihr, gleich unserer Taube, die rechte Freistadt durch Gottes Gnade auch schon gefunden, und eure Seele in den Fels geflüchtet habt, den Gott gelegt hat vor Anbeginn der Welt; die ihr jedoch zu jenem frohen, kindlichen Verkehr, zu jenem trauten und freimüthigen Umgang mit wenn Bürgen und Versichrer noch nicht gelangen konntet, und wohl den Retter schon in ihm umschlanget, allein den Freund noch nicht, noch nicht den Bruder und leutseligen Geleitsmann eures Lebens, der mit euch unter einem Dache wohnen, der euch in seinem Busen tragen, und einzig für die Seinen leben will, wie er für sie gestorben ist: möge denn auch euch in dieser oder jenen Weise bald die selige Versicherung werden vom Herrn, daß nicht bloß ihr an ihm, sondern daß auch er an euch ein großes Wohlgefallen habe, daß eure Gestalt ihm lieblich, daß eure Stimme ihm süße sei, viel süßer noch, als seine Stimme euch; damit auch ihr zu jenem seligen Johannes-Stande kommt, da man nicht mehr bloß als kaum entriß'ne Feuerbrände, noch mannigfach bedrückt und bänglich in seinen Wunden, sondern auch als freie, liebe Kinder vertraulich an seiner Brust gelagert ruhet, und in Erfahrung bringet, was David sagt Psalm 26, 8.: „Wie theuer ist Deine Güte, Gott, daß Menschenkinder unter dem Schatten Deiner Flügel trauen können.“ Amen.

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