Kapff, Sixtus Carl von - Predigt am 7. deutschen evangelischen Kirchentag zu Frankfurt a. M. den 26.9.1854

Kapff, Sixtus Carl von - Predigt am 7. deutschen evangelischen Kirchentag zu Frankfurt a. M. den 26.9.1854

Vorbemerkung.

Den Druck dieser mangelhaften Predigt haben Die zu verantworten, die ihn wiederholt verlangten. Ich schrieb sie in großer Eile erst an dem Tage, an dem ich sie Abends hielt und an dem ich Morgens den langen Vortrag über die Hazardspiele hatte und dann auch der Nachmittags-Versammlung anwohnte.

K.

Text: Joh. 13,34.
Ein neu Gebot gebe Ich euch, dass ihr euch untereinander liebet, wie Ich euch geliebt habe, auf dass auch ihr einander lieb habet.

Der Kirchentag hört auf, aber die Liebe höret nimmer auf, die Liebe zu den Brüdern und als ihre Quelle die Liebe zu Dem, zu dem wir rufen dürfen: O unser Bruder und unser Gott! Diese Liebe, in der die höchste Verheißung und das größte Gebot sich zusammenschließt, sie ist das Band der Vollkommenheit, das Gottheit und Menschheit, Himmel und Erde, Ewigkeit und Zeit verbindet. Und dieser Ewigkeits- und Himmelszug der Liebe ist unser Trost bei dem Schmerz des Abschieds von so Vielen, die wir längst liebten oder neu zu lieben lernten. Es hat uns so wohlgetan, in treue Bruderherzen hinabzuschauen durch die Augen, die mit uns hinaufblicken zur ewigen Heimat. Auch die irdische Heimat, das liebe deutsche Vaterland, ist uns dadurch wieder lieber geworden; wir haben gesehen, dass es doch noch ein einiges Deutschland geben kann, da so viele seiner Söhne aus allen Gauen, von der Nordsee bis zu den Alpen und von Russlands bis zu Frankreich's Grenzen, hier in der Bundesstadt sich zusammengefunden haben, als wirkliche Bundesglieder in Einigkeit des Geistes, in herzlicher Gemeinschaft der Liebe und des Glaubens, so dass wir wieder einmal etwas zu schmecken bekamen von der Herrlichkeit des Glaubensartikels „von der Gemeinschaft der Heiligen“, und getröstet wurden über so mancherlei Zertrennung in unsren Landen, auch über den Bruderzwist, der wieder und immer wieder dem Teufel zur Freude sich auftut und den Himmel zuschließen will vor Diesem und Jenem. Wir haben miteinander hineingeschaut in den Einen Himmel, in dem auf ewig beisammen zu sein wir uns sehnen, und es ist etwas auf uns herniedergeflossen aus dem Himmel, das uns aufs Neue geheiligt und tiefer untereinander vereinigt hat. Das nehmen wir mit und wollen auch in der Ferne einander die Hände reichen vor dem Gnadenthron unseres Gottes und Heilandes, und trachten, in Ihm dem Haupt je mehr und mehr zu wachsen, dass Er in uns lebe und wir in Ihm und dass wir mit seinem ganzen heiligen Leibe immer inniger zusammenhängen. Dazu wollen wir auch jetzt uns ermuntern und einen Abschiedssegen zu bekommen suchen durch die Betrachtung einer seiner Abschiedsreden, in der Er uns das große Gebot gegeben hat, wir sollen uns untereinander lieben, so wie Er uns geliebt hat. So sei unser Thema:

Lasset einander uns lieben, wie Jesus Christus geliebt hat.

  1. Er hat geliebt bis zum Kreuz und liebt uns noch auf dem Throne.
  2. Er hat geliebt auch die mancherlei Schwachen, auch Sünder und Feinde.
  3. Ihm nach wollen auch wir uns lieben mit heiliger Liebe.

O Jesu Christ, mein schönstes Licht,
Der Du in deiner Seelen
So hoch mich liebst, dass ich es nicht
Aussprechen kann, noch zählen,
Gib, dass mein Herz Dich wiederum
Mit Lieben und Verlangen
Mög' umfangen,
Und als dein Eigentum,
Nur einzig an Dir hangen. Amen.

I.

Wie Jesus uns geliebt hat, so sollen wir einander lieb haben, wenn wir seine Jünger und nicht bloße Namenchristen sein wollen. Er aber hat uns geliebt bis zum Tod am Kreuze und Er liebt uns noch täglich, obwohl er auf dem Thron der ewigen Herrlichkeit das Weltall regieret. Vom Thron und vom Kreuz blicken wir zurück auf die Krippe, denn da leuchten die ersten Strahlen seiner wunderbaren und unbegreiflichen Liebe uns an. Zwar sehen wir Ihn schon lange vorher als die ewige Weisheit, deren Lust von Anfang war, bei den Menschenkindern zu wohnen; wir hören von Ihm einen Ton in dem Schöpfungsruf: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei; wir sehen seine Liebe brennen in dem feurigen Busch, aus dem Er die Rettung seines Volkes dem Mose befahl; wir sehen seine mütterlich sorgende Liebe in der Wolken- und Feuersäule, und über den Cherubim der Stiftshütte und in den großen Verheißungen, die Er legte in den Mund seiner heiligen Propheten. Aber die Erfüllung von dem Allem und dass sein ganzes Heil uns gelte, wirklich uns, obwohl wir in Fleisch und Blut gehüllte Sünder sind, das geht doch erst an seiner Krippe uns auf als Heller Morgenstern nach langer Nacht.

Da liegt Er in seiner Krippen,
Ruft zu sich Mich und Dich,
Spricht mit süßen Lippen:
Lasset schwinden, lieben Brüder,
Was euch quält, was euch fehlt,
Ich bring' Alles wieder.

O, welch' eine Liebe ist das, die vom Thron der göttlichen Majestät herniedersteigt in die arme Menschheit, deren Sündenelend vor Gott verwerflich und vor allen Engeln verächtlich geworden ist. Welch' eine Liebe, die in all' unsre Armut und Schwachheit hereintritt, und das entbehrungsvollste, niedrigste Leben sich gefallen lässt in einer Demuth und Selbstverleugnung, die auf Alles verzichtet, was irgend groß und angenehm ist vor Menschenaugen! Und in dieser Armut und Niedrigkeit hat Er gelebt dreiunddreißig Jahre lang, dreißig in völliger Verborgenheit als geringer Handwerksmann, der zuerst irdische Häuser baute, ehe Er das himmlische uns aufschloss, und als Er dann an diese Geistesarbeit ging, wie hat Er in den drei Jahren seines Lehramtes sich's sauer werden lassen, da Er zu Fuß die Städte und Dörfer des Landes durchzog in Hitze, in Hunger, Durst und Müdigkeit, und wie hat Er überall die Ärmsten gesucht, die Verachtetsten aufgerichtet, große Schaaren von Leuten um sich versammelt, denen wir davon gelaufen wären, Kranke aller Art, Gichtbrüchige, Aussätzige, Krüppel, Blinde und Besessene, und allen hat Er geholfen, keiner war Ihm zu schlecht, oder zu gering und zu verachtet. Wo, wo in aller Welt ist eine solche Liebe?

Wenn einer unserer Könige oder Kaiser herabstiege von seinem Thron und verließe seinen Palast und ginge in eine Bauernhütte auf den Schwarzwald oder auf die Lüneburger Haide und lebte da zehn Jahre mit geringer Bauernkost und in harter Arbeit, um nachher seine Untertanen besser regieren zu können, wie würden alle Zeitungen und alle Geschichtsbücher ein solches Wunder von Herablassung und von selbstverleugnender Aufopferung preisen! Aber unendlich mehr hat der Herr Jesus getan. Er war nicht bloß König der Erde, sondern des Himmels, als der wahrhaftige Sohn Gottes, und doch diese Armut und Arbeit, nicht zehn Jahre, sondern dreiunddreißig, und dann nicht mit Lob und Ehre der Menschen zurück auf den Thron, sondern hin an's Kreuz, und welche Schmach und welche Qual hat Er da durchgemacht in jenen dunklen Stunden in Gethsemane, auf Gabbatha, auf Golgatha, da ein Engel vom Himmel Ihn trösten musste in seiner Seelenangst, da Er zitterte, sein Angesicht verspeien und mit Fäusten schlagen, seinen'. Rücken blutig geißeln und sein Haupt mit der Dornenkrone verwunden ließ, da Er wie ein Missetäter sich zur Hinrichtung schleppen und an das Fluchholz des Kreuzes sich mit Händen und Füßen annageln ließ und sechs fürchterliche Stunden lang alle Schmerzen des Leibes und alle Höllenangst der Seele bis zum Verlassensein von Gott erduldete unter dem Hohn und Spott seines Volkes. Das hat Er Alles für uns und uns zu gut getan, als unser Stellvertreter, der unsere Schuld und unsere Strafe auf sich nahm, damit wir das, was Er zeitlich erduldete, nicht ewig zu erdulden haben. Wo, wo in aller Welt ist eine solche Liebe?

O meine Freunde, wenn es euch oft scheinen will, ihr seiet in dieser kalten, selbstsüchtigen Welt von aller Liebe verlassen, blicket hin auf Golgatha, sehet da Den, der euch geliebt hat bis in den Tob und hat sein heiliges, göttliches Leben auch für euch dahingegeben. Und diese Liebe bleibt euch bis auf diesen Tag. Vom Kreuz auf den Thron erhöhet, hat Er nicht aufgehört, uns zu lieben und ruft aus seiner Herrlichkeit uns zu: Siehe, Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. Als der verherrlichte Hohepriester und König, der für die Seinen bittet und dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden, trägt Er uns auf seinem großen, liebevollen Herzen, sorgt für uns in allen unsern Nöthen und gibt uns im Geistlichen und Leiblichen, was wir bedürfen. Kein Vater, keine Mutter kann so zärtlich lieben, wie Er uns liebt, Niemand weiß so wie Er unsere kleinsten Bedürfnisse, Er kann sich in jede Lage und Stimmung eines Menschenherzens hineindenken, weil Er in Allem versucht war wie wir, nur ohne Sünde. O wie wohl tut es uns, einen solchen Freund im Himmel zu haben! So oft fühlen wir uns verwaist auf dieser armen Erde und fühlen, dass auch die liebsten Menschen uns das nicht sein können, was das sehnsuchtsvolle Herz bedarf, da ist es ein unbeschreiblicher Trost, zu wissen: droben auf dem Thron der Majestät ist ein Herz, das mich auch liebt und für mich sorgt und Alles mir zum Besten lenken wird. Und in diesem Glauben darf uns das nicht zurückschrecken, was so oft uns allen Muth nimmt, unsere Schwachheit, Armut, Sünde und Unwürdigkeit, denn

II.

der Herr Jesus hat geliebt und liebt noch auch die mancherlei Schwachen, auch Sünder und Feinde.

Die verschiedenartigsten Menschen sehen wir um Jesum und für alle hat Er ein Herz voll Liebe. Nicht nur den zarten Johannes, der Ihn am meisten verstand, hat Er geliebt, sondern auch den raschen, feurigen Petrus und Jacobus und Andreas, nicht nur die einfachen Fischer, auch den Zöllner oder Finanzbeamten Matthäus, nicht nur den Zeloten Simon und den altehrwürdigen Nathanael, sondern auch den Zweifler Thomas mit der melancholischen Seele, und selbst den Ischarioth, der Ihn hernach verriet, in dessen Herz Er schon die Keime zu solcher Tat sah, aber doch auch viel Gutes, um deswillen Er auch ihn zum Apostel machte in der Liebe, die Alles hofft.

In diesen zwölf Aposteln sind alle möglichen Individualitäten, Temperamente, Schwachheiten und Eigenheiten der menschlichen Natur repräsentiert - sie alle aber hat der Herr auf sein liebendes Herz genommen und drei Jahre mit ihnen gelebt, wie in einer Familie und täglich sich von ihnen üben lassen, obgleich er manchmal zu ihnen sagen musste: Du törichte, du ungläubige, du verkehrte Art, wie lange soll Ich bei euch bleiben? Dennoch blieb Er und blieb als ihr treuer Freund, während sie in der entscheidenden Stunde Ihn verließen, einer von ihnen Ihn verriet und sein Petrus gar Ihn verläugnen konnte. Auch da ließ Er ihn nicht, blickte ihn an und sprach damit zwar den ganzen Ernst, aber auch die ganze Zartheit und Innigkeit seiner heiligen Liebe aus. Und was sagte Er zum Verräter? Gab Er ihm einen Stoß, schleuderte Er ihm ein Wort der Entrüstung in's Gesicht? Mein Freund, warum bist du hergekommen - verrätst du des Menschen Sohn mit einem Kuss? - Das war Alles, was Er dem so tief Gefallenen sagte. O welch' eine Liebe, die Alles traget und Alles duldet, so lange sie irgend noch Gnadenzeit lassen kann.

Wie seine Jünger, so hat Er auch Andere getragen und geliebt, Leute der verschiedensten Art mit allerlei Schwachheit, nicht nur die Maria, die zu seinen Füßen saß, sondern auch Martha; Er hat sie zwar getadelt, weil sie zu sehr im Irdischen lebte, aber mit welcher Liebe und Sanftmut hat Er den tiefen Ernst, in dem Er zu ihr sprach, gemildert!

Und wie hat Er die Zöllner geliebt, die von den ehrbaren Leuten so verachtet waren, die Er am meisten hätte wegwerfen können, da Er in ihre unreinen Herzen hineinsah und ihre Betrügereien kannte. Dennoch saß Er mitten unter sie hinein und aß mit ihnen. O welch' eine Liebe!

Aber auch die Pharisäer, die ihn verachteten und hassten, auch sie hat Er nicht weggeworfen. So ernst Er ihnen die Wahrheit sagte, was ja auch nur Liebe war, so teilnehmend hat Er sich doch mit ihnen eingelassen, ist auf ihre Fragen, selbst wenn sie versuchlich waren, eingegangen, hat ihre falschen Ansichten berichtigt, sie belehrt und zum Himmelreich selbst den Weg ihnen gezeigt, wenn sie nur nicht ganz verstockte Leute waren. Welchen Eindruck seiner Liebe konnte Nikodemus hinwegnehmen, so gut wie der Zöllner Zachäus. Und selbst der reiche Oberste, der betrübt von Ihm ging, weil er seine Forderung zu hoch fand, wie mag das Angesicht Jesu ihm oft Nachts auf seinem Lager vor den Augen gestanden sein, wie wird der Eindruck der heiligen Liebe Christi ihn unruhig und beschämt gemacht haben? Und vollends Magdalena, und der heidnische Hauptmann, und das kananäische Weib, das nur ein Hündleins-Brosamlein von Ihm wünschte und das doch so große Liebe fand, ach, wie werden sie Alle ergriffen gewesen sein auf Zeitlebens von der unbegreiflichen herablassenden Liebe des Sohnes Gottes! Jesus nimmt die Sünder an und isst mit ihnen - dieser Vorwurf der Pharisäer wie schallt er als das herrlichste Lob uns entgegen!

Aber nicht nur Sünder hat Er geliebt, sondern sogar die, die offenbar seine Feinde waren. Was Paulus Röm. 5 sagt: Christus ist für uns gestorben, da wir noch Sünder, ja da wir noch Feinde waren, das sehen wir am deutlichsten eben da, wo Er starb, an seinem Kreuze. Da hatten sie, denen Er nichts als Gutes erzeigt hatte, Ihn an's Kreuz gehängt, und von Schmach bedeckt und von Schmerzen durchbohrt hing Er da zwischen Himmel und Erde. Und was sagt Er über diese Abscheulichkeit, vor der wir uns entsetzen? „Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun.“ Keine Klage, kein Vorwurf, keine Verwünschung! O welch' eine Liebe! Wo in der ganzen Weltgeschichte ist eine solche Liebe gegen Sünder und gegen Feinde!

Nun siehe, lieber Mensch, wer du auch bist, so hat der Herr Jesus auch dich geliebt; selbst wenn du unter die unwürdigsten Sünder, selbst wenn du unter die Feinde Christi dich zählen musst, so hat Er dich geliebt und auch für dich am Kreuze gebetet. Darum verzage nie an Ihm, und wenn du nirgends Ruhe und Rettung findest, nirgends Trost und Frieden, komme zu Ihm und fliehe in seine offenen Liebesarme und lass dir helfen durch seine unbeschreibliche Gnade, die Keinen hinausstoßen will, bei der alle Müheseligen und Geladenen Ruhe finden sollen für ihre Seelen. Und wenn schwere Leiden dich an seiner Liebe zweifeln lassen, so wisse, dass auch darin seine Liebe zu dir spricht, die durch solch' ernste Mittel nur das Heil deiner Seele sucht. So waren auch alle die ernsten Worte, die er zu Pharisäern und Anderen sprach, ein Ruf seiner Liebe zur Buße und zur Rettung aus dem Verderben. Selbst wenn Er die Geisel schwang über die Tempelschänder, wie eine solche auch heute Morgen hier geschwungen werden musste, es war Liebe gegen Versunkene Seelen, denen aus der Fäulnis des Verderbens nur durch das Salz heiligen Ernstes zu helfen war. Darum bedenke das Wort: Wen der Herr lieb hat, den züchtiget Er!

Aber der uns so hoch geliebt hat und noch liebt, darf Er nicht von uns verlangen, dass wir Ihn wieder lieben? O, wer in aller Welt ist der Liebe so wert, wie Er? Aber die Probe solcher Liebe ist die, dass wir

III.

uns unter einander lieben, wie Er uns geliebt hat. Zu Allem, was wir von seiner Liebe gegen uns vor unsre Seele stellten, ergeht nun der Ruf an uns: Gehe hin und tue desgleichen! Das sollte keiner weiteren Ausführung bedürfen. Doch will ich es auf einige besondere Beziehungen anwenden.

Es wird oft von Liebe gesprochen, aber wenig davon geübt. Man liebt mit schönen Worten und mit der Zunge, aber nicht mit der Tat und mit der Wahrheit. Man liebt über das Meer hinüber, aber im eignen Hause nicht. Ihr Geschwister, ihr Ehegatten, ihr Hausgenossen, ihr Nachbarn, wie steht's bei euch mit der Liebe zu Denen, die euch die Nächsten sind? Ihr schweigt, ihr schlagt die Augen nieder, ihr klagt über Die, die es euch eben täglich erschweren, zu lieben, als ob nur an ihnen die Schuld läge! Ach, seht Jesum an, seht, wie Er geliebt hat auch die ihn übten und beleidigten. Da müssen alle eure Klagen verstummen.

Was Andere an der Liebe hindert, das ist der Glaube. Der Glaube? ist denn der nicht die Wurzel der Liebe? Freilich ist er das. Aber wenn Einer nicht den rechten Glauben hat, wie kann man ihn lieben? So sagen jetzt gar Viele und setzen oft auch den rechten Glauben nicht bloß in den festen Bibelglauben, sondern verlangen bis aufs Einzelnste hinaus, dass man Alles glaube, grade wie sie, und wer nicht. Alles glaubt, grade wie sie, dem geben sie nicht die Bruderhand, den lieben sie nicht. So sind jetzt Viele in den deutschen Gauen nicht zu unserem Kirchentage gekommen, wir sind ihnen nicht konfessionell genug, oder sonst nicht streng genug in diesem oder jenem Stück. Lieben Freunde, die ihr so von uns ferne bleibet, sehet Jesum an, wie Er auch solche, die ihr gewiss als weit ferner von euch ansehen müsst, doch geliebt hat. Da ist der aussätzige Samariter, der Herr sagte nicht zu ihm: Werde ein Jude, dann will ich dich heilen, als Samariter hat Er ihn geheilt, und der Samariter gab Gott die Ehre mehr als die neun Juden, die nicht dankten für die Heilung. Da ist das samaritische Weib am Jakobsbrunnen und der Herr spricht mit ihr, so sehr die Jünger sich wunderten, dass Er mit ihr rede, ja Er ging gar in das Städtchen der Samariter hinein und wohnte drei Tage bei diesen Leuten, die von den Juden als Ketzer angesehen wurden. Was wollen all' unsere Unterschiede von lutherisch, reformiert, uniert heißen gegen der Kluft, die zwischen Samaritern und Juden Statt fand? Aber die Liebe Jesu hat diese Kluft ausgefüllt.

O kommt, ihr verschiedenartigen Brüder, lasst auch uns die Kluft ausfüllen, die noch durch Glaubensunterschiede unter uns besteht. Nicht wollen wir sie ausfüllen durch das Eis des Indifferentismus, nicht durch den Sand eitler Menschensatzungen, nicht durch die Erde leerer Vernunftgedanken, aber durch das heilige Bindemittel der Liebe, das vom Kreuze Jesu her stießt, dadurch wollen wir sie ausfüllen. Unsrem allerheiligsten Glauben wollen wir gewiss nichts vergeben und Jeglicher sei in seiner Meinung gewiss, auch keine Glaubensmengerei wollen wir und keine Liebe auf Kosten der Wahrheit, aber auch nicht Wahrheit ohne Liebe, lieben wollen wir Alle, die den Herrn Jesum lieben aus reinem Herzen, und wo wir in Glaubenssachen oder vielmehr in Sachen der Dogmatik uns noch nicht so recht vereinigen können, da wollen wir für und mit einander beten, und wollen denken: Droben im Himmel, da werden wir's besser verstehen, da werden wir nicht mehr stückweise dunkle Erkenntnis) haben über die Geheimnisse der unendlich großen und herrlichen Wahrheit, sondern Den, der die Wahrheit selbst ist, erkennen von Angesicht zu Angesicht, und dann wird Alles sich aufklären, und wie werden wir dann uns darüber schämen, wenn wir etwa hier auf dem Wege zu Einem Ziele zankten.

Ach, vielleicht sind wir gar nicht fern von diesem Ziele! Gestern war ich draußen auf dem schönen Gottesacker mit den vielen Gräbern, da auch mehrere frische offen stehen, da musst' ich denken, ach wie bald vielleicht legen sie auch mich hinunter in so ein tiefes, enges Ruhekämmerlein, und was ist dann Alles, das hier die Seele bewegt und oft mit so vieler Unruhe erfüllt hat! Und was wird dann bleiben, als die Liebe zu Ihm, dem ewigen Hohenpriester und König, und die Liebe aus Ihm und in Ihm zu Allen, die Ihm angehören! Darum steht auch auf so vielen Gräbern sein Kreuz - das liebste Zeichen, das aber Viele bloß aufs Grab setzen lassen, im Herzen aber haben sie's nicht, weil sie nicht Buße tun wollen für ihre Sünden, nicht sich bekehren von den toten Werken des Fleisches zu Ihm, dem einzig wahren Himmelsführer, ja der selber der Himmel ist.

Auch in der prächtigen Gemäldegalerie, die ihr hier habt, hat mir doch unter den vielen herrlichen Bildern, die man da sieht, nichts so tiefen Eindruck gegeben, wie das Bild des Gekreuzigten, der mit unendlicher Liebe sich geopfert hat für uns. O, dieses Bild möge unsre Herzen erfüllen und uns entleiden, was wir von Selbstsucht, Weltlust, Rechthaberei, Lieblosigkeit und Sünde aller Art an uns haben! Und sein heiliger Geist, als der Geist der Wiedergeburt und Erneuerung, gieße selbst seine Liebe aus in unsre Herzen und zeige uns täglich neu mit lebendiger Flammenschrift geschrieben sein Wort: Ein neu Gebot gebe ich euch, dass ihr euch unter einander liebet, wie ich euch geliebt habe. Es war ein neues Gebot, weil die ganze alte Welt von einer solchen Liebe Nichts wusste. Und es ist neu alle Tage, weil unser alter Mensch es immer wieder alt und vergessen machen möchte. Aber jeder Lichtstrahl des heiligen Geistes, der in eines Menschen Herz fällt, macht dieses nun schon 1800 Jahre alte Gebot des Herrn, das alle andern in sich schließt, so neu und lebendig, als ob es eben jetzt erst aus dem Himmel heraus erschallte in des Herzens Tiefen. Und wenn das heilige Feuer der Liebe, womit der Herr Jesus uns bis in den Tod geliebt hat, unsre von Natur liebeleeren Herzen entzünden kann, dann freuen wir uns, sein großes Gebot zu hören und zu erfüllen und stimmen ein in den Ruf des teuren Grafen Zinzendorf:

Hallelujah! welche Höhen,
Welche Tiefen reicher Gnad',
Dass wir Dem in's Herze sehen,
Der uns so geliebt hat!
Dass der Vater aller Geister,
Der der Wunder Abgrund ist,
Dass Du, unsichtbarer Meister,
Uns so fühlbar nahe bist!
Ach, Du holder Freund! vereine
Deine Dir geweihte Schaar,
Dass sie sich so herzlich meine,
Wie's dein letzter Wille war!
Ja, verbinde in der Wahrheit,
Die du selbst im Wesen bist,
Alles, was von deiner Klarheit
In der Tat erleuchtet ist. Amen.

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