Gerok. Karl - Vom christlichen Hausstande - 5. Predigt am 1. Sonntag nach dem Erscheinungsfest.
(1854.)
Ephes. 6, 1-4.
Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn; denn das ist billig. Ehre Vater und Mutter, das ist das erste Gebot, das Verheißung hat: auf dass dir's wohl gehe, und du lange lebst auf Erden. Und ihr Väter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn; sondern zieht sie auf in der Zucht und Vermahnung zum Herrn.
Ein kurzer Text, und doch könnte man viele Sonntage lang darüber predigen Vor- und Nachmittags. Ein altbekannter Text, und doch sollte man jedes Jahr ihn mehr als einmal neu einschärfen den Alten wie den Jungen. Ein unscheinbarer, einfacher Text, für Kinder verständlich, und doch hängt daran das Wohl und Weh von Tausenden, das Glück der Familien, der Staaten, der Welt, denn es ist ein wahres Wort: „von der Kinderstube aus wird die Welt regiert.“ „Von der Kinderstube aus wird die Welt regiert.“ Das ist nicht gemeint in dem schlechten, törichten Sinn, wie wir's auch schon erlebt haben, dass eine unreife, unvergorene Jugend sich herausnimmt, ins Weltregiment zu pfuschen, dass junge Leute, die kaum die Kinderschuhe zertreten haben und der Schulbank entwachsen sind, sich berufen glauben, das große Wort zu führen, Politik zu. treiben und Revolution zu machen. Wehe dem Lande, des König ein Kind ist, sagt Salomo, und dreimal wehe dem Volk, wo das Alter mit seiner Erfahrung und Weisheit sich meistern lassen muss von Buben. „Von der Kinderstube aus wird die Welt regiert.“ Nein, das ist so gemeint: in der Kinderstube werden die künftigen Geschicke der Welt vorbereitet; aus der Kinderstube gehen hervor die künftigen Männer und Bürger, die Hausväter und Hausmütter, die Herrschaften und Dienstboten, die Staatsbeamten und Gemeindeglieder, die in ein Paar Jahrzehnten die herrschende Generation ausmachen. Die Kinderstube ist also die Pflanzschule, aus der die Zukunft nachwächst, sie ist die Brunnenstube, aus der die Quellen hervorgehen, welche später das Land bewässern, um es entweder zu befruchten oder zu verwüsten.
„Von der Kinderstube aus wird die Welt regiert.“ Ist dem aber so, dann, meine Lieben, leuchtet wohl Jedem ein, wie wichtig die Frage ist: von wo aus wird die Kinderstube regiert und welcher Geist waltet darin? Wie sieht es aus mit unserer Kinderzucht? Wie wird die Kindespflicht geübt, wie wird der Elternberuf erfüllt in unsern Häusern? Heute Morgen im Evangelium sahen wir fromme Mütter zu Jesu kommen, um sich Seinen Segen zu erbitten auf die lockigen Häupter ihrer Kindlein; in der Abendlektion kommt umgekehrt der Herr gleichsam zu uns oder schickt seinen Apostel uns ins Haus, um nach unserer Kinderzucht zu sehen und ein ernstes Wort der Mahnung zu sprechen an Alt und Jung. Ach, meine Lieben, wenn der Herr Jesus selber mit Seinem Antlitz voll Gnade und Wahrheit, oder wenn der Apostel Paulus mit seiner ehrwürdigen Gestalt heute einen Umgang hielte in unserer Stadt, anklopfte an unsere Türen, hineinblickte in unsere Familien, fände er da wohl mehr Ursache zur Freude oder zur Klage, zum Lob oder zum Tadel, zum Segnen oder zum Richten? Und ist unter uns hier auch nur Eines, dem sein Herr im Himmel und sein Gewissen in der eigenen Brust nichts zu sagen hätte in Absicht aufs vierte Gebot und was dran hängt? Ich glaube nicht und kündige daher euch in dieser Stunde an:
einen Hausbesuch des Apostels in Sachen der Kinderzucht; dieser Hausbesuch gilt
- den Kindern,
- den Eltern.
O selig Haus, wo man die lieben Kleinen
Mit Händen des Gebets ans Herz Dir legt,
Du Freund der Kinder, der sie als die Seinen
Mit mehr als Mutterliebe hegt und pflegt;
Wo sie zu Deinen Füßen gern sich sammeln
Und horchen Deiner süßen Rede zu,
Und lernen früh Dein Lob mit Freuden stammeln,
Sich Deiner freu'n, Du lieber Heiland, Du!
Ein Hausbesuch des Apostels in Sachen der Kinderzucht wird uns heute angesagt. Er gilt
1)
den Kindern. „Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn, denn das ist billig. Ehre Vater und Mutter, das ist das erste Gebot, das Verheißung hat: auf dass dir's wohl gehe und du lange lebst auf Erden.“ Mit dieser väterlichen Mahnung wendet sich der Apostel Paulus an die christliche Jugend hier in unserer Stadt wie einst in Ephesus, und hält ihr vor das vierte Gebot mit seiner Verheißung.
Das Gebot zuerst. „Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn, denn das ist billig.“ Dass das „billig1)“ ist, dass das nicht nur Gottes Wort verlangt, sondern auch Vernunft und Gewissen gebeut, dass das nicht nur das Christentum fordert, sondern dass es auch unter Heiden gilt, dass dafür nicht nur eine Stimme vom Himmel spricht, sondern schon die Stimme der Natur in unserer eigenen Brust: die Kinder sollen gehorsam sein ihren Eltern, die Jugend soll dienen und nicht befehlen, soll Vater und Mutter erfreuen durch Zucht und Folgsamkeit, nicht aber sie betrüben durch Undank und Ungehorsam: das wird Niemand von uns leugnen. Dass es also nicht nur unchristlich, sondern auch unmenschlich, ja unnatürlich ist, wenn ein Kind der Mutter trotzt und vergisst, wie sauer es ihr geworden ist, wenn ein Sohn des Vaters spottet und verachtet ihm zu gehorchen, dass es demnach nichts Schweres, nichts Unbilliges, nichts Neues, nichts Unerhörtes ist, was wir von unserer Jugend verlangen, wenn wir ihr zurufen: ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn, sondern nur das Allernatürlichste, von selbst Verständlichste, das ist wohl klar. Aber dieses natürliche Sittengebot bekommt für eine christliche Jugend einen noch viel tieferen Grund, eine noch viel höhere Weihe durch den Beisatz: seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn,“ d. h. um Gotteswillen und im Aufblick zu Ihm, dem Heiligen und Allwissenden. Nicht nur eure Eltern verlangen's, nicht nur euer eigenes Herz fordert's, der große Gott im Himmel selbst gebeut's: ehre Vater und Mutter. Er selber, der himmlische Vater, steht gleichsam hinter euren menschlichen Vätern und Müttern. Er ist's, der euch aus ihren Augen anblickt, durch ihren Mund ermahnt, mit ihrer Hand segnet; Er ist's, den ihr in ihnen fürchten, lieben und ehren sollt. Was ihr an ihnen sündiget, damit betrübet ihr nicht nur das Vater- und Mutterherz, nein, damit beleidigt ihr den großen Vater im Himmel und betrübet seinen heiligen Geist, und in hundert Fällen wird man sagen können: wie ein Kind mit seinem Vater und mit seiner Mutter auf Erden steht, so steht es mit seinem Gott und Heiland im Himmel. Also wohlbegründet ist's, das Gebot: Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn, es ist so alt als die Welt und steht so fest als Gottes Wort. Aber wie steht's nun mit seiner Anwendung? So billig es ist, das vierte Gebot: wenn der heilige Apostel heute einen Umgang hielte in unseren Häusern, müsste er nicht manchem Sohn und mancher Tochter mahnend, warnend, strafend zurufen: ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn, denn das ist billig! Ach man braucht kein heiliger Apostel, man braucht nur ein redlicher Mann zu sein, der es gut meint mit der Menschheit, um zu erschrecken, um mit gerechtem Unwillen erfüllt zu werden beim Anblick der Unbotmäßigkeit und Zuchtlosigkeit eines großen Teils unserer heutigen Jugend. Schon bei den kleinen gibt's da zu klagen. Wenn man heut Abend eine Rundreise machte durch alle Kinderstuben unserer Stadt, würde man da lauter Liebliches zu sehen bekommen: glückliche Mütter mit frommen Kindern auf dem Schoß, zufriedene Väter im Kreise wohlgeratener Söhne, Kinder, die der Heiland segnen kann, wie die Kinder im heutigen Evangelium, Kinder, die ihren Eltern untertan sind, wie der Jesusknabe in der Hütte zu Nazareth? Würde man nicht da und dort von Weitem schon in einem Haus wüstes Geschrei hören und trotziges Geheul, und wenn man einträte, wie manchen Sohn würde man finden, der tückisch widerbellt gegen des Vaters Gebot, wie manche Tochter, die der Mutter spitzige, unartige Worte gibt! Und wenn man sich dann hinsetzte zu den Eltern und weiter fragte, o wie viel Klagen bekäme man da zu hören, ja wie viel Tränen bekäme man zu schauen über ungeratene Kinder, bei denen kein Ernst und keine Liebe etwas fruchtet, über böse Buben, deren keine Mutter und kein Vater, kein Lehrer und keine Obrigkeit mehr Meister wird, über eine leichtsinnige, eigensinnige, lügnerische Jugend, die sich nicht will ziehen lassen und aus der Art schlägt wie ein wildes Reis!
„Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn!“ O könnte man das hineinrufen in jede Kinderstube, mit warnend aufgehobenem Finger, mit einer Stimme, als käme sie vom Himmel herab! Ist etwa hier ein liebes Kind, das Vater oder Mutter heute zur Kinderpredigt mitgebracht hat in die Kirche: höre es, lieber Sohn, höre es, liebe Tochter, was dir Vater und Mutter schon oft gesagt haben daheim, das sagt dir auch der Prediger auf der Kanzel, das sagt dir auch der liebe Gott im Himmel: ihr Kinder seid gehorsam euren Eltern. Und wer unter euch Eltern daheim ein Kind hat, bei dem's angelegt ist, o dem sagt's heute Abend, wenn ihr's zu Nacht beten lasst: heut hat man in der Kirche von dir gepredigt, ein Sprüchlein gepredigt, das du lernen musst und behalten musst; das heißt: „Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn, denn das ist billig.“
Aber nicht nur den Kindern in der Kinderstube gilt dieser Spruch und gilt der Hausbesuch des Apostels, nein, auch der reiferen Jugend, die man nicht mehr daheim trifft am Kindertisch, auch den Heranwachsenden Söhnen und Töchtern unserer Stadt geht der Apostel nach auf ihren Jugendwegen und blickt ihnen forschend ins Auge und ruft ihnen warnend zu: ihr Kinder seid gehorsam euren Eltern! Unser seliger Helfer Hofacker begegnete einmal auf der Straße einer Tochter, die er ein paar Jahre vorher im Konfirmationsunterrichte gehabt und seit der Konfirmation nicht mehr gesehen hatte, grüßte sie, stellte sie und redete sie an mit den kurzen Worten: Gehst du auch einen geordneten Gang? Und vor diesen paar Worten erschrak das Mädchen bis ins innerste Herz. O liebe Söhne und Töchter, wenn ihr so geputzt einherschreitet durch die Straßen unserer Stadt, wer weiß, was für Eitelkeiten im Kopf, würdet ihr vielleicht auch erschrecken, wenn einer eurer früheren Lehrer und Seelsorger euch stellte, euch ins Auge schaute, euch ins Herz griffe mit der Frage: gehst du auch einen geordneten Gang? bist groß worden, bist schön worden, kommst stattlich daher, kaum kennt man dich mehr; aber, aber gehst du auch noch auf rechtem Pfad? denkst du noch an deinen Konfirmationsdenkspruch? bist du noch ein folgsamer Sohn? bist du noch eine gehorsame Tochter? Und nun bedenkt's: nicht ein menschlicher Beichtvater bloß - dem könnt ihr zur Not aus dem Wege gehen - nein ein himmlischer Seelsorger und Seelenfreund, euer Heiland Jesus Christus, der stellt sich euch so oft in den Weg, während ihr dahineilt euren Unterhaltungen und Vergnügungen und Gesellschaften zu und blickt euch mit Seinem treuen Hüterauge tief hinab bis auf den Herzensgrund und fragt euch mit Seiner lieben Hirtenstimme: mein Kind, gehst du auch einen geordneten Gang? wandelst mir auch auf dem schmalen Pfad? ehrst mir noch Vater und Mutter? „Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern!“ O das gilt ja nicht nur den Kleinen, das gilt doppelt und dreifach der heranwachsenden Jugend. In den Jahren, wo die Versuchung am größten ist von innen und von außen, da gilt es ja mehr als je: vergesst nicht die Lehren eines treuen Vaters, gedenkt an die Ermahnungen einer frommen Mutter; ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern, auch wenn sie euch nicht mehr hüten können auf jedem Schritt und Tritt, auch wenn ihr weg seid aus dem Vaterhaus, im Dienst, in der Lehre, in der Fremde, auf der hohen Schule, ja wenn Vater und Mutter schon im Grabe liegen und das Gras auf ihrem Hügel wächst, seid ihnen doch noch gehorsam, ihr Kinder, denket an ihre Lehren, stellt euch ihr liebes Bild täglich vor Augen und es wird euch wie ein Schutzengel umschweben auf gefahrvollen Wegen. Ja noch weiter ins Leben hinein geht uns der Apostel nach mit dem vierten Gebot, noch ins reife Mannesalter kann Einem mahnend und strafend der Ruf ins Ohr klingen: ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn, denn das ist billig. Kommt einmal mit mir ins Gefängnis hinaus, in jenes große, steinerne Haus, das so trübselig vor der Stadt draußen im Felde liegt mit seinen hohen Mauern und schmalen Fenstern. Dort sitzt in enger Zelle ein gefesselter Mann. Von der Sonntagssonne dringt kaum ein schmaler Streif durch sein Fenster ein, die Kirchenglocken tönen wehmütig aus der Ferne zu ihm herüber. Und diese Glockentöne tragen ihn im Geiste zurück in vergangene Zeiten, ernste Gedanken führen ihn rückwärts auf den Irrpfaden seines Lebens bis zu der Frage: wie bist du denn so weit gekommen, wo hat dein Unglück angefangen? und er muss sich selber sagen: ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn, denn das ist billig. Da liegt mein Unglück, da liegt die Wurzel meines Übels; ich war ein böser Bube, ein ungehorsamer Sohn. Ich habe des Vaters gespottet und der Mutter verachtet zu gehorchen, und so kam ich in den Leichtsinn und vom Leichtsinn ins Verbrechen, und vom Verbrechen ins Elend, in die Schande, hinter diese steinernen Mauern. Seht, dem hat der Apostel auch einen Hausbesuch gemacht mit seinem vierten Gebot.
Und so könnte er noch an manches Mannes Tür klopfen mitten in unserer Stadt. Dort in jenem Haus, warum will es dem Manne nicht gelingen mit all seinen Planen, warum ist kein Segen bei seiner Arbeit und kein Gedeihen bei seinem Geschäft? Ach, er hat's an seinem Vater verdient und an seiner Mutter verschuldet, die unter dem Boden liegen. Des Vaters Segen bauet den Kindern Häuser, aber der Fluch der Mutter reißt sie nieder. Und jener dort, warum erlebt er an seinen Kindern nur Kummer und Herzeleid? O, nicht Jeder unglückliche Vater, aber doch mancher, wenn er zurückdenkt um zwanzig, dreißig Jahre, so muss er vielleicht doch bekennen: ich hab's einst meinen Eltern auch nicht besser gemacht; was ich gesät, das muss ich nun ernten.
Ja, meine Lieben, tief ins Leben klingt es nach und wirkt es nach: Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern, denn das ist billig. Und das hat uns schon hinübergeführt zu dem Andern, was der Apostel den Kindern vorhält, zu der Verheißung: „Ehre Vater und Mutter, das ist das erste Gebot, das Verheißung hat: auf dass dir's wohl gehe und du lange lebst auf Erden.“ Nicht leicht ist Fluch und Segen schon in dieser Welt so augenscheinlich oft an ein Gebot gekettet, als an dieses. Nicht nur die Schrift zeigt uns das in lieblichen und abschreckenden Beispielen, an einem Josef, Samuel, Tobias, und wieder an einem Hophni, Pinehas und Absalom; täglich kann man's erleben und mit Augen schauen: des Vaters Segen baut den Kindern Häuser, aber der Mutter Fluch reißt sie nieder. An wie manchem Grab eines frühzerstörten Jünglings darf man's zwar nicht laut sagen, aber muss es im Stillen denken: hättest du Vater und Mutter geehrt und ihre Warnungen nicht verachtet, so hättest du nicht so hineingehaust auf dein Leben, so wäre auch an dir die Verheißung erfüllt worden: dass du lang lebst auf Erden. An wie manchem Lebenslauf kann man's mit Fingern nachweisen: der schleppt seiner Mutter Fluch wie ein schweres Bleigewicht nach an seinen Füßen, darum wird ihm sein Fortkommen so schwer. Ach, und wenn's auch nicht so grell an den Tag tritt im äußeren Leben, das innere Gericht bleibt doch nicht ganz aus; wer an seines Vaters oder an seiner Mutter Grab mit dem Gedanken stehen musste: wehe mir, ich habe dir das Leben verbittert, ich habe dir deine Tage verkürzt, ich habe dein graues Haar mit Kummer in die Grube gebracht, fürwahr, der trägt einen Stachel in der Seele, der ihn nie mehr ganz froh, ganz glücklich werden lässt auf Erden. Aber ein guter Sohn, dem des Vaters Wort mehr galt, als die Lockungen und Spottreden leichtfertiger Kameraden, eine liebreiche Tochter, die gerne an der kranken Mutter Bette sitzt, während ihre Gespielinnen die Nacht durchtanzen, eine fromme Magd, die ihren sauer verdienten Lohn heimschickt an ihre armen Eltern, ein junger Tobias, der auf der Wanderschaft den Spruch fein im Herzen behält, den der Vater ihm mit auf den Weg gegeben, ein edelfühlender Josef, der auf der Höhe des Ruhms und der Macht dankbar und demütig seines alten Vaters gedenkt und ihm seinen Lebensabend erheitert, das sind Gestalten, über die Engel und Menschen sich freuen müssen, das sind Kinder der Verheißung, auf denen Gottes Gnade sicherlich ruht und die der Eltern Segen unsichtbar, wie mit Engelsfittigen, umschwebt auf ihren Wegen, seien sie oft auch rau und dornenvoll.
„Ehre Vater und Mutter, das ist das erste Gebot, das Verheißung hat.“ Ach, und wenn wir denken, dass nicht nur für unsere Jugend selber die Verheißung eines glücklichen Erdenlebens, ja einer seligen Ewigkeit, an diesem Gebote hängt, sondern dass für unser ganzes Volk die Aussicht einer besseren Zukunft geknüpft ist an das Gebot: Ehre Vater und Mutter; wenn wir erwägen, dass nur dann wieder bessere Zeiten kommen können für unser Volk, wenn uns wieder eine bescheidene, folgsame, fromme, tüchtige Jugend heranwächst; wenn wir hineinsehen in den Abgrund des Verderbens, dem wir entgegen gehen durch die Verwilderung und Verdorbenheit eines Geschlechts, das ohne Zaum und Zügel, ohne Glauben und Religion, ohne Scheu vor Gott und Menschen heranwächst, dann wahrlich müssen wir nicht nur allen Denen, die noch ein Ohr haben zu hören, es ins Herz rufen, so ernst und dringend als möglich: Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern! sondern dann müssen wir auch flehende Hände und betende Herzen emporheben zu Dem, der selbst den verlorenen Sohn noch heimrufen kann ins Vaterhaus, und bitten für unsere Söhne und Töchter:
Nimm ihre Seelen, Herr, in Acht, Beschirme sie mit Deiner Macht,
Dein Engel lagre sich um sie, Damit sie Dich verlassen nie!
Und hat sich eins vom Weg verirrt, Dem rufe Du, o treuer Hirt,
Und führ es von des Abgrunds Rand Zurück an Deiner starken Hand.
2)
Aber, Geliebte, soll es besser werden mit unserer Jugend, dann müssen auch wir Eltern unsere Pflicht tun mit doppelter Treue, und darum gilt auch den Eltern der heutige Hausbesuch des Apostels in Sachen der Kinderzucht. Ihnen ruft er zu: „Ihr Väter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn, sondern zieht sie auf in der Zucht und Vermahnung zum Herrn.“ Lasst euch darüber, nach Allem, was ihr heute Morgen schon gehört habt, nur noch weniges sagen. Es handelt sich um die zwei Fragen: was sind wir unsern Kindern schuldig? und: wie können wir unsere Schuldigkeit an ihnen tun? Aufs erste antworte ich: zieht eure Kinder zum Herrn, und aufs zweite: lasst euch von euren Kindern ziehen zum Herrn.
Zieht sie zum Herrn; dazu gehört vor Allem, dass ihr sie zu euch hinzieht mit herzlicher Liebe, dass ihr sie nicht zum Zorn reizt, d. h. nicht scheu macht durch unbarmherzige Härte, nicht zu euren Anklägern macht durch leichtsinnige Verwahrlosung. Meine Lieben! wenn der Apostel Paulus anklopfte heut oder morgen oder wann ihr wollt, an den Türen unserer Kinderstuben: würde er wohl die Eltern alle auf ihrem Posten finden? O in wie manches Haus würde er eintreten, wo die Kinder verwahrlost herumlaufen wie Schäflein, die keinen Hirten haben, und wenn er dann fragte: Kindlein, wo ist euer Vater? so würde es heißen: der ist im Wirtshaus. Kindlein, wo ist eure Mutter? die ist in der Visite. Kindlein, wo ist eure Kindsmagd? die schwatzt unter der Haustüre, weil die Mutter fort ist. Arme Lämmer, die so verwildern und verkommen an Leib und Seel! Gewissenlose Eltern, die so des kostbaren Schatzes hüten, den der Vater im Himmel ihnen anvertraut! Meint ihr nicht, die Engel eurer Kinder werden euch verklagen vor dem Thron des allgerechten Gottes? Meinet ihr nicht, diese armen, verwahrlosten, verliederlichten Kinderseelen werden einst zürnend in der Ewigkeit auf euch deuten und sprechen: hätt ich einen Vater und eine Mutter gehabt, ich wäre nicht so geworden! Aber ich hatte keine! Väter, Mütter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn durch leichtfertige Verwahrlosung!
Auch nicht durch unbarmherzige Härte. Wir kommen mit unserem Apostel vor eine andere Tür. Da hören wir von außen schon jämmerliches Geschrei. Da sehen wir inmitten der Stube einen fluchenden Vater mit geschwollener Zornader auf der Stirn, mit geschwungenem Stock in der Hand und in den Ecken verkriechen sich wimmernde Kinder. Was tust du Vater? „Ich ziehe meine Kinder. Zur Zucht gehört die Züchtigung.“ Hast Recht. Der Vater im Himmel selbst, welchen er lieb hat, den züchtigt er. Nur dass die Züchtigung eine väterliche sei. Aber wenn du nur aus Zorn schlägst, statt aus Liebe; wenn du nur unvernünftig zuhaust, statt weise zu warnen und milde zu vermahnen; wenn du nur alle paar Wochen einmal zufällig ein Hagelwetter von Schlägen über deine Kinder ergehen lässt und dann wieder vierzehn Tage dich nicht nach ihnen umsiehst; wenn du gar nur deine schlechte Laune, deinen Zorn über irgend etwas Widriges, das dir widerfahren ist, tyrannisch an den unschuldigen Kindern auslässt, ist das eine väterliche Züchtigung? Oder wenn du für dein armes Kind Tag für Tag nichts hast als Scheltworte und Schläge, nie einen freundlichen Sonnenblick väterlicher Liebe, nie ein herzliches Wort der Teilnahme, wenn dem armen Wurme die kurze Rosenzeit der Kindheit verkümmert wird mit täglichen Donnerwettern des Zorns und Hagelwettern von Schlägen, wenn die bleiche, verschüchterte Kreatur, die doch nichts dafür kann, dass sie da ist, alle Tage fühlen muss: ich bin dem Vater eine Last oder der Mutter ein Dorn im Aug - ach, ihr Eltern, könnt ihr das verantworten? Denkt an die schauerliche herzzerreißende Geschichte, die neulich vor einem unserer Schwurgerichte verhandelt ward, von dem Vater, der sein Kind langsam zu Tode quälte, schlug und hungerte - wahrlich, der Kindermord zu Bethlehem schneidet uns nicht so ins Herz, als so ein langsamer Kindermord durch tägliche Misshandlung. Nicht Alles dergleichen kommt vors Schwurgericht, aber Alles kommt vor Gottes Stuhl. Väter, Mütter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn!
„Sondern zieht sie auf in der Zucht und Vermahnung zum Herrn.“ Seht da, was ihr weiter euren Kindern schuldig seid, als christliche Eltern. Nicht nur, dass ihr sie an euch zieht mit herzlicher Liebe, sondern auch, dass ihr sie zum Herrn zieht mit heiligem Ernst. Wenn unser Apostel heut in ein Haus träte und fände da Eltern, die ihr Kind mit törichter Affenliebe verzärteln und verziehen, in jeder Unart eine Liebenswürdigkeit, in jeder Torheit einen Geniestreich sehen, meint ihr, er würde sie loben? meint ihr nicht, er würde sie mahnen an das alte Sirachswort (30,9.): Zärtle mit deinem Kinde, so musst du dich hernach vor ihm fürchten! Nein, törichter Vater, nein, schwache Mutter! nicht ein Spielzeug hat euch Gott in eurem Kinde geschenkt, um damit zu tändeln, nicht ein Engelein und Erzengelein, um es zu vergöttern, sondern ein schwaches, sündhaftes Menschenkind, in dem der Keim zu allem Guten liegt, aber auch die Anlage zu allem Bösen; das ihr ziehen sollt für den Himmel, „aufziehen in der Zucht und Vermahnung zum Herrn.“ Siehe da, was der tiefste Grund und das höchste Ziel aller christlichen Kinderzucht sein muss: die Furcht und Liebe des Herrn. Und wenn du unserem Apostel einen Sohn vorführst, der noch so geschickt wäre in allen Fächern des Wissens, der Erste in der Schule, der Liebling seiner Kameraden, oder eine Tochter ihm vorstellst, die aufs feinste erzogen wäre für die Welt, liebenswürdig nach innen und außen - er würde sagen: das Alles ist gut, aber das Alles ist noch nicht genug, solche Kinder habe ich auch gesehen in Rom und in Athen, das können auch die Heiden. Aber sag, hast du dein Kind auch christlich erzogen? hast du ihm die Furcht des Herrn eingepflanzt als der Weisheit Anfang? hast du es beten gelehrt? hast du sein Herz gebildet nach dem Bilde Gottes, seinen Willen gezogen nach der Richtschnur des göttlichen Gehorsams, seinen Geist emporgerichtet zu dem, was ewig und was göttlich ist? hast du's für den Himmel erzogen durch Christi Wort und Christi Geist? hast du's aufgezogen in der Furcht und Vermahnung zum Herrn? „Ich bin sehr erfreut, dass ich gefunden habe unter deinen Kindern, die in der Wahrheit wandeln,“ so schreibt Johannes im zweiten Brief einer frommen Mutter. Wird er auch uns und unsern Kindern allen dieses Zeugnis geben können? Müssen wir nicht Alle, auch die besten, viel Versäumnis bekennen, viel Schulden abbitten, wenn der Herr an unsere Türe klopft, nach unserer Kinderzucht zu sehen, und der Apostel uns zuruft: zieht eure Kinder auf in der Zucht und Vermahnung zum Herrn!
Damit wir das können, Geliebte, gibt's nur einen Weg: lasst euch selbst von euren Kindern je mehr und mehr ziehen zum Herrn. Wohl wird der Apostel bei seinen Hausbesuchen heute auch manchen bekümmerten Vater treffen und manche weinende Mutter, die ihm klagen müssen: unsere Arbeit ist vergebens und unsere Liebe schlägt nicht an bei unserem Kind; wie wir bitten und vermahnen, was wir versuchen und uns kosten lassen, wie wir seufzen und weinen, es eilt seinem Verderben zu. Was würde der Apostel sagen? Gewiss er würde sagen: liebe Eltern, betet ihr auch für euer Kind, lasst ihr euch auch zum Herrn ziehen durch euer Kind? Ja, meine Lieben, wie wir unsere Kinder sollen zum Herrn ziehen, so müssen wir durch sie hinwiederum uns erziehen und zum Herrn ziehen lassen. Zum Herrn sollen sie uns ziehen schon durch die Freude, die sie uns machen, denn Kinder sind eine Gabe des Herrn, und wer an der Wiege eines neugebornen, oder am Bettlein eines neugenesenen Kindes noch nicht gelernt hat, dankende Hände zu falten zur ewigen Liebe da droben, der hat ein steinernes Herz. Zum Herrn müssen sie uns ziehen noch mehr durch die Sorgen, die sie uns bereiten. Am Bettlein eines kranken Kindes, o da haben schon sehr steife Knie sich beugen gelernt und gar vornehme Lippen sich hergegeben zu dem Gebet des Königischen: Herr, komm, ehe denn mein Kind stirbt! Zum Herrn müssen sie uns ziehen durch ihre Tugenden und guten Eigenschaften. Wir selber sollen ja werden wie die Kinder. Wahrlich im Blick auf sein unschuldiges Kind mit seinem treuherzigen Glauben, mit seiner frommen Einfalt hat schon mancher Spötter sich seines Spottens geschämt, und in den Augen seines Kindes ist ihm zuerst wieder ein Himmel und ein Heiland aufgegangen. Zum Herrn müssen sie uns ziehen noch mehr durch ihre Fehler und Unarten, denn wie können wir vermahnen, wenn wir nicht selbst den Weg des Heils wissen; wie können wir strafen, wenn wir nicht selbst ein Vorbild des Guten geben; wie können wir kämpfen mit der Sünde, wenn wir nicht den Geist Gottes zum Beistand anrufen und zum Mitarbeiter an den Seelen unserer Kinder! Zum Herrn müssen sie uns ziehen, schon so lang wir sie haben, denn ohne den Herrn können wir keinen Tag unsere Pflichten an ihnen erfüllen, und zum Herrn müssen sie uns ziehen noch mehr, wann sie von uns genommen werden, denn was wäre eines Vaters Stab und einer Mutter Trost am Grabe ihres Kindes, wenn es nicht der Herr ist, der Glaube an den Herrn, da man weiß: der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobet, und die Hoffnung auf den Herrn, der da spricht: lasst die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn ihrer ist das Himmelreich! Nun, Herr, so ziehe Du beide, die Alten samt den Jungen, mit einander und durch einander je mehr und mehr zu Dir, nimm Du, treuer Hirt, beide in Deine Obhut, die Schafe und die Lämmer, bis du sie droben um Dich versammelst auf ewig grünen Auen.
Schenk uns Herr, die Himmelsfreude, Dass an deinem großen Tag
Nach so manchem Kampf und Leide Jedes fröhlich sprechen mag:
Siehe, Vater, siehe hier Meine Kinder, all mit mir;
Ihrer keines ist verloren, Alle für Dein Reich erkoren! Amen.