Walther, Carl Ferdinand Wilhelm - Gesetz und Evangelium - Elfte Abendvorlesung. (5. December 1884.)

Walther, Carl Ferdinand Wilhelm - Gesetz und Evangelium - Elfte Abendvorlesung. (5. December 1884.)

Unter den mancherlei ernsten Worten gegen die falschen Lehrer, welche wir in der Schrift finden, sind wohl diejenigen, wenn nicht die ernstesten, so gehören sie doch zu den ernstesten, welche wir finden Jer. 23,22. Da spricht der HErr von den falschen Lehrern: „Denn wo sie bei meinem Wort blieben und hätten meine Worte meinem Volk gepredigt, so hätten sie dasselbe von ihrem bösen Wesen und von ihrem bösen Leben bekehrt.“ Daraus sehen wir, daß ein Prediger durch falsche Lehre die Ursache werden kann, daß die ihm anvertrauten Seelen sich nicht bekehren und darum – es ist schrecklich zu sagen! – ewig verloren gehen. Wohl gehen diejenigen, welche sich verführen lassen durch falsche Lehre, zugleich aus eigener Schuld verloren, denn Gott hat ja an unzähligen Stellen seines Worts vor den falschen Lehrern und Propheten mit großem Ernst gewarnt und dieselben darin ganz genau beschrieben, daher derjenige, der diese Warnungen Gottes verachtet, einst über sich Ach und Wehe schreien wird; nichtsdestoweniger sind die falschen Propheten und Lehrer, welche die falschen Lehren vortragen, damit nicht entschuldigt. Im Gegentheil, ihre Schuld ist um so größer, weil sie nicht nur selbst einen falschen Weg gegangen sind, sondern auch den ihnen anvertrauten Seelen einen falschen Weg gezeigt haben. Gott wird von ihren Händen die Seelen fordern, die er ihnen anvertraut hat; denn es steht geschrieben Ebr. 13,17.: „Gehorchet euren Lehrern und folget ihnen; denn sie wachen über eure Seelen, als die da Rechenschaft dafür geben sollen.“ O, wie werden daher an jenem großen Gerichtstage alle falschen Lehrer erschrecken, wenn nun alle die von ihnen verführten Seelen vor Gottes Richterstuhl stehen und sie bei Gott verklagen werden! O, wie wird ein Arius erschrecken, der die Gottheit JEsu bestritt, der die göttliche Majestät Christo vom Haupt reißen wollte, wie wird er erschrecken! Wie wird ein Pelagius erschrecken, der leugnete, daß ein Mensch ganz allein durch die Gnade Gottes gerecht und selig werde! Wie werden vor allem die Päbste erschrecken, die alle widerchristlichen Lehren zu einem System zusammengestellt haben, wenn alle die unzähligen Seelen, die sie verführt haben und deren Herz sie vergiftet haben, vor Gott stehen werden! Dann wird jeder falsche Lehrer wünschen, er wäre nie geboren, und wird den Tag verwünschen, an welchem er in das heilige Amt eingesetzt worden war. Da werden wir auch sehen, daß die falsche Lehre nicht so etwas Geringes und Harmloses ist, wie man in unsern Tagen meint. O, meine theuren Freunde, achten Sie daher wohl darauf, was Gott uns durch seinen Propheten Jesaias schreiben läßt, Jes. 66,2.: „Ich sehe an den Elenden und der zerbrochenes Geistes ist und der sich fürchtet vor meinem Wort.“ Gott verlangt also von uns allen, die in dem heiligen Amt stehen und in dasselbe eintreten wollen, daß wir Gottes Wort nicht nur lieb haben, wir sollen Gottes Wort auch fürchten, nämlich wir sollen uns von Herzen davor fürchten, auch nur von einem Buchstaben des göttlichen Worts abzugehen, sollen uns davor scheuen, etwas hinzuzuthun oder abzuthun. Wir müssen eher bereit sein, unser Blut zu vergießen, als daß wir auch nur in einem Buchstaben des göttlichen Worts nachgeben. Daher sollten Sie sich als Vorbild unsern lieben Luther nehmen, wenn er sagt: „Mir ist also, daß mir auch ein Spruch die Welt zu enge macht“, das heißt: „Wenn ich sähe, daß auch nur ein einziger Spruch meiner Lehre widerspräche, die ich den Leuten vortrage, so würde ich keine Ruhe haben Tag und Nacht; ich wüßte nicht, wo ich hinfliehen sollte; es wäre mir zu erschrecklich!“ Darum trachten Sie darnach, die Gesinnung des königlichen Propheten David zu erlangen, wenn er spricht, Ps. 119,120.: „Ich fürchte mich vor dir, daß mir die Haut schaudert, und entsetze mich vor deinen Rechten.“

Aber freilich, eine solche Gesinnung können Sie nicht haben, können ihr wenigstens nicht folgen, so lange Sie nicht eine klare, gründliche Kenntniß aller Lehren der heiligen Schrift haben. Denn wie können Sie das bewahren, was Sie nicht haben? Und dazu ist Ihnen ja die Zeit ihres Studiums hier gewährt, daß Sie mit der ganzen heiligen Schrift bekannt werden und jeden Artikel für sich und in seiner Verbindung und seinem Verhältniß zu den andern Lehren kennen lernen. Das ist auch das Ziel unserer Freitagsabendstunden, wenn wir handeln von dem Unterschied des Gesetzes und des Evangeliums. Denn darauf kommt alles an, daß man Gesetz und Evangelium recht scheidet. Denn davor ist mir nicht bange, – wenn Sie nicht gerade abfallen – daß Sie neue Glaubensartikel aufbringen werden; aber davor ist mir bange, daß Sie Gesetz und Evangelium nicht recht scheiden werden; denn da gehört vor allen Dingen dazu, daß Sie weder abweichen zur Rechten noch zur Linken, weder zur Verzagtheit, noch zur Laxheit.

Thesis VII.

Gottes Wort wird drittens nicht recht getheilt, wenn man erst das Evangelium und dann das Gesetz predigt, erst die Heiligung und dann die Rechtfertigung, erst den Glauben und dann die Buße, erst die guten Werke und dann die Gnade.

Hier wird davon geredet, daß man das Wort Gottes auch dann nicht recht theilt, wenn alle die verschiedenen Lehren nicht in ihrer rechten Ordnung dargestellt werden, wenn man das voransetzt, was nachfolgen sollte. Dadurch kann ungeheurer Schaden entstehen in den Herzen und in dem Verstand der Zuhörer. Viererlei Verkehrungen können da vorkommen. Erstens, wenn man die Ordnung so verkehrt, daß man erst das Evangelium und dann das Gesetz predigt. Vielleicht denken Sie: „Wer wird aber denn so verkehrt sein? Denn jedes Katechismuskind weiß ganz gut: Erst kommt das Gesetz, und dann das Evangelium.“ Aber es kann zu leicht geschehen und wir haben Beispiele, daß ganze Gemeinschaften diesem Irrthum ergeben waren. So zu Luthers Zeit die Antinomer mit Agricola von Eisleben an der Spitze, und im vorigen Jahrhundert die Herrnhuter. Die letzteren wollten am liebsten gar nichts vom Gesetz hören, aber vor allem war ihr Grundsatz: „Erst muß das Evangelium verkündigt werden, erst muß das Leiden und Bluten Christi vorgestellt werden.“ Das war aber grundverkehrt. Es ist wohl wahr: Die Herrnhuter haben viele ergriffen, aber das war nur oberflächlich. Der Mensch ist nie hinter sein tiefes, sündliches Verderben gekommen, hat nie recht erkannt, daß er ein Feind Gottes sei, daß er vielmehr werth sei, in die Hölle gestoßen zu werden. – Wenn wir hier vom Evangelium reden, so reden wir natürlich vom Evangelium im engern Sinn, nämlich im Gegensatz zu dem Gesetz.

Marc. 1,15.: „Thut Buße und glaubet an das Evangelium.“ „Thut Buße“ ist ja offenbar ein Gesetzeswort. Das kommt in der Predigt des HErrn zuerst, und dann: „Glaubet an das Evangelium.“ Und darin sind denn auch die heiligen Apostel Christo gefolgt.

Apost. 20,21.: „Und haben bezeuget, beide den Juden und Griechen, die Buße zu Gott und den Glauben an unsern HErrn JEsum Christum.“ Erst hat der Apostel Paulus Buße gepredigt und dann den Glauben, erst Gesetz und dann Evangelium.

Luc. 24,47.: „Und predigen lassen in seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden unter allen Völkern, und anheben zu Jerusalem.“ „Buße und Vergebung der Sünden!“ Er kehrt es nicht um: „Vergebung der Sünde und Buße!“ Nein, das wäre ein verkehrter Weg zur Seligkeit, der gar nicht zur Seligkeit führt. Die zweite Verkehrung der rechten Ordnung besteht darin, wenn man erst die Heiligung des Lebens und dann die Rechtfertigung predigt, welche in Vergebung der Sünden besteht. Rechtfertigung aus Gnaden ist eben die Vergebung der Sünden. Daß Christi Gerechtigkeit meine Gerechtigkeit wird, dadurch werde ich eben gerechtfertigt. Ps. 130,4.: „Denn bei dir ist die Vergebung, daß man dich fürchte.“ Es heißt also: Erst mußt du uns Vergebung der Sünden schenken, und dann fürchten wir dich, dann wandeln wir in einem neuen heiligen Leben. Mit „Fürchten“ ist nicht nur die Scheu vor Gott bezeichnet, sondern das ganze Werk der Heiligung.

Ps. 119,32.: „Wenn du mein Herz tröstest, so laufe ich den Weg deiner Gebote.“ Erst die Tröstungen, die Rechtfertigung, die Begnadigung, die Vergebung der Sünden, und dann: „so laufe ich den Weg deiner Gebote“. Er will sagen: „Gerade dadurch, daß du mich aus Gnaden annimmst, bekomme ich Lust zu deinen Geboten. So lange ich keine Vergebung habe, kann ich dich nicht lieben, auch deine Gebote nicht, sondern da hasse ich dich. Aber dann, wenn du mich begnadigt hast, bekomme ich ein anderes Herz, dann verlasse ich mit Freuden die Welt; dann finde ich bei dir etwas viel Besseres, als ich bei der Welt finden kann.“

1 Cor. 1,30.: „Von welchem auch ihr herkommt in Christo JEsu, welcher uns gemacht ist von Gott zur Weisheit, und zur Gerechtigkeit, und zur Heiligung und zur Erlösung.“ – Da haben Sie, wie eins auf das andere folgt. Zuerst ist nothwendig, daß wir Weisheit, Erkenntniß bekommen von dem Weg zur Seligkeit. Diesen Weg müssen wir erst kennen. Dann kommt die Gerechtigkeit, die wir durch den Glauben erlangen. Auf die Rechtfertigung folgt erst die Heiligung. Erst muß ich wissen, daß Gott mir die Sünden vergeben hat, daß er alle meine Sünden in das Meer geworfen hat; dann ist es mir eine Lust und Freude, in der Heiligung zu wandeln, während es mir vorher zu viel war, eine Last war. Erst zürnte ich Gott, haßte ihn, daß er so viel von mir forderte; ich hätte ihn lieber vom Thron stoßen mögen, ich habe gedacht: „Es wäre besser, es gäbe keinen Gott!“ Aber dann, als mich Gott begnadigt und gerechtfertigt hatte, hatte ich meine Freude nicht nur am Evangelium, sondern auch am Gesetz.

Joh. 15,5.: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibet und ich in ihm, der bringet viele Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts thun.“ Der Heiland will haben, wir sollen so in ihm sein, wie eine Rebe in einem Weinstock. Damit soll nicht gesagt sein, daß wir sollen in den Heiland hineingehen, sondern er will sagen: „Ihr müßt an mich glauben von ganzem Herzen, müßt euer Vertrauen und eure Zuversicht auf mich setzen und mit euren Glaubensarmen mich ganz umfangen, so daß ihr nur in mir, eurem JEsus, lebt, der euch errettet hat, der euch selig gemacht hat.“ Dann werdet ihr auch Frucht bringen! Der Heiland zeigt also: Erst muß ich gerechtfertigt werden und dann kann ich erst in der Heiligung leben. Bin ich aber ein loser, abgeschnittener Rebe, dann verdorre ich und kann keine Frucht bringen.

Apost. 15,9.: „Und machte keinen Unterschied zwischen uns und ihnen und reinigte ihre Herzen durch den Glauben“ Erst muß ich durch den Glauben gerechtfertigt werden, dann werde ich auch dadurch gereinigt, dann werde ich erneuert und geheiligt. Das ist eine der schrecklichsten Irrthümer, wenn Rechtfertigung und Heiligung mit einander vermischt werden. Mag einer dann noch so schön predigen, so ist doch alles vergeblich. Nur die strenge Scheidung zwischen Rechtfertigung und Heiligung macht einen armen Sünder klar und macht ihn gewiß, ob er bei Gott in Gnaden stehe oder nicht, und rüstet ihn aus mit Kraft zu einem neuen Leben. Drittens wird die rechte Ordnung verkehrt, wenn man erst den Glauben und dann die Buße predigt, wie es die Antinomer machten und wie es die Herrnhuter noch heutiges Tages thun. Die sagen immer: „Der Glaube ist das Erste, dann mußt du deine Sünde bereuen und Buße thun.“ Aber wie thöricht ist das? Wie kann der Glaube in ein ungebrochenes Herz kommen? Wie kann den hungern und dürsten, den vor der Speise ekelt? Nein, willst du an Christum glauben, so mußt du erst krank werden; denn Christus ist nur ein Arzt für die Kranken. Erst mußt du ein armer, verlorner Sünder werden, denn er ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, das verloren ist. Erst mußt du ein verlornes Schaf werden, denn er ist ein guter Hirte, der den verlornen Schafen nachgeht.

Apost. 2,38.: „Petrus sprach zu ihnen: Thut Buße und lasse sich ein jeglicher taufen auf den Namen JEsu Christi zur Vergebung der Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des Heiligen Geistes.“ So spricht Petrus zu den Juden, die ihn fragten: „Ihr Männer, lieben Brüder, was sollen wir thun?“ Da gibt er ihnen diese Antwort. Erst Buße und dann Vergebung der Sünden. Also der Glaube folgt erst nach der Buße. Alle obengenannten Stellen gehören auch hierher, z. B. Apost. 20,21. Alle Verkehrer dieser Ordnung werden durch dies eine Wort: „Buße zu Gott und Glauben an JEsum Christum“ geschlagen. Diese Stellen sind die rechten Leuchter für einen Prediger, daß er nicht abirrt. Viertens endlich ist es verkehrt, wenn man erst die guten Werke und dann die Gnade predigt. Das sind lauter analoge Sachen; eins ist so falsch wie das andere.

Eph. 2,8-10.: „Denn aus Gnaden seid ihr selig geworden durch den Glauben; und dasselbige nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus den Werken, auf daß sich nicht jemand rühme. Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christo JEsu zu guten Werken, zu welchen Gott uns zuvor bereitet hat, daß wir darinnen wandeln sollen.“ Diese goldene Stelle! Also der Apostel sagt nicht: „Wir müssen gute Werke thun, dann wird Gott uns gnädig sein“, sondern das gerade Gegentheil: „Aus Gnaden seid ihr selig geworden! Aber ihr seid durch die Gnade geschaffen zu guten Werken.“ Erst mußt du begnadigt sein, und dann hat dich Gott neu geschaffen; dann mußt du gute Werke thun und kannst nicht mehr unter der Herrschaft der Sünde stehen.

Tit. 2,11.12.: „Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen und züchtiget uns, daß wir sollen verleugnen das ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste, und züchtig, gerecht und gottselig leben in dieser Welt.“ Da wird uns auch gezeigt: Erst muß uns die Gnade gepredigt werden, aber dann züchtigt sie uns. Das heißt nicht castigare, sondern damit ist gemeint die Erziehung, die göttliche Pädagogie, welche in der Gnade liegt. Sobald ein Mensch die Gnade, die Gott vom Himmel herabgebracht hat, annimmt, sobald fängt sie auch an, ihre Erziehung auszuüben. Und wozu erzieht sie den Menschen? Daß er gute Werke thut und rechtschaffen lebt. Das Alte Testament ist ja besonders gesetzlicher Natur, obgleich auch da das Evangelium gepredigt wurde, und das Neue Testament ist vorwiegend evangelischer Natur, obgleich auch da das Gesetz durchaus nicht fehlt. Im Alten Testament geschah zuerst die feierliche Offenbarung des Gesetzes, im Neuen Testament die feierliche Offenbarung des Evangeliums. Das Evangelium war ja schon im Paradies da, aber eine solche feierliche Offenbarung war noch nicht da. Auf Sinai geschah die volle Offenbarung des Gesetzes unter Blitz und Donner und Beben der Erde, so daß es schien, als sollte die Erde untergehen. Im Neuen Testament erschien am Pfingstfest bei der Ausgießuug des Heiligen Geistes auch Feuer, aber es verbrannte nichts. Feurige Zungen erschienen über den Häuptern der Apostel, aber das Feuer versengte ihr Haar nicht. Es kam ein gewaltiger Wind, ein Brausen vom Himmel, aber nichts ist zerstört, nichts ist von seiner Stelle bewegt worden. Dadurch sollte angezeigt werden: Jetzt sollte eine ganz andere, eine tröstliche Offenbarung geschehen. – Und gehen Sie nun in die Episteln der Apostel, besonders in den Römerbrief, der ja das Ganze der christlichen Lehre in sich schließt. Was finden wir da in den ersten drei Capiteln? Die schärfste Gesetzespredigt. Dann folgt in Cap. 4 und 5 lauter Lehre von der Rechtfertigung, und von dem 6. Capitel an lauter Heiligung. Da haben wir ein rechtes Vorbild für die rechte Reihenfolge: Erst Gesetz, Zorn Gottes, Drohungen; dann das Evangelium, Gottes Verheißungen und seine Tröstungen. Dann folgt die Anweisung, was wir nun thun sollen, nachdem wir andere Menschen geworden sind. Und so oft die Propheten predigten, wenn sie jemand bekehren wollten, so oft haben sie erst mit dem Gesetz angefangen; und wenn die Strafe ihre Wirkung gethan hatte, dann haben sie den Sünder getröstet. Sobald die Zuhörer erschreckt waren, wußten die Apostel weiter nichts, als sie zu absolviren, und dann sagten sie erst: „Nun müßt ihr euch auch dankbar beweisen gegen Gott.“ Sie geboten es ihnen nicht, sie drohten ihnen dann nicht, wenn sie es nicht thaten, sondern sie bitten sie, ermahnen sie durch die Barmherzigkeit Gottes. Das ist die rechte Heiligung, welche auf die Rechtfertigung folgt; das ist die rechte Rechtfertigung, welche auf die Buße folgt.

Nun will ich Ihnen an einigen Beispielen zeigen, wie man sich schon bei Dispositionen verrathen kann, daß man Gesetz und Evangelium nicht versteht zu scheiden. Es sind ganz grobe Beispiele, denn dann kann man die Sache recht verstehen, wenn man recht grobe Beispiele nimmt, wie wir das auch bei Luther sehen. So will ich es auch wie Luther machen. Denn was ich vielleicht Gutes habe, das habe ich unserm lieben Luther abgelernt.

Falsche Dispositionen

1. Thema: Der Weg zur Seligkeit besteht I. im Glauben, II. in wahrer Buße. Wenn Sie es so verkehren, dann sind Sie rechte Antinomer und Herrnhuter.

2. Thema: Die guten Werke. I. Worin dieselben bestehen, II. daß sie auch im Glauben geschehen müssen. Disponiren Sie so, dann haben Sie, ohne vom Glauben gesprochen zu haben, schon gesagt, was gute Werke sind. Denn um gute Werke zu beschreiben, muß ich sie so beschreiben, daß sie durch den Glauben geschehen. Dann müßten Sie die guten Werke nach dem Gesetz beurtheilen, aber das ist verkehrt, denn nach dem Gesetz beurtheilt ist jedes gute Werk auch eines Christen, wenn es auch noch so gut aussieht, ein verdammliches Werk.

3. Thema: Vom Gebet. I. In der Gewißheit der Erhörung beruht das rechte Gebet, II. im Glauben. Da müßten Sie im ersten Theil ganz falsch predigen.

4. Thema: Verheißungen und Drohungen des Wortes Gottes. I. Verheißungen, II. Drohungen. Erst tröstet er mich und dann kommt er und wirft mich mit Steinen, daß ich alles vergesse, was er mir erst gesagt hatte. Erst muß mit dem Gesetz dreingeschlagen werden und dann müssen Sie die Wunden verbinden mit den Verheißungen. Wer mit Drohungen seine Predigt schließt, der hat viel gethan, um dieselbe unfruchtbar zu machen.

5. Thema: Das wahre Christenthum besteht I. im christlichen Leben, II. im wahren Glauben, III. im seligen Sterben. Das wäre eine schauderhafte Disposition!

6. Thema: Was muß ein Mensch thun, wenn er seiner Seligkeit gewiß sein will? I. Er muß sich bessern, muß ein anderer Mensch werden, II. er muß seine Sünden bereuen, III. er muß aber auch Christum im Glauben ergreifen. Wie kann ich ein besseres Leben führen, wenn ich noch keinen Abscheu habe vor dem bösen Wandel, vor den Sünden? Und das Schrecklichste ist No. 3. Denn es macht mich nichts gewisser, als der Glaube.

So ist es gewiß verkehrt gewesen, wenn die Pietisten gesagt haben, in der Bergpredigt seien beschrieben die Stufen der Heilsordnung. Dazu hat sie versucht, wenn Christus gleich am Anfang sagt: „Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihr.“ „Geistlich arm“ sein heißt aber hier: nichts haben, woran man sein Herz hängt. Geistlich arm kann auch ein Millionär sein; hängt er sein Herz nicht an Geld und Gut, so besitzt er es eigentlich gar nicht. Hingegen kann ein Bettelmann geistlich reich sein, wenn er sich auf das wenige Geld, was er noch hat, verläßt. Jener ist ein seliger Mensch, dieser aber nicht. Wenn dann Christus weiter sagt: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“, meinen die Pietisten, da sei von Leidtragen über die Sünde die Rede; das sei die zweite Stufe in der Heilsordnung. Aber Christus meint das Leidentragen, das Kreuztragen in diesem Leben um Gottes willen. Und dann sagt Christus: „Selig sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.“ Da quälen sich die Pietisten schrecklich ab; denn der Glaube und die Rechtfertigung sind ja noch nicht dagewesen, und das fällt wie ein schwerer Klotz in ihre Heilsordnung hinein. Da machen sie wunderbare Sprünge, um ihre Stufen herauszukriegen. Aber man sieht, daß es nichts ist damit. Endlich sagt Christus: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ Das soll nun die vierte Stufe der Heilsordnung sein! Ja, wenn die Sanftmuth in Wirklichkeit voranginge! Wenn Sie also jemals über diese Seligpreisungen predigen sollten, so sehen Sie sich ordentlich vor und folgen Sie nicht den pietistischen Predigern! Luther hatte die Antinomer gegen sich und so mußte er sich auch hierüber aussprechen. Die Antinomer lehrten, erst müsse man die Gnade predigen und dann die Buße. Ja, sie wollten haben, daß das Gesetz gar nicht in der Kirche gepredigt werden sollte; das gehöre auf das Rathhaus, an den Galgen; den Dieben und Mördern solle man es predigen, aber für ehrbare Leute sei es nicht, geschweige denn für Christen. In seiner Schrift „Wider die Antinomer“ vom Jahre 1539 schreibt Luther (W. XX, 2024) also: „Die Antinomer haben ihnen erdichtet einen neuen Methodum, daß man soll zuerst die Gnade predigen, darnach die Offenbarung des Zorns, auf daß man das Wort (Gesetz) ja nicht höre, noch reden dürfe. Das ist ein fein Katzenstühlichen, gefällt ihnen trefflich wohl, und meinen, sie wollen die ganze Schrift hinein- und herausziehen und damit lux mundi werden. Solches soll und muß St. Paulus geben Röm. 1.“ – Sie sagten, Röm. 1,16. heiße es: „Ich schäme mich des Evangelii von Christo nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, selig zu machen alle, die daran glauben.“ „Also fängt der Apostel mit dem Evangelium an!“ Aber es kommt ja zuerst die Einleitung, und V. 16. ist erst das Thema des ganzen Briefs. Vers 18. fängt er dann den ersten Theil an und sagt darauf: „Was ich jetzt gezeigt habe, ist, daß alle Menschen Sünder sind, daß alle des Ruhms mangeln, den sie an Gott haben sollten.“ Dann predigt er erst im zweiten Theil das Evangelium. – „Sie sehen aber nicht, wie St. Paulus gerade widersinnisch (das gerade Gegentheil) lehret, fähet an und zeigt erstlich den Zorn Gottes vom Himmel und macht alle Welt zu Sündern und schuldig vor Gott; darnach, so sie zu Sündern worden sind, lehret er sie, wie man Gnade erlange und gerecht werde, wie die drei ersten Capitel gewaltiglich und klärlich weisen. Und ist auch das eine sonderliche Blindheit und Narrheit, daß sie meinen, Offenbarung des Zorns sei etwas anderes, weder das Gesetze, das doch nicht möglich ist: denn Offenbarung des Zorns ist das Gesetze, wo es erkannt und gefühlet wird, wie Paulus sagt: Lex iram operatur (das Gesetz richtet Zorn an). Haben sie es denn nun nicht fein getroffen, daß sie das Gesetze wegthun und lehren’s doch, wenn sie des Zorns Offenbarung lehren? Kehren aber den Schuh um und lehren uns das Gesetz nach dem Evangelio und den Zorn nach der Gnade. Aber was schändlicher Irrthümer mit diesem Katzenstühlchen der Teufel meint, derer sehe ich etliche wohl, kann sie aber diesmal nicht handeln.“ – Luther gebraucht das Wort Katzenstühlchen. Darunter versteht man eine kleine Treppe, wovon, wenn man sich auf die eine Seite stellt, sich die andere Seite hebt. Die Antinomer haben es so gemacht, daß sie das Gesetz und Evangelium setzen konnten, wie sie wollten. In seinem Commentar zur Genesis Cap. 21,12.16. (I, 2142. ff.) schreibt Luther: „An dem sagt man wohl recht, daß man die Leute aufrichten und trösten soll: man muß aber auch dabei setzen und sagen, wer die seien, die man trösten soll, nämlich die mit Ismael und seiner Mutter aus dem Haus und Vaterland verstoßen sind und in der Wüste Hungers und Durstes halber gar verschmachten, die zum HErrn seufzen und schreien und nicht weit von der Verzweiflung sein. Solche Leute sind rechte Zuhörer des Evangelii.“ – Erst mußten Hagar und Ismael ins Elend hinein, sonst wären sie nicht von ihrer Hoffahrt gekommen. Der Mensch ist von Natur vermessen; er spricht: „Was habe ich denn Böses gethan? Ich habe keinen Todtschlag begangen, ich bin nicht in Ehebruch und Hurerei gefallen, habe nicht gestohlen.“ Da denkt er, mit diesen paar Lumpen will er vor Gott bestehen. Das muß weg, diese Hoffahrt, und dazu gehört der Hammer des Gesetzes, der diesen Felsen zerschlägt und zermalmt. – „Darum sind die Antinomer billig werth, daß ihnen jedermann feind sei, welche sich mit unserm Exempel aufhalten und vertheidigen wollen“ – Die Antinomer sagten: „Luther hat selbst erst lauter Trost gepredigt. Er ist jetzt von seiner alten Lehre abgefallen, er ist auch gesetzlich geworden. Daher kommt es, daß er gegen uns auftritt.“ Aber als Luther auftrat, da brauchte er das Volk gar nicht viel zu unterrichten über das Gesetz. Die Leute waren so zerschlagen, daß fast keiner da war, der geglaubt hätte, er sei bei Gott in Gnaden. Denn wenn die römischen Priester am besten predigten, so war es Gesetz, und neben dem göttlichen Gesetz das Kirchengesetz und die Hauptsätze der früheren Concilien, Theologen und Päbste. Als nun Luther auftrat, der selbst darin gesteckt hatte, da wußte er: „Dem armen Volk kann nicht besser geholfen werden, als daß du ihnen das reine Evangelium verkündigst.“ Da war es denn auch, wie wenn ein Thau und ein fruchtbarer Frühlingsregen vom Himmel über die ganze Christenheit herabträufelte. Luther schreibt darum weiter: „Welche sich mit unserm Exempel aufhalten und vertheidigen wollen, so doch die Ursach am Tage ist, warum wir im Anfang also von Gottes Gnade gelehret haben. Der verfluchte Pabst hatte die armen Gewissen mit seinen Menschensatzungen gar unterdrückt, hatte alle rechten Mittel, Hülfe und Trost, damit die armen verzagten Herzen wider die Verzweiflung hätten mögen gerettet werden, hinweggenommen: was sollten wir denn dazumal anders thun?“ – Luther wäre der elendeste Folterknecht gewesen, wenn er dieses arme Volk auch noch hätte schlagen wollen. Aber jetzt ist das anders. Damals hatten die Leute Angst vor Gottes Gesetz, sie ängstigten sich vor der Hölle. Jetzt sagen die Leute: „Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir todt, und nach dem Tod ist alles aus.“ Und wenn es auch nicht alle so schlimm machen, so denken sie doch: „Nun, so schlimm wird es wohl nicht sein.“ Da muß das Gesetz gepredigt werden, oder Sie richten nichts aus. – „Wir wissen aber auch wohl, daß man anders reden muß mit denen, die da satt, zart und fett sind. Wir waren dazumal alle verstoßen und sehr geplagt. Das Wasser in der Flaschen war aus, das ist, es war kein Trost vorhanden. Wir lagen wie die Sterbenden gleichwie Ismael unter dem Strauch.“ – Die Leute zu Luthers Zeit waren alle wie Ismael, der verschmachten wollte. Das Bischen Wasser, das Hagar und Ismael mit in die Wüste genommen hatten, war bald ausgetrocknet von der Sonnenhitze. So war alles dahin. – „Da waren uns solche Lehrer vonnöthen, die uns Gottes Gnade vorhielten, und lehreten, wie wir uns erquicken möchten. Die Antinomer aber wollen haben, daß man die Lehre von der Buße schlecht mit der Gnade anfangen solle: ich aber habe den Proceß nicht so gehalten. Denn ich wußte wohl, daß Ismael erst ausgetrieben und verzagt worden war, ehe denn er vom Engel den Trost gehöret hat. Derohalben habe ich dem Exempel nachgefolgt und niemand getröstet, denn nur allein die, so zuvor Reue und Leid über ihre Sünde gehabt und an ihnen selbst verzagt hatten, welche das Gesetz erschreckt, der Leviathan überfallen und gar bestürzt gemacht hatte. Denn um derselben willen ist Christus in diese Welt gekommen und will nicht, daß das glimmende Docht gar soll ausgelöscht werden. Jes. 42,3. Darum rufet er Matth. 11,28.: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid.“ Ein solcher war Ismael nicht, ehe er aus dem Haus vertrieben ward, sondern war stolz und gar sicher und ein antinomischer Epicurer. Ich, sagte er, bin der Herr und Erbe im Haus (weil er eher geboren war als Isaak), Isaak und Sarah soll mir weichen. Hat man denn diese Hoffahrt an ihm loben und dulden oder ihn darum strafen wollen? Wie hat er aber auf eine andere Weise gestraft werden können, denn daß er zugleich mit der Mutter aus dem Hause gestoßen würde und aus Abrahams Hause nichts mit sich nehmen müßte, denn allein den Lohn des Gesetzes, nämlich Brod und Wassers. Denn also pfleget ihm das Gesetz zu thun: es führet den Dieb gebunden zum Galgen; ehe denn aber er erstickt wird, erquickt es ihn mit einem Trunk Wassers; endlich aber mangelt das Wasser und bleibt der Tod übrig; mehr thut das Gesetz nicht. Darum laßt uns lernen, daß Gott allen Hoffährtigen feind ist, die aber gedemüthigt sind und die Kraft des Gesetzes gefühlt haben, dieselben tröstet er, wo nicht durch Menschen, so thut er’s doch etwa durch einen Engel vom Himmel, denn er will nicht, daß solche Leute sollen verloren werden; gleichwie er auch die Sicheren und Stolzen nicht will in Abrahams Haus bleiben lassen. Es muß aber ein Lehrer und Prediger in diesen beiden Stücken gelehrt, geschickt und erfahren sein, daß er beide die Widerspenstigen strafen und zerknirschen und die, so gestraft und zerschlagen sind, wiederum trösten könne, auf daß sie nicht gar verzagen und vom Gesetz verschlungen werden.“

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