Vinet, Alexandre - Reden über einige religiöse Gegenstände - Erstes Heft - Vorläufige Betrachtungen

Vinet, Alexandre - Reden über einige religiöse Gegenstände - Erstes Heft - Vorläufige Betrachtungen

Als ich im vorigen Jahre zwei Reden über die Intoleranz und die Toleranz des Evangeliums veröffentlichte, drückte ich mich in einer kurzen Vorrede so aus:

„Die in der christlichen Erkenntnis und in der Frömmigkeit vorgeschrittenen Personen werden, fürchte ich, wenig Nahrung in diesen Reden finden. Auch habe ich mich nicht berufen gefühlt, zu Ihnen zu reden, es würde mir eher anstehen, sie zu hören. Ich habe meinen Worten nicht erlaubt, über mein persönliches Gefühl hinauszugehen, eine nachgeahmte Wärme würde nicht gesegnet sein. Indessen glaube ich für viele Personen ein gelegenes Wort gesagt zu haben; ich schicke es in die Welt, indem ich es dem göttlichen Segen empfehle, der daraus für die christliche Kirche einige Früchte der Heiligung und des Friedens hervorgehen lassen kann.“

Mögen dieselben Worte dieser neuen Veröffentlichung als Vor- und Schutzrede dienen.

Selbst ein Schwacher, wende ich mich an die Schwachen. Ich gebe ihnen die Milch, mit der ich mich selbst genährt habe. Die Einen stärker wie die Andern, wollen wir zusammen das Brot der Starken erflehen. Aber ich habe geglaubt, daß diejenigen, welche noch beim Beginn ihres Weges sind, jemandes bedürften, der zu ihnen redete, weniger wie ein Prediger, als wie ein Mensch, welcher, kaum einen Schritt weiter wie sie, eifersüchtig ist, das Wenige, um welches er weiter ist, zu ihrem Nutzen zu verwenden. Vielleicht ist es gut, daß jeder, je nach dem Maße der Erkenntnis, welche ihm ertheilt worden, an der Evangelisierung der Welt arbeite. Vielleicht gibt es in der Zahl derjenigen, welche ich mir erlaube die Kandidaten der Wahrheit zu nennen, einige Seelen, die sich besonders durch die Art des Vortrags angezogen fühlen, deren ich mich bedient habe, und bedient habe ohne sie zu wählen, denn ich konnte nicht wählen. Ich sage vielleicht und weiter nichts; aber was ich mit mehr Vertrauen behaupte, ist, daß es darauf ankommt, daß jeder sich zeige, wie er ist, und daß niemand den Schein annehme, Gaben zu besitzen, welche er nicht empfangen hat.

Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich sage, daß unter denjenigen, welche über heilige Dinge sprechen oder schreiben, ein übertriebenes Verlangen nach Gleichförmigkeit herrscht. Ich weiß, daß die Gemeinschaft der Überzeugungen und der Hoffnungen, die Gewohnheit die Belehrung aus denselben Quellen zu schöpfen, der intime Verkehr der christlichen Gesellschaft eine Einheit der Gedanken, der intellectuellen Gewohnheiten und selbst, bis auf einen gewissen Punkt, des Ausdruckes erzeugen müssen; aber diese Einheit, welche man bewundern muß, wenn sie von selbst gekommen ist, muß man nicht erzwingen wollen. Die großherzige Freiheit des Christenthums widerstreitet dieser ängstlichen Ehrerbietung für eine Sprache der Convention und für eine leere Orthodoxie des Tones und der Wendungen. Die Aufrichtigkeit erlaubt nicht, als Ausdruck unserer Individualität einen Collectiv-Typus anzunehmen, dessen Abdruck uns immer in irgend einem Punkte fremd ist; das Interesse unserer religiösen Entwickelung schreibt uns vor, uns selbst unsern eigenen Zustand nicht zu verhehlen, und nichts würde geeigneter sein, ihn uns selbst zu verbergen, als die unwillkürliche Gewohnheit, ihn andern zu verbergen. Endlich verlangt die Schönheit des evangelischen Werkes, das Interesse selbst der Einheit, daß jede Natur sich in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit offenbare; man glaubt viel eher an die Einheit, wenn sie sich unter dem Ansehen der Verschiedenheit darstellt. Die Gemeinschaft des Gehaltes wird schlagender durch die Verschiedenheit der Form wiedergegeben, während die Gleichförmigkeit, da sie nothwendiger Weise künstlich ist, immer mehr oder weniger verdächtig erscheint, und unwillkürlich den Gedanken an Zwang und Verstellung entstehen läßt.

Es würde zu jeder Zeit beklagenswerth sein, die Etiquette in das Christenthum und beim Predigen einzuführen; aber besonders in unsern Tagen würde der Übelstand sehr bedeutend sein. In einem Augenblicke, wo sich dem Evangelium so viel verschiedene Straßen zur Welt hin zu öffnen scheinen, würde es wirklich traurig sein, nur eine davon zu wählen, und die zu vernachlässigen, auf welchen man vielen Seelen begegnen könnte. Das Land muß nach allen Richtungen hin durchwandert, ausgebeutet und gebahnt, und die dunkelsten Fußwege müssen mit Sorgfalt durchsucht werden. Es wäre wohlthuend für den Prediger, wenn er nicht von weiter auszuholen brauchte, als von den Erklärungen des evangelischen Wortes, welches gemeinschaftlich von ihm und von seinen Zuhörern angenommen würde, wenn er dieses Wort nur durch sich selbst zu erklären brauchte; aber wer sieht nicht, daß, selbst bei Christen, man immer, ich sage nicht höher hinauf, aber weiter zurück gehen muß, und daß, auf eine oder die andere Art, ein Prediger immer berufen ist, das Evangelium nicht bloß zu erklären, sondern auch zu beweisen? Um seine Zuhörer auf den Gipfel der religiösen Wahrheit zu führen, muß er erst zu ihnen hinunter steigen. Jede Seele glaubt an etwas Wahres und wäre es auch nur an ihr eigenes Dasein; nun, jedes wahre Glauben ist auf der Straße des Evangeliums; von dort muß man ausgehen, ohne den Weg zu bereuen. Ich kann daher nicht glauben, daß die gefehlt haben, welche, vor mir und besser wie ich bemüht gewesen sind, die rationelle Seite des Christenthums hervorzuheben, und welche, indem sie dasselbe mit der Philosophie in Kampf treten ließen, zu zeigen unternommen haben, daß es auch für die Denker eine Autorität sein sollte. Die Philosophen und die Weltmänner fordern uns gewissermaßen auf, uns an sie zu wenden; lange Zeit in den Vorhöfen der Philosophie zurückgehalten, schreiten sie jetzt gegen das Heiligthum vor; das Räthsel des Lebens, sein letztes Wort wird von allen Seiten verlangt; und wir, die wir es kennen, dieses letzte Wort, sollten wir damit geizen, und sollten wir uns weigern es zu sagen, weil man es den Philosophen in einer Sprache sagen muß, die ihnen geläufiger ist, als uns? Dies Wort gehört allen Sprachen an, diese Wahrheit duldet alle Formen, sie hat tausend verschiedene Ausdrücke, denn sie findet sich am Ausgange aller Fragen, am Ende aller Discussionen, auf dem Höhenpunkte aller Ideen. Lang oder kurz, direct oder gekrümmt, jeder Weg ist recht, welcher an den Fuß des Kreuzes führt.

Ich will nicht, daß diese Betrachtungen den Leser über den Inhalt dieses Theiles täuschen. Ich habe nicht die Prätention gehabt, Christus im Areopag zu predigen, oder gegen die Doctoren zu kämpfen. Andere, ich habe das Vertrauen, werden es versuchen. Aber ich habe mich unwillkürlich, ohne Vorbedacht, gegen die zahlreiche Klasse gebildeter Menschen gewendet, welche, im Schoß des Christenthums erzogen, und, wenn ich so sagen darf, mit christlichen Vorurtheilen getränkt, mühevoll kämpfen, entweder gegen ihr eigenes Herz, welches der Ernst des Christenthums erschreckt, oder gegen dies nur zu allgemeine Vorurtheil, daß das so nothwendige, so schöne, so tröstende Christenthum sich in den Augen der Vernunft nicht zu rechtfertigen wüßte.

Was die erstere Schwierigkeit betrifft, so wird der Prediger nicht glauben sie heben zu müssen, indem er etwas von dem Ernste des Evangeliums hinweg nimmt. Er ist im Gegentheil sehr glücklich, diese vorgefaßte Meinung schon vorzufinden; es bleibt dadurch ein Irrthum weniger zu entwurzeln. Die Furcht, welche das Evangelium einflößt, ist ein Beginn des Beitritts. Es ist dieser Ernst selbst, den die Predigt bis zur Reife bearbeiten muß. In Betreff der zweiten Schwierigkeit, welche auf den alten Widerspruch des Glaubens und der Vernunft hinausläuft, sei es mir erlaubt ein Wort zu sagen:

Wer von offenbarter Religion spricht, redet von einer Lehre, welche die Vernunft nicht hätte finden können, da es nothwendig geworden ist, daß Gott sie uns selbst auf einem übernatürlichen Wege mittheilte. Der Christ verwirft also die Vernunft in so weit sie die Wahrheit hervorzubringen, zu erzeugen meinen könnte. Er thut in seiner Sphäre, was der Philosoph in der seinigen thut; denn dieser nimmt, kraft der Autorität und von der Autorität einer innern Offenbarung, Thatsachen an, für deren Entdeckung ihm die Vernunft von keinem Nutzen ist. Der Philosoph braucht nicht a priori die Thatsachen der innern Offenbarung zu beweisen, einer Offenbarung ohne Vorgänge, eines Gegebenen, welches vor allem Gegebenen vorausgeht. Der Theolog seinerseits erkennt in den offenbarten Thatsachen ein Gegebenes, welches über alles Gegebene hinaus geht. Er beweist diese Thatsachen eben so wenig, denn sie beweisen, hieße sie schaffen. Indem er so verfährt, leugnet er die Vernunft nicht ab, im Gegentheil er bedient sich ihrer. Und hier ist der Ort zu bemerken, daß die Vernunft, d. h. die Natur der Dinge, für uns immer, auf welchen Standpunkt wir uns auch stellen, das Criterium der Wahrheit und der Stützpunkt des Glaubens sein wird. Es wird sich die Wahrheit außer uns immer messen, vergleichen müssen mit der Wahrheit, welche in uns ist, mit diesem geistigen Gewissen, welches, eben so gut wie das Moralische, mit Souverainität bekleidet ist, welches Urtheile fällt, Gewissensbisse hat, mit diesen unwiderstehlichen Axiomen, welche wir in uns tragen, welche einen Theil unserer Natur ausmachen, welche der Träger und gleichsam der Boden aller unserer Gedanken sind, in einem Wort, mit der Vernunft. Jede Lehre ist gehalten, in diesem Sinne vernünftig zu sein, was nicht sagen will, daß jede Lehre gehalten sei der Vernunft zugänglich zu sein; nichts hindert die Vernunft das anzunehmen, was sie übersteigt. Übrigens findet der Theolog, außerhalb dieser unverletzlichen Grenze, Raum und Anwendung für seine Vernunft. Er wendet sie selbst auf zwei verschiedene Arten auf die Thatsachen der übernatürlichen Offenbarung an, welche er verkündigt. Er entwickelt vor Allem die directen Beweise der Authenticität dieser Offenbarung, dann bemüht er sich die Nothwendigkeit dieser Offenbarung fühlen zu lassen, wie auch ihre Übereinstimmung mit der unveränderlichen Natur des menschlichen Herzens, mit einem Wort, die vollkommene Vernunft1) eines Systems, welches die Vernunft niemals erfunden haben würde. Ja je mehr dieses System bei seinem Ursprunge von der Annahme der menschlichen Vernunft entfernt ist, desto schlagender und bewundernswürdiger wird sein Zusammentreffen mit derselben. Also bei der christlichen Art des Predigens abdiciert die Vernunft auf einem Punkte, aber nur auf einem einzigen; sie entschließt sich, nicht zu verstehen, sie entschließt sich, die Hauptthatsachen des Christenthums nicht a priori aufbauen zu können, und übergibt sie dem Herzen, welches sich ihrer bemächtigt, sie ausarbeitet und sie belebt; aber sie findet in einer nahen Sphäre die reichlichen Entschädigungen, welche wir so eben angedeutet haben. Sie für sich allein macht nicht den Christen, aber sie bereitet ihn vor; sie führt von dem Natürlichen zu dem Übernatürlichen diejenigen, welche die mächtige Kraft des Geistes Gottes nicht ohne Übergänge in die hohe Sphäre des innern Glaubens getragen hat.

Also der Widerspruch, in welchem Vernunft und Glauben ihrem Wesen nach stehen sollen, ist nicht wirklich vorhanden. Es sind zwei Gewalten, welche in zwei von einander geschiedenen Reichen herrschen. Diejenigen also, welche wollen, daß das Christenthum nur Glaube sei, täuschen sich ebenso wie diejenigen, welche behaupten, daß es ganz Vernunft sei; es ist das eine wie das andere, es beschäftigt die Gedanken und das Gefühl, abwechselnd entzieht und leiht es sich der Prüfung, es hat seine Dunkelheit und sein Licht. Der Theologe ist gehalten zu beweisen, daß er wohl unterrichtet ist; er soll dem Evangelium die Achtung der Vernunft selbst verschaffen; aber er ist nicht gehalten, er soll sich sogar hüten, das Evangelium in eine Linie mit der Vernunft zu stellen.

Die rationalistischen Prediger scheinen zwischen den beiden äußersten Ansichten, welche wir bezeichnet haben, einen Mittelweg zu suchen; aber es wäre Kurzsichtigkeit, wollte man nicht sehen, daß das eine dieser Extreme sie mit Macht anzieht und sie ganz in Anspruch nimmt. Und wie undankbar ist ihre Aufgabe! Alles zu natürlichen Annahmen zurückzuführen ist augenscheinlich ihre Prätention; das Gebiet des Glaubens ganz durch die Vernunft einzunehmen, jedes Mysterium aus der Religion auszurotten, das ist der Zweck ihrer Bestrebungen; wenn ihnen dies gelungen sein wird, werden sie sich, wie die gewöhnlichen Philosophen, angesichts des Mysteriums befinden. Was werden sie gewonnen haben? Durchaus Nichts, als daß sie sich einen längern und kostspieligern Weg gemacht haben. Ich denke mir, daß die ungläubigen Logiker die Rationalisten nur mittelmäßig philosophisch finden müssen. Werden sie vielleicht, indem sie das Evangelium rationalisieren, ein vollkommeneres System gefunden haben, als die sind, welche die Philosophie hervorbringen kann? Was die Gewißheit betrifft, so hat ihr System nicht mehr davon, wie irgend ein anderes, was den innern Werth anlangt, so konnten sie ein ebenso plausibles und ebenso gutes finden, ohne sich die Mühe zu geben durch das Evangelium zu gehen. Dieses ausgepreßte Christenthum, welches sie an die Stelle des wahren setzen, hat nichts Eigenthümliches, nichts Individuelles, nichts, was es über die Theorien der reinen Vernunft erhebt. Sie bilden sich ein, indem sie Thatsachen von einer transcendentalen Wichtigkeit wegstreichen, die Klinge nur einfach von der Scheide zu befreien, aber daß sie besser reden: sie haben die Klinge fortgeworfen und der Griff allein ist in ihren Händen geblieben. Des großen Factums der Versöhnung und des ganzen Gefolges der Ideen, welche sich daran knüpfen, beraubt, was ist, frage ich, das Christenthum? Für gewöhnliche Geister eine gewöhnliche Moral, für die andern ein Abgrund von Inconsequenzen.

Ich glaube, daß die wahren Philosophen finden werden, daß die orthodoxen Prediger eine solidere und mehr philosophische Stellung angenommen haben. Und wir legen Werth auf diesen Beifall, denn, wenn die Philosophie uns kein sehr großes Vertrauen einflößt, in so fern es sich um die Lösung des großen Lebens-Problems handelt, so verhält es sich anders mit der Philosophie als Methode, mit dem philosophischen Geiste. Die Kunst zu abstrahieren, zu verallgemeinern, Prinzipien zu ordnen, wird niemals von aufgeklärten Predigern gering geschätzt werden, und es gibt auch eine christliche Philosophie. In bestimmte Grenzen eingeschlossen, findet sie ihre Anwendung beim Predigen und bis hin in das Leben. Und in unsern Tagen haben wir sie schon mit eben so viel Erfolg als Angemessenheit auf das Christenthum angewendet gesehen. Wenn dies ein Mittel ist, so muß man es gebrauchen. Die Zeiten mahnen uns. Die Gesellschaft ist offenbar in einem Zustande der Crisis. Niemals wurde die Unfähigkeit der menschlichen Weisheit, die Ruhe der Völker und das Glück der Menschheit zu befestigen, klarer erkannt. Die Philosophie, aus Verzweiflung ihre alten Wege verlassend, wirft sich mit Hingebung in den Mystizismus. In ihrem Bedürfnis nach irgend einem andern Lichte, als dem ihrigen, erdenkt sie sich selbst Offenbarungen, gibt sie sich Dinge zu glauben; sie wird sie so lange glauben, als man etwas glauben kann, was man selbst erfunden hat. An uns ist es, ihr zu zeigen, „was in keines Menschen Herz gekommen ist,“ an uns ist es, ihr das dunkle Bedürfnis, welches anfängt sich seiner selbst bewußt zu werden, immer fühlbarer zu machen und dasselbe zu befriedigen, dieses Bedürfnis, die Wissenschaft an etwas Offenbartes, die Vernunft an den Glauben zu knüpfen. Wird es uns gelingen? ich weiß es nicht. Aber die Zeiten mahnen und drängen uns.

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Das Vernunftgemäße
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