Vinet, Alexandre - Die Lieblings-Götzen.
Matth. XIX,16-23
„Und siehe, Einer trat zu ihm, und sprach: Guter Meister, was soll ich Gutes tun, dass ich das ewige Leben möge haben? Er aber sprach zu ihm: Was heißest du mich gut? Niemand ist gut, denn der einige Gott. Willst du aber zum Leben eingehen, so halte die Gebote. Da sprach er zu ihm: Welche? Jesus aber sprach: Du sollst nicht töten. Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsches Zeugnis geben. Ehre Vater und Mutter. Und du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. Da sprach der Jüngling zu ihm: Das habe ich alles getan von meiner Jugend auf; was fehlet mir noch? Jesus sprach zu ihm: Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach. Da der Jüngling das Wort hörte, ging er betrübt von ihm; denn er hatte viele Güter.“
Meine Brüder, wir würden uns nicht wundern, wenn einige Personen die Bedingung, welche Jesus Christus jenem jungen Mann auferlegt, sonderbar und übertrieben fänden. Nachdem er alle Gebote des Gesetzes seit seiner Jugend beobachtet hatte, musste er weniger wie ein anderer darauf gefasst sein, sich eine so neue und so strenge Verpflichtung auferlegt zu sehen, wie die, alle seine Güter zu verkaufen, um den Erlös davon den Armen zu geben. Und warum musste er tun, was weder das Gesetz, noch Jesus Christus selbst an irgend einer Stelle auf eine allgemeine Art empfohlen hat, und was höchstens in außerordentlichen Umständen, die der Lauf der Zeiten und der Dinge nur selten herbeiführt, eine Verpflichtung werden kann? Wenn Jemand diese Fragen an sich richtet, so wird er die Beantwortung derselben nicht weit zu suchen brauchen. Ein Blick auf die Erzählung des Evangelisten wird die Schwierigkeiten heben: „Wenn du vollkommen sein willst,“ sagt Jesus Christus, „verkaufe Alles, was du hast und gib es den Armen.“ Wenn du nicht vollkommen sein willst, so kannst du bei dem stehen bleiben, was du bis zu diesem Tage getan hast; allein wenn du nach der Vollkommenheit trachtest, so musst du dich von Allem loszumachen wissen, und um mir den Beweis dafür zu liefern, fordere ich dich auf, mir das Opfer deiner Güter zu bringen; ich könnte etwas anderes, ich könnte mehr von dir verlangen; allein es genügt mir, dass du dich zu Allem bereit zeigest, was es mir gefallen wird, dir zu befehlen. Du weißt nicht, warum ich Deine Güter von dir verlange; allein ist es nötig, dass du es wissest? Ist es nicht genug, dass du weißt, dass ich dein Herr bin? Du hast dich an mich gewendet, wie an deinen guten Meister; du hast mir den Titel gegeben, der nur Gott zukommt; bin ich dein Meister, oder bin ich es nicht? Habe ich ein Recht auf Alles, was dein ist, oder habe ich es nicht? Gehörst du mir ohne Rückhalt an? Das ist es, was ich prüfen will, bevor ich dich unter die Zahl meiner Jünger aufnehme; denn ich muss Herzen haben, welche nicht geteilt sind, Herzen, welche vollkommen sein wollen. Derjenige, welcher, nachdem er die Hand an den Pflug gelegt, rückwärts blickt, kann mir nicht folgen; derjenige, welcher nicht bereit ist, sein Kreuz auf sich zu nehmen, ist meiner nicht wert; ich schicke die Weltmenschen zu ihrer Welt, und die Toten zu ihren Toten zurück.
In dieser Art, das heißt, durch sich selbst erklärt, enthält die Antwort des Heilandes nichts Sonderbares, nichts Übertriebenes mehr. Übrigens wird es, durch die Folge der Erzählung, mehr als wahrscheinlich, dass die Wahl jener Bedingung keineswegs eine willkürliche war. Der junge Mann war reich, und hing, wie es scheint, sehr an seinen Gütern. Wer weiß? Vielleicht hätte er Jesus seine Zeit, seine Kräfte, selbst sein Leben leicht geopfert; allein seinen Gütern entsagen, dem Ansehen, der ruhigen Sicherheit, welche sie ihm verschafften, plötzlich ein unscheinbarer Mensch werden, nachdem er eine wichtige Person gewesen, von Andern abhängen, nachdem er die Andern von sich hatte abhängen sehen, in jene Art des Nichts hinabsteigen, welche das Los des Armen ist: alles dies, wenn wir selbst jeden Gedanken an Geiz und Sinnlichkeit (den wir gern als unter seiner Würde voraussetzen) ausschließen, alles dies setzt seine guten Absichten auf die peinlichste Probe. Warum verlangt man nicht sein Leben von ihm? Es ist ihm weniger teuer. Aber eben deshalb hat Jesus Christus es nicht von ihm gefordert. Es sind seine Güter und nichts anderes, welche er will, weil das schwerste Opfer auch das geeigneteste ist, die Hingebung außer Zweifel zu setzen. Oder, um besser zu reden, es sind nicht die Güter, welche Jesus verlangt, es ist ein Herz, welches er auffordert, einen Entschluss zu fassen; es muss dieses Herz entscheiden zwischen einem vergänglichen Reichtum und dein Herrn; wenn dieser Reichtum den kleinsten Teil dieses ungewissen Herzens zurückhält, so will der Herr es nicht; jeder Mensch, welcher vollkommen sein will, soll dem Herrn sein ganzes Herz geben.
Die Wichtigkeit der Aufforderung zeigt sich in einem neuen Licht, wenn man alles erwägt, was diese Worte enthalten: Wenn du vollkommen sein willst. Niemanden ist es unbekannt, dass sie auf diese hinauskommen: Wenn du selig sein willst. Nicht, meine Brüder, dass die Seligkeit der Preis, die Bezahlung irgend einer Hingebung sei; allein diese Hingebung ist das Zeichen, dass man den Weg des Glaubens, der Liebe und folglich der Seligkeit betreten hat, so dass dieses Wort Jesu leicht in der Art wiedergegeben werden kann: Du kommst zu mir mit einer großen Bereitwilligkeit des Geistes; du willst mich als Meister annehmen; du trägst Sorge für das ewige Leben; allein es fragt sich, ob es dir wirklich Ernst ist mit dem, was du angibst. Willst du vollkommen sein? Bist du bereit, mir Alles zu opfern? Ziehst du meinen Dienst allen andern Dingen vor? Wenn dem so ist, komme; ich sehe, dass du mich liebst. Allein wenn du, nachdem du im Übrigen mir Alles geopfert, irgend etwas für dich, für dein Fleisch, für deinen natürlichen Menschen zurückbehältst; wenn es etwas auf der Welt gibt, das du mir verweigerst, so hat dich dein Glaube noch nicht erneuet, so bist du noch der alte Mensch, so bist du noch fern von dem Himmelreich und dem ewigen Leben.
Was Jesus Christus zu jenem jungen Menschen sagt, das sagt er zu uns Allen, und wir ziehen daraus eine Lehre für die viel zu große Zahl der Christen, welche ihrer Hingebung Grenzen zu setzen meinen, und welche, nachdem sie öffentlich dem wahren Gott einen Altar errichtet haben, in einem dunklen Winkel ihres Hauses irgend einen geheimen Götzen bewahren, irgend einen Baal, von dem sich loszumachen sie nicht den Mut haben. Der junge Mensch zeigte, indem er sich nach der Antwort von Jesus traurig entfernte, dass es wenigstens eine Sache gab, welche aufzuopfern er sich nicht entschließen konnte. Viele Christen verbleiben, nachdem sie sich äußerlich dem Dienst Christi gewidmet, nachdem sie scheinbar ihr Leben nach seinem Beispiel und seinen Geboten geregelt haben, hartnäckig in irgend einer dem Evangelium zuwiderlaufenden Gewohnheit oder Neigung, oder auch wohl, was im Grunde Dasselbe ist, sie hängen mit solcher Vorliebe an Dingen, die an sich unschuldig und rechtmäßig sind, dass, sobald der Augenblick kommt, wo der Dienst des Herrn das Opfer derselben fordert, sie sich unfähig dazu finden, und alle ihre früheren Zugeständnisse durch eine schimpfliche Weigerung Lügen strafen.
Darin besteht die List des Fürsten der Finsternis. Er tut, als ob er vor der Macht des göttlichen Geistes zurückwiche. Er verlässt einen Posten nach dem andern; allein seine Niederlage ist nur eine scheinbare. Auf der Grenze selbst, welche er bereit scheint, als Flüchtling zu überschreiten, findet er eine Festung, welche zu besetzen er sich beeilt, und von wo aus er das ganze Land beherrscht. Man kann, meine Brüder, seinen Eifer durch eine Menge von Verbesserungen kundgetan, eine Menge von Opfern gebracht, und nichts desto weniger nichts verloren haben. Jeder von uns hat mehrere Neigungen, mehrere Gewohnheiten, mehrere Laster vielleicht; aber es gibt immer eine Neigung, welche alle übrigen an Lebhaftigkeit und Tiefe übertrifft; einen Geschmack, ein Bedürfnis, welchem bei Gelegenheit wir alle übrigen zu opfern bereit sein würden. Und gleich wie ein Baum, der fast gänzlich aus der Erde herausgehoben ist, sein ganzes Leben aus einer Wurzel zieht; gleich wie, bei einer allgemeinen Lähmung oder bei einem fast vollständigen Tod aller Glieder, das hartnäckige Leben sich in sein hauptsächlichstes Organ flüchtet, konzentriert und darin festhält; eben so lebt die Seele, welche auf eine einzige Gewohnheit, auf einen einzigen Zweig ihres Egoismus zurückgeführt ist, darin mit der ganzen Fülle ihres Lebens, und gewinnt an Intensivität, was sie an Ausdehnung verloren hat. Hat man alle seine kleineren Bedürfnisse geopfert, so ist man keineswegs unglücklich, sobald man seine vorherrschende Leidenschaft befriedigen kann, und die Genüsse, welche sie gewährt, werden um so lebendiger, als die Seele, sich keiner andern Neigung überlassend, gar keine Störung kennt; so dass man dreist behaupten kann, dass, fleischlich gesprochen, die Menschen die glücklichsten sind, welche nur eine Leidenschaft haben, und welche dieser Alles unterzuordnen wissen.
Man muss daher nicht leichthin einen Menschen bewundern, der bei seinem ersten Betreten der christlichen Laufbahn mit Entschiedenheit das Messer an die Wurzeln seiner Fehler setzt, und sich gleichsam ein Vergnügen aus diesen Opfern macht; es geschieht, weil er, vielleicht ohne sich es selbst zu gestehen, oder unter scheinbar begründeten Vorwänden, sich einen fleischlichen Genuss, eine weltliche Gewohnheit, einen Teil des alten Menschen vorbehalten hat, auf welchen er immer mehr Wert gelegt, als auf alles Übrige. Sobald man einmal das Gewissen in Bezug auf eine solche Neigung oder auf eine solche Gewohnheit irre geleitet hat, so überlässt man sich derselben ohne Rückhalt; man gefällt sich darin, man trägt sie auf Händen, als das letzte Asyl des natürlichen Menschen; es ist so süß, mit ruhigem Gewissen weltlich zu sein, die Welt zu genießen und zu verdammen, und gleichzeitig zu den Auserwählten und zu den Glücklichen der Erde zu gehören! Übrigens schadet die Vorliebe, welche man bewahrt, den andern Pflichten so wenig, sie lässt so viel Dinge zur Verfügung des Herrn, dass es ein Übermaß von Strenge sein würde, wollte man ihr gänzlich entsagen.
Törichter Mensch! hast du denn nicht begriffen, dass eine Neigung, die du nicht bezähmst, dich bezähmt, und dass du in jeder Sache, wo du nicht Herr bist, zum Sklaven wirst? Wenn es eine Neigung gibt, welche aufzuopfern du dich nicht entschließen kannst, so gehörst du ihr und nicht mehr dir selbst an. Ist nicht die Liebe zur Welt ganz in einer jeden dieser besonderen Gewohnheiten enthalten? Ist es nicht dasselbe, ob man durch eine Kette gebunden ist oder durch tausend, sobald es eben so schwer ist, eine Kette zu brechen, als tausend? Werden nicht in der Stunde der Opfer, in der Stunde des Todes, welcher der Inbegriff aller Opfer ist, diese Bande wie eine ganze Welt auf eure Flügel drücken? Diese geringe Sache ist also eine große Sache; und was ihr auch von der Unwichtigkeit eines solchen Bandes sagen möget, eure ganze Freiheit geht dabei zu Grunde. Allein man muss die Frage ganz besonders in Bezug auf Gott und auf seine Rechte prüfen. Und in dieser neuen Beziehung stellt sie sich so: Wenn Jesus Christus von dem jungen Menschen alle seine Güter verlangte, so, es ist leicht zu begreifen, verlangte er von ihm, dass ihn kein Band mehr fesseln, welches der Liebe, die eine Seele für den Herrn haben soll, das Gleichgewicht halten könnte. In gleicher Art verlangt er von uns, dass wir nichts so sehr lieben, als dass wir nicht bereit wären, es aus Liebe ihm zu überlassen.
Nun, und wenn wir es ihm verweigern, wie sehr sind wir nicht schuldig? - Erstens, was Jesus Christus von uns verlangt, verlangt er im Namen Gottes, als Gott und für Gott. Und wenn wir es verweigern, so verweigern wir es Gott, das heißt, wir verweigern es dem, von dem wir es haben, dem wir alles schuldig sind, und ohne den wir nichts sind. Diese Betrachtung macht jede Art von Rechtfertigung zunichte, welche wir auf die geringe Anzahl oder die geringe Wichtigkeit der Gegenstände, die wir verweigern, gründen möchten. Es ist ganz gleich, ob wir Gott eine Welt oder eins unserer Haare verweigern. Es kommt wenig darauf an, ob wir Gott in tausend Punkten nachgeben, wenn wir ihm in einem einzigen widerstehen. Ein einziger vorbedachter oder absichtlicher Ungehorsam vernichtet allen unseren Gehorsam. Sobald wir Gott etwas vorenthalten zu können glauben, ist es klar, dass er nicht Gott für uns ist. Denn dieser heilige und geheiligte Name drückt auf die geringste unserer Verpflichtungen ein eben so unverletzliches Siegel, als auf die Gesamtheit unserer Pflichten. Und hier ist der Fall, die vortreffliche Schlussfolge von St. Jakobus anzuwenden: „Denn so Jemand das ganze Gesetz hält und sündigt an Einem (Gebot), der ist es ganz schuldig. Denn der da gesagt hat: Du sollst nicht ehebrechen, der hat auch gesagt: Du sollst nicht töten.“ Die kleinste Pflicht steht, wenn man den betrachtet, der sie auferlegt, in gleichem Range mit der ganzen Moral.
Was zieht unsere Weigerung in einem einzigen Punkte, und wäre es selbst der unbedeutendste, nach sich? Nichts anderes, meine Brüder, als dieses: wir verweigern Gott unser Herz. Wenn unser Herz Gott gehörte, so würden wir ihm nichts anderes verweigern können. Drum sind es weder unsere Handlungen, noch unsere Gewohnheiten an sich selbst, um welche er sich kümmert, sondern die Gesinnungen, welche ihm diese Handlungen offenbaren. Verweigern wir ihm irgend etwas, so verweigern wir ihm unser Herz; verweigern wir ihm unser Herz, so verweigern wir ihm Alles.
Aber wir tun mehr, meine Brüder, bedenkt es wohl! Nicht allein verweigern wir unser Herz Gott, sondern wir geben es einem Andern. Es gibt mithin einen andern Gegenstand, welchen wir Gott vorziehen. Dieser Gegenstand aber, den wir Gott vorziehen, ist augenscheinlich Gott für uns, und die Verehrung, welche wir Gott verweigern, übertragen wir auf diesen andern Gegenstand. Dieser Gegenstand wird von da ab der Gegenstand unsers Kultus, ein Götze, den wir frech dem einzig wahren, ewig gesegneten Gott entgegenstellen; und der äußere Kultus, den wir fortfahren dem Ewigen darzubringen, ist nur ein törichter, schmachvoller, gottloser Spott.
Werdet Ihr noch wiederholen, dass Ihr Gott doch viele Opfer gebracht habt? Wollt Ihr die Aufzählung aller Verbesserungen machen, welche Ihr aus Liebe zu ihm unternommen und vollbracht habt? Aus Liebe zu ihm! sagt, aus Liebe zu Euch. Gedrängt auf der einen Seite von der Liebe zur Welt, auf der andern von der Sorge um Eure Seligkeit, und nicht den Mut besitzend, zu wählen, habt Ihr alles das zusammengefasst, wovon das Opfer Eurem Herzen am wenigsten kostete; alles das, wovon Ihr Euch ohne innere Zerrissenheit trennen konntet; non diesem aufgehäuften Ausschuss habt Ihr dem Herrn ein Brandopfer bereitet; allein das teure Schaf, welches zu schonen Ihr in Euch selbst geschworen hattet, habt Ihr an Euren Busen geschlossen. Euer Christentum ist ein zwischen Gott und der Welt, ohne das Zugeständnis Gottes, veranstalteter Vergleich; aber sprecht nicht von Liebe; denn wenn es die Liebe wäre, welche Euch Eure ersten Opfer eingegeben hätte, so würde sie Euch auch zu dem Letzten vermocht haben. Muss man es sagen? Das letzte Opfer würde das erste in der Reihe Eurer Gaben gewesen sein. Gerade gegen das teure Schaf würdet Ihr zu allererst das Messer gerichtet haben; denn die erste Bewegung Eurer Liebe würde gewesen sein, für Gott das würdigste Opfer zu suchen, und das übrige wäre ohne Zweifel gefolgt; man beklagt nicht den Verlust einiger Strohhalme, nachdem man Garben gegeben hat. Würdet Ihr Euch nicht gesagt haben: Der Gott, den ich liebe, will mein Herz; wohlan! mein Herz ist da, in diesem Gelüst, in dieser Leidenschaft, in dieser Gewohnheit; drum ist das die erste Sache, welche ich ihm darbringen werde. Was habt Ihr statt dessen getan? Ihr habt gesagt: Hier ist das, worauf ich den wenigsten Wert lege; das wird der Anteil Gottes sein; allein das, was mich interessiert, was mich fesselt, was mich ergötzt, das wird mein Anteil sein. Unglücklicher! was du am höchsten schätzest, ist auch das, worauf Gott den größten Wert legt; was du behalten willst, ist gerade das, was er haben will. Messe danach die Größe deiner Beleidigung ab.
Wenn ein Heide wie du redete, so würde man ihn strenge richten. Allein für einen Christen ist eine solche Rede der höchste Grad der Undankbarkeit. Er möge nur einen Augenblick über die Verfahrungsweise Gottes rücksichtlich seiner Kreaturen nachdenken. Sie waren schuldig; er schuldete ihnen nichts; er hat ihnen etwas gegeben. Und was denn, meine Brüder? Hat er etwa von den Endpunkten der Schöpfung, auf der Grenze des Nichts, irgend einen Gegenstand ohne allen Wert hergeholt, von dem er selbst seine Blicke abgewendet hätte? Unwürdige Annahme, auf die wir nicht eingehen. Oder vielmehr: Hat er, um unseren Horizont mit einem glänzenderen Lichte zu erleuchten, in den Tiefen der Himmel irgend eine jener tausend Sonnen genommen, mit denen er verschwenderisch die Wände seines unsterblichen Palastes besäet hat? Seine Güte verschmäht solche Geschenke, und wir bedurften ein anderes Licht, als das der Sonne. Nun wohlan! Hat er aus der Mitte der Seraphim irgend einen Engel zu uns herniedergeschickt, um unser Elend mit uns zu teilen und uns die ewigen Wahrheiten zu lehren? O, ruhmwürdiger Bote! O, glückselige Botschaft! O, göttliche Güte! Allein auch dies ist noch nichts. Er hat uns das Beste, was er besaß, gegeben; er hat uns seinen Heißgeliebten geopfert. Der, in welchem die ganze Fülle der Gottheit wohnt, der, an dem Gott schon vor der Entstehung der Welt Freude fand, Jesus Christus, ist auf die Erde gekommen und hat uns unterrichtet; nicht genug, er hat gelitten; nicht genug, er ist unter unseren Streichen gestorben, und nach seinem Tode ist er durch seinen Geist noch fortwährend bei uns. Das ist das, was uns Gott gegeben hat. Und wir, als Erwiderung, wir bedauern, wir beweinen und verweigern ihm … was? ein Staubkorn, ein Nichts; allein, was bei alle dem wir am meisten lieben, und wovon das Opfer dem Opfer unsers Herzens gleichkommen würde; wir verweigern ihm das Einzige, was er von uns fordert, das Einzige, was wir ihm anbieten können.
Und alles dies, behaltet es wohl, meine Brüder, geschieht unter dem Deckmantel des Christentums, mit der Prätension, Christ zu sein, mit der Überzeugung, es in der Tat zu sein. Und diejenigen, welche so handeln, bilden sich ein, den Hafen erreicht zu haben, und von den ruhigen Wassern aus, wo ihr Fahrzeug mit eingezogenen Segeln unbeweglich vor Anker liegt, blicken sie mit Mitleiden auf die Schiffe im offenen Meer, welche sich gegen die Wut der Winde wehren und abmühen. Ach! glücklicher vielleicht sind diese Schiffe, welche von den Wogen gepeitscht werden! Derjenige, welcher, angetrieben, Christ zu werden, sich zunächst besonnen und berechnet hat, welche Mühen und welche Opfer es ihm kosten würde, und, zurückgeschreckt von all den Anforderungen der Religion, sich für eine Zeitlang wieder in die Welt gestürzt hat, ist gewiss zu beklagen; aber zum wenigsten hat er, in einer Beziehung, das Christentum verstanden, er weiß Alles, was das vollkommene Gesetz verlangt, er hat eine Vorstellung und ein Gefühl von der christlichen Vollkommenheit; vielleicht wird ihn dieses Gefühl verfolgen, und vielleicht wird man ihn durch das Gesetz in das Reich der Gnade eintreten sehen. Allein derjenige, welcher, einen chimärischen Vergleich zwischen seinen Leidenschaften und dem Gesetze Gottes erdenkend, dahin gelangt ist, durch eine unglückliche Kunst seine Laster an das Christentum zu ketten, aus dem Geist und dem Fleisch, der Welt und dem Himmel ein einziges Ganzes zu machen, derjenige, welcher ruhig in so falschen und so trügerischen Beziehungen lebt, der da, meine Brüder, ist zu beklagen, mehr als man es sagen kann; tausend Mal besser ist die Angst der Kinder des Jahrhunderts, als diese verhängnisvolle Sicherheit; und, was man am meisten wünschen kann, ist, dass dieselbe sobald als möglich gestört werden möge.
Gott veranlasst es zuweilen; er bringt die Anhänger dieses sanften und bequemen Christentums zuweilen in eine solche Lage, dass sie notwendiger Weise wählen müssen, und dass das Opfer ihres Lieblings-Götzen den einzigen unzweideutigen Beweis bildet, welchen sie Gott von der Realität ihres Christentums geben können. Dann zerreißt der Vorhang, verschwindet die Täuschung; dann erscheint das Christentum, indem es sich mit einem Gefolge von peinlichen Notwendigkeiten und unvorhergesehenen Opfern zeiget, und Hand an unser Teuerstes, unser Einziges, legt, dann erscheint es in seinem wahren Licht, versteht es wohl, in dem Licht, in welchem es einem wahren Weltkind erscheinen soll. Dann findet man es nicht mehr so schön, fühlt man sich nicht mehr so gedrungen, es zu verteidigen, ist man nicht mehr so sehr der Feind derer, welche es angreifen, sondern teilt vielmehr in etwas ihren Unwillen; dann beklagt man sich auch über die Übertreibung der zu konsequenten Christen, bildet die Opposition gegen sie, oder, wenn man es nicht wagt, sein früheres Verfahren bis zu diesem Punkte Lügen zu strafen, so verschließt man seinen Ärger in sich, und beweist nur auf eine negative Art, d. h. durch Gleichgültigkeit und Lauheit, dass man sich wirklich geändert hat. Wie dem auch sei, bei solchen Gelegenheiten offenbart uns Gott uns selbst; und diese plötzliche Enttäuschung kann uns auf einem Umweg oder durch einen Stilstand darauf zurückführen, unsere Religion von vorn anzufangen, und den neuen Wein des Christentums in das neue Gefäß einer wiedergeborenen Seele zu tun.
An Euch ist es jetzt, meine Brüder, zu sehen, ob die Geschichte des jungen reichen Menschen auf Euch Anwendung findet. Jesus Christus sagt nicht zu Euch, wie zu ihm: Gehe hin, verkaufe, was du hast und gib es den Armen; allein er sagt zu Euch: Seid Ihr bereit, es zu tun? Gibt es etwas, was Ihr mehr liebt, als mich, oder liebt Ihr mich über alles andere? Wenn Ihr, um Euren Glauben zu bekräftigen, Eure sozialen Vorteile, die Privilegien Eures Ranges, das Vergnügen, die gute Gesellschaft aufgeben müsstet, würdet Ihr dann noch Christen sein? Wenn Ihr eine weniger feine Nahrung, eine bescheidenere Wohnung, einen lästigen Umgang haben müsstet, würdet Ihr dann noch Christen sein? Wenn Ihr den öffentlichen Geschäften entsagen, in die Dunkelheit eines Lebens ohne Einfluss zurücktreten müsstet, würdet Ihr dann noch Christen sein? Wenn Ihr Eurem Geiste das Vergnügen anziehender Studien, die Genüsse der Wissbegierde versagen müsstet, würdet Ihr dann noch Christen sein? Wenn Ihr von einem hochgestellten Christen, einem Führer der Seelen, einem Licht der Kleinen selbst einer dieser Kleinen werden müsstet, gedemütigt würdet von Euren Untergebenen, Rat empfinget von den Einfältigen und Tadel von den Armen, würdet Ihr dann noch Christen sein? Wenn Ihr gemeinschaftliche Sache mit Menschen machen müsstet, welche die Welt nicht liebt, und die, auffallend vielleicht durch ihre Formen, achtungswert durch ihren Eifer und ihre Frömmigkeit sind, würdet Ihr dann noch Christen sein? Wenn Ihr Euch einmal in Gesellschaften, die Ihr gerne besucht, aussprechen, wenn Ihr einem Ungläubigen, den Ihr fürchtet, entschieden entgegentreten, wenn Ihr die Erlösung in einer Versammlung von deistischen Schöngeistern bekennen müsstet, würdet Ihr dann noch Christen sein? Das alles sind Fragen, welche wir sämtlich an uns selbst richten müssen, um uns kennen zu lernen. Zögern wir nicht, es zu tun.
Oft ist diese weltliche Neigung, dieser innere Götze nicht leicht zu entdecken; man kann ihn lange anbeten, ohne ihn zu sehen; man bringt ihm einen Kultus dar, dessen man sich nicht bewusst ist. Aber wenn, bei einem aufrichtigen Bekenntnisse des Christentums, man in sich Kälte, Gleichgültigkeit, Widerwillen, eine Art von Unzusammenhang des Lebens wahrnimmt, das ist ein Symptom, welches man nicht vernachlässigen darf. Es deutet an, dass ein Bann unter unserm Dache haust, welcher Ursache ist, dass der Segen Gottes nicht daselbst herniedersteigen kann; es offenbart das Vorhandensein eines Götzen auf dem Altar unsers Herzens, eines Götzen, welcher den heiligen Geist verhindert, dort zu wohnen; es verrät eine Liebe, welche die Liebe Gottes zurückstößt.
Wenn die ganze Pflanze stirbt, so suchet unter der Kinde den unbemerkbaren Wurm, der sie zernagt; suchet in Eurer Seele diese letzte Sünde, welche sie verheert. Beeilet Euch, Eurem Meister ein letztes Opfer darzubringen, auf dass seine Gunst ganz zu Euch komme, oder vielmehr fühlet, wie, da Ihr in Eurem Herzen einen Feind Gottes beherbergen könnt, Ihr selbst sein Feind seid; erkennt, dass Ihr ihn nicht liebtet. Nachdem Ihr als Auserwählte triumphiert habt, demütiget Euch als Sünder; gestehet, dass das ganze Werk, welches Euch so vorgerückt schien, von Neuem zu beginnen ist, und beladet damit die unermüdliche Barmherzigkeit des Herrn; sie wird Euch nicht fehlen; sie wird reichlich den zerschlagenen Herzen zu Teil, und lässt für immer den eitlen und traurigen Triumphen her eigenen Gerechtigkeit, des falschen Friedens und des Pharisäismus, die Triumphe der Demut, der Reue, der Kindlichen Hingebung und der Geistesarmut folgen.