Vinet, Alexandre - Der Glaube - Erste Rede.
Joh. XX, 29.
“Selig sind, die nicht sehen, und doch glauben.“
Die Apostel haben nicht gemeint, der Welt etwas Anderes zu bringen, als eine Botschaft, eine große Nachricht, die Nachricht von der Tatsache, welche die Engel den Hirten von Bethlehem in diesen Worten verkündigten: „Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ Treue Botschafter, aber keineswegs gleichgültig, sondern selbst bewegt von der großen Nachricht, welche sie der Welt brachten, haben sie davon mit der ganzen Wärme der Freude und der Liebe gesprochen. Prediger der Gerechtigkeit, haben sie die praktischen Konsequenzen der Tatsachen, welche sie verkündigten, mit Kraft verfolgt, und in ihren bewundernswürdigen Belehrungen verzweigt sich ein Haupt-Gefühl, die Dankbarkeit, in eine Menge von Pflichten und Tugenden, die, zusammen genommen, die heiligste Moral bilden. Aber damit sind die Grenzen ihres Amtes bezeichnet; und gewiss, sie haben nicht die Prätension gehabt, der Welt eine neue Philosophie zu bringen. Dennoch haben sie es getan, meine teuren Zuhörer; und diejenigen, welche in unsern Tagen zu untersuchen bemüht sind, welche Ideen sich hinter den großen Tatsachen des Evangeliums verbergen, welche bemüht sind, den Geist desselben zu durchdringen, und, wenn es erlaubt ist, sich so auszudrücken, das System desselben zu konstruieren, können sich der Bewunderung nicht erwehren, wenn sie die Verkettung der Theile dieses großen Ganzen betrachten, die vollkommene Harmonie derselben unter einander, und die Harmonie jedes Theils mit den beständigen Kennzeichen und den unauslöschlichen Bedürfnissen der menschlichen Natur.
Dieser philosophische Charakter des Evangeliums würde schon schlagend sein, wenn die Apostel ihn absichtlich ihren Lehren aufgeprägt zu haben schienen; aber um wie viel mehr muss er es nicht sein, wie sehr ist er nicht geeignet, die Göttlichkeit des Evangeliums ahnen zu lassen, wenn man sieht, dass die Aufzeichner des Evangeliums sich desselben nicht bewusst gewesen sind, und dass er sich dennoch, so zu sagen, ihnen zum Trotz, ihrem Werke aufgedrückt hat. Dieser philosophische Charakter würde schon in einer einfachen Religion auffallend sein, in einer Religion von rationellem Ansehen, welche sich, mit einem Wort, der natürlichen Religion so weit näherte, als dies ein positives Glauben nur kann; aber wie sehr ist er es nicht, wenn man bedenkt, dass diese Religion ganz mit sonderbaren Dogmen durchwebt ist, bei deren ersten Anblicke die Vernunft erschrickt. Wenn diese anscheinend so willkürlichen Dogmen Ideen verdecken, welche im höchsten Grade natürlich sind, und ein System, welches im höchsten Grade konsequent ist, wer wird hiervon nicht getroffen sein, meine Brüder? und wer wird nicht untersuchen wollen, vermöge welches Geheimnisses die erhabenste Vernunft aus der Torheit des Kreuzes, die Philosophie aus dem Dogma und die Klarheit aus dem Mysterium hervorleuchtet?
Nirgends, nach dem, wie es uns erscheint, ist dieser philosophische Charakter des Christentums lebendiger ausgeprägt, als in der Lehre des Evangeliums über den Glauben. Nicht allein ist die allgemeine Notwendigkeit des Glaubens darin anerkannt, wie in allen Religionen; sondern dies Prinzip nimmt dort eine Stelle ein, hat dort eine Wichtigkeit, zieht dort Wirkungen nach sich, welche beweisen, dass das Evangelium allein das Prinzip in seiner ganzen Kraft erfasst, in seiner ganzen Ausdehnung angewendet hat, dass es, mit einem Worte, allein die Forderungen der menschlichen Natur gründlich erkannt und vollkommen befriedigt hat. Es wird daher, meine Brüder, folgende Behauptung ein würdiger Gegenstand Eurer Aufmerksamkeit sein: Die menschlichen Religionen und die Religion Jesu Christi sind, in Bezug auf das Prinzip des Glaubens, in der philosophischen Wahrheit, mit dem Unterschiede, dass in den ersteren nur ein schwacher und nutzloser Anfang von Wahrheit ist und dass sich in der Religion Jesu Christi die Wahrheit in ihrer ganzen Fülle und ihrer ganzen Kraft befindet. Indem wir diese Behauptung beweisen, entwickeln wir zugleich in seinen verschiedenartigsten Anwendungen das Wort des Erlösers: Selig sind, die nicht sehen, und doch glauben!
Ich sage zunächst, dass die menschlichen Religionen der philosophischen Wahrheit gehuldigt haben, indem sie den Glauben zu ihrer Grundlage machten, oder dass sie vielmehr selbst diese Huldigung sind, insofern sie durch ihr Vorhandensein allein die Notwendigkeit und die Würde des Glaubens kund getan haben. Dies ist die erste Idee, welche wir entwickeln müssen.
Die Notwendigkeit und die Würde des Glaubens: es gibt nichts Philosophischeres, nichts Vernünftigeres, als diese Idee. Und doch wäre der Glaube, wenn man den gewöhnlichen Reden der Männer der großen Welt Glauben schenkt, nur das Erbteil eines schwachen Geistes und einer kranken Phantasie. Er ist im Gegenteil, in einem gewissen Maße, das gemeinsame Erbteil des Menschengeschlechts, und, in einem erhöhten Maße, das besondere Eigentum der erhabenen Charaktere, der edlen Geister, und die Quelle alles dessen, was in der Welt das Gepräge der Größe an sich trägt.
Das ganze Leben des Menschen, in seiner Substanz betrachtet, ist aus diesen drei Dingen zusammengesetzt: Erkennen, Fühlen, Handeln. Das Gefühl ist das Motiv der Handlung, die Erkenntnis ist der Ausgangspunkt für jenes wie für diese, sie ist also die Basis des Lebens, und alles bezieht sich auf sie, alles kommt zu ihr zurück. Vor allem muss man erkennen; aber der erste Blick zeigt uns, welch ein Missverhältnis zwischen den Mitteln des Erkennens und zwischen der Mannigfaltigkeit der Objekte stattfindet. Es fehlt in der Tat viel, dass in all den Fällen ein Sehen und Prüfen möglich wäre, wo es uns um die Erkenntnis zu tun ist. Eine weite Kluft breitet sich in der Regel zwischen der Erkenntnis und der Tat aus; über diesen Abgrund ist durch den Glauben eine Brücke geworfen; sich auf eine gegebene Tatsache, einen ersten Begriff stützend, schwingt sich derselbe über den leeren Raum hinweg und trägt uns an das andere Ufer. Irgend eine physische oder moralische Erfahrung, eine äußere oder innere Anschauung, durch Beobachtung oder unmittelbar erlangt, ist der Ausgangspunkt, die Ursache des Glaubens; denn man glaubt niemals ohne irgend einen Grund für das Glauben. Jene erste Tatsache verlangt den Glauben nicht, noch lässt sie ihn zu; aber ihre logischen Folgen, ihre logische Entwickelung nehmen für den Menschen nur vermöge des Glaubens eine Gestalt an, werden eine Realität nur durch den Glauben, der sie dem Menschen vergegenwärtigt und ihm eine Welt erbaut über die hinaus, welche ihm die persönliche Erfahrung offenbart hat.
Man ist gewohnt, die Vernunft dem Glauben gegenüber zu stellen; man müsste vielmehr sagen, dass sie sich gegenseitig ergänzen, und dass sie zwei Pfeiler sind, von denen einer allein ohne den andern das Leben nicht unterstützen könnte. Man beklagt den Menschen, dass er nicht alles wissen oder vielmehr nicht alles sehen kann, und dass er noch genötigt ist, zu glauben; aber das heißt ihn eines seiner Vorzüge wegen beklagen.
Die direkte Erkenntnis macht keine Anforderung an die lebendigen Kräfte der Seele; sie ist ein passiver Zustand, welchen kein freier Wille ehrt; aber in dem Akt des Glaubens (denn es ist ein Akt und kein Zustand) ist die Seele in gewisser Art schöpferisch; wenn sie die Wahrheit nicht erschafft, so bringt sie sich dieselbe doch näher, eignet sich dieselbe an, verwirklicht sie; eine Idee wird eine Tatsache, eine stets gegenwärtige Tatsache. Der Gedanke, gestützt auf eine Kraft der Seele, bekundet dann seine ganze Würde, indem er seine wirkliche Unabhängigkeit entfaltet; der Mensch vervielfacht sein Leben, dehnt sein Universum aus und erreicht die vollendete Gestalt des denkenden Wesens. Seine Würde liegt darin, dass er glaubt, nicht dass er weiß.
Der Glaube nimmt einen noch erhabeneren Charakter an, wenn er seinen Stützpunkt in dem Worte eines Zeugen findet, dessen Seele von der unsrigen durchschaut und als Autorität anerkannt worden ist. Dann knüpft er sich, unter einem neuen Namen, dem des Vertrauens, an die edelsten Elemente unserer Natur, an die Sympathie, an die Dankbarkeit, an die Liebe; er ist die Bedingung der geselligen Verbindungen und bildet die eigentliche Schönheit derselben. Weit entfernt, der Vernunft zu widersprechen, ist er das Werk einer erhabeneren Vernunft, und man kann sagen, dass er der Seele das ist, was das Genie dem Geiste ist. Als die Apostel ihren auferstandenen Herrn an seinen Worten wiedererkannten, als Thomas, ihrem Zeugnisse nicht glaubend, seinen Finger in die Wunden Jesu legen wollte, wer war vernünftig, wenn nicht die Apostel, und wer unvernünftig, wenn nicht Thomas? Und für wie viele Menschen würde nichts desto weniger Thomas der Typus der Klugheit sein, wenn er nicht durch Tradition der der Ungläubigkeit geworden wäre.
Fassen wir das Gesagte zusammen, meine Brüder. Diese Kraft, welche den Augenschein ersetzt, diese Kraft, welche in dem Augenblick, wo der Mensch, bei seinem Vordringen in den Ozean des Gedankens, anfängt, den Grund zu verlieren, und wo die Wasser über ihm zusammenschlagen, die Kraft, welche ihn dann erfasst, emporhebt, unterstützt und ihn durch den Schaum des Zweifels bis zum ruhigen und reinen Hafen der Gewissheit schwimmen lässt, diese Kraft ist der Glaube. Es ist der Glaube, nach dem Apostel, durch welchen uns das, was wir hoffen, gegenwärtig gemacht, und wodurch uns das, was wir nicht sehen, sichtbar wird. Es ist der Glaube, welcher das Gesicht, das Zeugnis der Sinne, die persönliche Erfahrung, die mathematische Gewissheit ergänzt.
Der Glaube ist nicht der gezwungene und passive Beitritt eines durch Beweise besiegten Geistes; er ist eine Kraft der Seele, welche in ihrem Prinzip eben so unerklärlich ist, wie irgend eine der angegebenen Eigenschaften, welche den Menschen unter seines Gleichen unterscheiden; eine Kraft, welche sich nicht begnügt, die Wahrheit anzunehmen, sondern welche sich ihrer bemächtigt, welche sie umfasst, sich mit ihr identifiziert, und sich durch sie zu all den Konsequenzen führen lässt, welche sie bezeichnet und welche sie befiehlt.
Der Glaube ist nicht die Leichtgläubigkeit; der leichtgläubigste Mensch ist nicht immer der, welcher am besten glaubt; eine Glaubensvorstellung verliert sich um so leichter, je leichter man sie angenommen hat; und die festesten Überzeugungen sind oft die, deren Annahme die größte Überwindung gekostet hat. Die Leichtgläubigkeit ist nur die sklavische Gefälligkeit eines schwachen Geistes, während der Glaube die ganze Spannkraft und Stärke der Seele in Anspruch nimmt.
Fügen wir hinzu, dass der Glaube eine Fähigkeit ist, deren Maß, eine Spannkraft, deren Intensivität je nach den Individuen wechselt, während die unmittelbare Anschauung für alle gleich und identisch ist. Unter den Anhängern einer und derselben Lehre, oder unter den gleich aufrichtigen Verteidigern einer und derselben Wahrheit, glauben die einen stärker, das Objekt ist ihnen deutlicher, näher, gegenwärtiger; andere, deren Überzeugung völlig frei von Zweifeln ist, haben doch nicht eine eben so deutliche Wahrnehmung, eine eben so lebendige Ansicht des Objektes.
Man könnte glauben, dass da, wo Vernunftschlüsse die Überzeugung hervorgebracht haben, es keine Anwendung, seinen Platz für den Glauben mehr gibt. Es würde dies ein Irrtum sein. Die Vernunftschlüsse lassen die Wahrheit außer uns. Um ein Theil unseres Lebens, ein Theil von uns selbst zu werden, ist es nötig, dass sie durch den Glauben lebendig gemacht wird. Wenn die Seele nicht mit dem Geiste Hand in Hand geht, so wird der begründetsten Gewissheit die Festigkeit und die Lebendigkeit fehlen. Es gibt einen Muth des Geistes, wie einen Muth der Seele, und an eine fern liegende Wahrheit fest zu glauben, setzt, in gewissen Fällen, eine Kraft voraus, die nicht Jedermann hat. Was man auch tun mag, die Schlüsse, zu welchen man durch eine Reihe von logischen Folgerungen gekommen sein wird, werden schwerlich auf den Geist den Eindruck der Wirklichkeit machen. Es wird immer ein großer Unterschied stattfinden zwischen Vorstellen und Sehen, zwischen Schließen und Erfahren. Es scheint, dass nach Allem der Geist noch nötig habe zu sehen; es scheint, dass es keine andere kräftige und wirksame Überzeugung gibt, als die, welche von dem sinnlichen Eindrucke herrührt; und hierzu gerade ist der Glaube gut: er ist eine Art von Gesicht.
Übrigens, meine Brüder, hätte man alle Elemente der Gewissheit vereinigt, die Schlussfolgerung, mit der man am meisten zufrieden ist, trägt dennoch nicht immer das Pfand der vollkommenen Ruhe für unsern Geist in sich. Man möchte, in Bezug auf einige Personen, sagen, dass, je länger und je gekrümmter der Weg von den Vordersätzen zum Schluss ist, je mehr verliert die Überzeugung an Vollständigkeit, gleichsam, als ob sie sich in diesen Umwegen ermüdete und bei dem Ausgange der Schlussfolgerung erschöpft ankäme. Oft wird sich am Ende der logischsten Schlussfolgerung ein hartnäckiger Zweifel einstellen, ein eigentümlicher Zweifel, der keine Beweise beibringt, der sich nicht zu rechtfertigen versucht, aber der nichts desto weniger einen Schatten auf die am besten gewonnenen Überzeugungen wirkt; und wenn er nicht im Innern entsteht, so kommt er von Außen; verbreitet in der Menge, welche uns umgibt, belagert er uns mit der ganzen Masse des fremden Unglaubens. Man ahnet nicht, wie schwer es ist, zu glauben, mitten in einer Menge, welche nicht glaubt. Da findet der Glaube ein würdiges Feld, da ist es, wo sich seine Größe zeigt. Dieser Glaube an bestrittene Wahrheiten, sobald er ruhig, geduldig und bescheiden ist, ist eins der wesentlichen Attribute aller Menschen, welche, groß in der Reihe der Geister gewesen sind. Was ist es, was den großen Namen eines Galilei, eines Descartes, eines Bacon so viel Erhabenheit in unserer Einbildungskraft gibt, wenn nicht der Glaube an Wahrheiten, womit sie die Geister bereichert hatten? Ein Newton herrscht mit Majestät über die Welt der Wissenschaften, doch er hat ohne Kampf geherrscht; sein Antlitz ist das eines Souveräns, nicht das eines Helden. Aber wir fühlen mehr als Bewunderung für die großen Männer, welche ich genannt habe; eine Dankbarkeit, gemischt mit Zärtlichkeit und Verehrung, ist das einzige Gefühl, womit wir unsere Schuld bezahlen können; unsere Seele dankt ihnen, nicht gezweifelt, ihren Glauben bewahrt zu haben, mitten in einer allgemeinen Meinungsverschiedenheit, und sich heldenmütig über den Nichtbeitritt ihrer Zeitgenossen hinweg gesetzt zu haben.
Soll ich es nur sagen? Ja, zu unserer Schande! Der Glaube findet seine Anwendung selbst bei Tatsachen der persönlichen Erfahrung. So ist unser Geist, so wenigstens ist er geworden, dass er einen Unterschied macht zwischen der äußern und der inneren Erfahrung, und dass, während er dem Zeugnis der Sinne ohne Zögern nachgibt, es ihm schwer wird, sich dem Zeugnis des Gewissens zu unterwerfen. Er bedarf Ergebung, und folglich einer Art von Glauben, um diese ersten Wahrheiten zuzugestehen, die er in sich trägt, welche keine Vorgänge haben, welche keine andere Bürgschaft mit sich führen, als ihre Existenz selbst, welche sich nicht beweisen, aber welche sich fühlen lassen. Unwiderstehlich durch ihre Natur, muss sich mancher unter uns zwingen, daran zu glauben. Hat man nicht solche gesehen, welche versuchten, die uns einwohnenden Begriffe von Recht und Unrecht auf die des Nützlichen zurück zu führen, damit sie auf diesem Umwege zur Materie und folglich zur physischen Erfahrung zurückkämen? Man möchte sagen, dass es sie schmerzt, den Weg der Erkenntnis abgekürzt vor sich zu sehen, und dass sie die Umwege ungern missen, welche ihnen Gott hat ersparen wollen; und dieses sonderbare Vorurteil verpflichtet uns, in gewisser Art, der Natur der Dinge Gewalt anzutun, und das, was nur eine Kundgebung des Augenscheinlichen ist, als einen Akt des Glaubens darzustellen.
Wie dem auch sei, der Glaube, das heißt, das Sehen des Unsichtbaren, das gegenwärtig gewordene Abwesende, in allen möglichen Sphären, ist die Kraft der Seele und die Kraft des Lebens. Man würde nicht zu weit gehen, wenn man sagte, dass er der Ausgangspunkt einer jeden Handlung ist, weil Handeln die feste Stellung der Gegenwart verlassen, und Hand an die Zukunft legen heißt; aber was zum wenigsten gewiss ist, ist, dass der Glaube die Quelle alles dessen ist, was in den Augen der Menschen einen Charakter von Würde und von Kraft an sich trägt. Die gewöhnlichen Seelen wollen sehen, berühren, betasten; die andern haben das Auge des Glaubens, und sie sind groß. Es ist immer, weil sie Glauben in andere, in sich selbst, in die Pflicht oder in die Gottheit setzten, dass die Menschen große Dinge getan haben. Der Glaube war zu allen Zeiten die Kraft der Schwachen und das Heil der Unglücklichen. In einer großen Krisis, in einer schweren Noth ist die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs immer für den gewesen, der gegen jede Hoffnung gehofft hat. Und man kann die Größe der Individuen und der Völker genau nach der Größe ihres Glaubens messen.
Der Glaube war es, welcher Leonidas, als die Rettung Griechenlands in seine Hand gelegt war, mit dreihundert Mann achtmal hunderttausend Persern die Spitze bieten ließ. Das Vaterland hatte ihn zum Sterben in die Thermopylen geschickt; er starb daselbst. Was er tat, war nicht vernünftig nach den gewöhnlichen Ansichten. Jede Wahrscheinlichkeit war gegen ihn; aber indem er das Gewicht seiner großen Seele und eines dreihundertfachen Heldentodes in die Waagschale legte, tat er dem Schicksale Gewalt an. Sein Tod, wie man es mit Glück ausgedrückt hat, wurde gut angewendet. Griechenland, gebunden durch ein so großes Beispiel, verpflichtete sich, unbesiegbar zu sein. Und dieser selbe Geist des Glaubens, ich meine des Glaubens an seine eigene Kraft, war der Grundzug aller Handlungen dieses berühmten Perserkrieges, welcher die Unabhängigkeit Griechenlands sicherstellte.
Was war es, was in dem weiten Raume des Ozeans den unerschrockenen Sterblichen aufrecht erhielt, der uns einen neuen Weltteil geschenkt hat? Es war ein feuriger Glaube. Sein überzeugter Geist hatte bereits Amerika berührt, die Ufer desselben durchsucht, gründete daselbst bereits Kolonien und Staaten, und brachte, auf einem neuen, kürzeren, wenn schon abweichenden Wege, die Religion Jesu Christi dem äußersten Orient. Er führte seine Gefährten in ein bekanntes Land; er ging zu Hause. Drum, von dem Augenblick, wo er diese Überzeugung erfasst hat, mit welcher Geduld habt Ihr ihn da nicht von einem Herrscher zum andern gehen sehen, um sie zu bitten, eine Welt anzunehmen! Er verfolgt während langer Jahre sein erhabenes Betteln, schmerzlich berührt durch die Verweigerung, aber sich leicht hinwegsetzend über die Verachtung, alles ertragend, vorausgesetzt, dass man ihm die Mittel liefere, Jemandem dieses wunderbare Land geben zu können, welches er mitten in den Ozean gestellt hat. Während der Gefahren einer gewagten Seefahrt, während des Geschreies einer empörten Schiffsmannschaft, während er seinen Tod in den erzürnten Augen seiner Matrosen geschrieben sieht, bewahrt er seinen Glauben, lebt er von seinem Glauben, und verlangt er nur drei Tage, von denen der letzte ihm seine Eroberung darbietet.
Was für eine Kraft hatte der jüngere Brutus bis zu dem Augenblick, wo ihn sein Glaube verließ! Seit jener düstern Vision, hervorgebracht durch die Verminderung dieses Glaubens, konnte man vorher sagen, dass seine Schicksale und die der Republik erfüllt wären. Er fühlte es selbst: es war mit dem Vorgefühle einer Niederlage, dass er bei Philippi kämpfte; und ein solches Vorgefühl verwirklicht sich immer.
Die Römer, bei ihrem Entstehen, überredeten sich, dass sie die ewige Stadt gründeten. Diese Überzeugung war der Grund ihrer entsetzlichen Größe. Von Generation zu Generation fortgepflanzt, unterwarf diese Idee ihnen die Welt. Eine unerhörte Politik ließ sie sich entschließen, mit dem Feinde nur als Sieger zu unterhandeln. Welchen Werth legten sie nicht auf den Glauben, da sie nach der Schlacht von Cannae dem unklugen Varro dankten, an der Rettung der Republik nicht verzweifelt zu haben? Es war offenbar eine verkehrte Schlussfolge, sich zu sagen: Glauben wir an den Sieg und wir werden Siegen; aber nicht die Völker, welche am richtigsten schließen, sind die stärksten; und die Kraft des Menschen, um nur von Kraft zu reden, liegt mehr in seiner Überzeugung selbst, als in der Güte der Beweise, auf welche er sie stützt.
Worin, meine Brüder, hat die lange Dauer gewisser Regierungsformen, gewisser Einrichtungen liegen können, welche wir heut zu Tage dem Rechte und der Vernunft so wenig gemäß finden? In dem Glauben der Völker, in einem Gefühl, das unklar, unbestimmt, aber kräftig und tief war, in einer Art von politischer Religion. Es ist gut, dass eine Regierung gerecht, eine Dynastie wohltuend, eine Einrichtung vernünftig sei; aber der Glaube kann, bis auf einen gewissen Punkt, alle diese Dinge ersetzen; allein diese Dinge ersetzen nicht immer den Glauben. Die besten Einrichtungen, in Bezug auf die Solidität und die Dauer, sind nicht die, welche der Theorie am meisten entsprechen; der Glaube bewahrt sie besser als die Vernunft; die rationellsten werden in der Regel erst konsolidiert, nachdem die Überzeugungen des Geistes Eigentum der Seele geworden sind, und der Bürger, nicht mehr unaufhörlich die Gründe seines Gehorsams aufsuchend, durch einen lebendigen und unwillkürlichen Trieb gehorcht, dessen Grund nichts anderes als der Glaube ist.
Was noch mehr zum Erstaunen ist, oft knüpft sich der Glaube an einen Menschen. Es gibt große Charaktere, Männer von eisernem Willen, denen eine geheimnisvolle Gewalt über die weniger kräftigen Naturen gegeben ist. Die meisten Menschen leben von diesem Glauben an stärkere Menschen. Eine geringe Zahl von Individuen ziehen das Menschengeschlecht in ihrer Bahn mit sich fort. Man wägt nicht alle Gründe ab, welche sie angeben, man berechnet nicht alle die Möglichkeiten, welche sie entwickeln, man richtet sie nicht, man glaubt an sie. Viele Menschen erwarten von diesen bevorzugten Naturen den Anstoß, um sich zu entscheiden, um zu handeln, um zu glauben. Und wer kann genug darüber erstaunen? Ihre Schwachheit verwandelt sich in Stärke unter diesem mächtigen Einfluss, und sie werden, aus Sympathie, zu Dingen fähig, wovon ihnen, sich selbst überlassen, weder der Gedanke noch der Wunsch in den Sinn gekommen wäre. In der Gefahr, wenn die Verwirrung sich aller Herzen bemeistert, schöpft die Menge Muth und Vertrauen aus den sicheren Worten eines Mannes, der für sich nur sich selbst hat; alle Welt glaubt an den, der an sich glaubt, und seine verwegene Hoffnung ist oft die beste Hilfsquelle in einem Augenblicke allgemeiner Verzweiflung.
Wir überlassen es Euch, die Beispiele zu mehren. Wir sind gewiss, dass uns von allen Punkten der Geschichte der Beweis der Wahrheit entgegentritt, von welcher wir reden. Überall, wo der Mensch der Zukunft die Lebendigkeit der Gegenwart, und den Vorstellungen seines Geistes die Macht der Wirklichkeit hat geben können, überall, wo der Mensch an andere, oder an sich, oder an Gott glaubt, ist er stark; ich spreche von einer relativen Stärke; stark in einer Beziehung, vielleicht schwach in allen andern; stark für eine gewisse Zeit, vielleicht schwach darüber hinaus; stark für das Gute, aber auch für das Schlechte.
Die menschlichen Religionen haben also einer Wahrheit gehuldigt, ein allgemeines Bedürfnis verstanden, indem sie dem Menschen einen Gegenstand des Glaubens lieferten, der durch seine Natur über allen anderen steht. Sie haben vollkommen gefühlt, dass der Mensch, um sich auf dem rauen Pfade des Lebens zu erhalten, nicht genug hat an dem, was er weiß, und an dem, was er steht; dass seine sichersten Stützen in der Region des Unsichtbaren sind, und dass er immer weniger stark durch die Wirklichkeit, als durch den Gedanken sein wird. Welche sie auch waren, sie gaben den zahlreichen Seelen, die nicht an sich selbst glauben können, eine Stütze; und indem sie die Zuflucht und die Hoffnung in den Himmel legten, so beherrschten sie die Begebenheiten von einer solchen Höhe, dass sie das ganze Leben umgaben und beschützten.