Eß, Leander van - Was war die Bibel den ersten Christen?

Eß, Leander van - Was war die Bibel den ersten Christen?

Die Bibel war den ersten Christen das einzige Lehr- Trost- und Erbauungsbuch. Die ewige selbstständige Weisheit - Gott! - hatte sich feierlich darin ausgesprochen mit Ernst und Liebe: als Schöpfer, Erhalter und Vater aller vernünftigen Wesen; und die Menschen konnten fortan vor allen ferneren Verirrungen sicher seyn; da die ewige Vernunft - nach Plato's und Rousseau's Wunsch - ihre Leitung selbst übernommen hatte. Moses und die Propheten: welche Gottesmänner! wo findet man ihres gleichen? - Und die zehen Gebote - diese ausdrückliche Gesetzgebung der Gottheit! - sind und bleiben ewig der Original-Kodex, in dessen Satzungen alle bürgerlichen und moralischen Gesetze enthalten sind. Am vorzüglichsten aber schätzten die ersten Christen das neue Testament, als das schönste reichste Vermächtnis ihres Herrn und Meisters, der sie nach seinem Heimgang zum Vater nicht als arme Waisen hinterlassen hatte. Sein Evangelium war ein Vermächtniß, ein reicher Familien-Fond, der niemals verschleudert werden konnte. Erkauft durch sein Blut, hatte er sie zu Miterben seines Reichs erklärt, und damit niemals Zweifel darüber entstehen konnten, hatte er ihnen göttliche Urkunden in Händen gelassen, die wohl falsch gedeutet, aber nie verfälscht werden konnten!

Nichts ist einfacher, rührender und anziehender, als die Geschichte seines göttlichen Lebens, seiner Thaten und Schicksale, und wer die gelesenen Evangelien ohne gebesserte Gesinnungen, oder doch ohne den Wunsch besser zu werden, aus der Hand legen könnte, der ist keiner Besserung mehr fähig. Auch in Ermangelung aller äusseren Beweise, kann die Wahrheit und Göttlichkeit des Evangeliums aus inneren Gründen unwiderleglich dargethan werden; und wer die Vorschriften Jesu mit einfältig treuem, frommem und anspruchlosem Herzen befolget, wird inne werden, daß seine Lehre von Gott ist! Sein Tod - nicht bloße Besiegelung seiner Lehre, wie seine Feinde wähnen - war den ersten Christen ein Bundeszeichen zwischen Gott und Menschen, allen Frommen zum Trost, und den Sündern zur heilsamen Erweckung: daß daran breche ihr Herz, und des Vaters Gnade und erbarmende Liebe erkenne: damit sie suchen Vergebung der Sünde bey ihm, und neues Leben und ewige Seligkeit. Das Auffassen des Todes Christi als eines Opfers aller Opfer, und zugleich als gewissestes Sachzeichen unserer erhaltenen Begnadigung, ward daher von den Aposteln und allen redlichen Christen von jeher als Hauptgrundlehre, als Mittelpunkt, als Kern und Stern der ganzen heiligen Schrift und des Christenthums anerkannt. Und nie wird der Zeitpunkt eintreffen, wo die apostolische Zuversicht zu dem Gekreuzigten als überflüssig verworfen oder als mangelhaft verbessert werden könnte. Noch ehe der sündigen Welt Versöhnung und Gnade vom Kreuze herab angeboten wurde, sehnte sich das gepreßte Menschenherz Jahrtausende darnach, und wird sich immer, so lange es noch Theil an Gott zu haben wünscht, darnach sehnen. Denn diese Sehnsucht entspringt ganz natürlich aus dem drückenden Gefühle unserer tiefen Verschuldung und Unwürdigkeit vor Gott, wie aus der anerkannten Unvermögenheit, sich selbst von Schuld und Strafe zu befreien, oder das verübte Böse zu vergüten. Der Glaube an die Nothwendigkeit einer höhern Vermittelung und Versöhnung ist daher so alt als die Welt. Das Christenthum bestätigte ihn nur factisch und drückte sein erhabenes Siegel darauf. Der ächzende blutige Golgatha bleibt ewig Zeuge davon! Alle wider die biblische Versöhnungslehre muthwillig erregten Zweifel sind daher eben so unvernünftig, als alle Bemühungen fruchtlos sind und immer bleiben werden, die stolze Vernunft für diese göttliche Lehre zu interessiren, so lange das Herz nicht selbst das Bedürfniß einer höhern Versöhnung fühlt und sich nach Wiederverein mit Gott durch Christum sehnt. Und darum hüteten sich auch die ersten Christenlehrer vor nichts so sehr als dergleichen Herzenswahrheiten, die nur innerlich gefühlt, mit Vertrauen und dankbarer Liebe genossen und mit zarter Gewissenhaftigkeit aufs practische Leben angewandt werden wollen, durch künstliche Schulbeweise oder Wohlrednerei begreiflich oder annehmlich zu machen, vollkommen überzeugt, daß nach Pauli Geständniß und Warnung 1 Cor. 1, 17 - 31. das Wort vom Kreuze dadurch seine Kraft verliere und verächtlich werde. Daher vermieden auch die apostolischen Väter in ihren vertraulichen und herzlichen Vorträgen (Homilien) allen Prunk menschlicher Weisheit und Beredtsamkeit; hielten sich strenge an Gottes Wort, und drangen auch bey den Hörern desselben darauf, daß sie sich einzig und allein an dem Evangelium als erprobter Gotteskraft zur Beseligung Aller, die daran glauben Röm. 1, 16. vest halten, und keinen Fingerbreit von dem einfältigen buchstäblichen Verstand der heil., Schrift abweichen sollten. Und so waltete eine bewunderswürdige Uebereinstimmung und Gleichförmigkeit zwischen den ersten Christen und ihren Vorstehern und Lehrern im Glauben und Wandel, in Wünschen und Hoffnungen, im Thun und Lassen - eine Uebereinstimmung, die durch keinen Zwang oder äussere Gewalt, sondern allein durch Wahrheit und Liebe erweckt und durch treue Verkündigung und warme Beherzigung des göttlichen Wortes bevestiget und unterhalten wurde. Die Kraft und die Wirkungen desselben erkannten sie nicht vom bloßen Hörensagen, sondern aus eigener Erfahrung nach Röm. 1, 16. Röm. 10, 27. 1 Cor. 1, 18-21. 2 Tim. 3, 16. 17. Joh. 20, 31. Jac. 1, 21. Joh. 6, 68. 1 Petr. 1, 19-21. Ephes. 1, 23. Col. 1, 6. Hebr. 2, 12. Jer. 23, 20. Jes. 49, 2. Jes. 55, 10. 11. rc. rc. und dergleichen innere Erfahrungen, wovon das gebesserte Herz der zuverlässigste und unwiderleglichste Zeuge ist, waren für die ersten Christen die einleuchtendsten und kräftigsten Beweise für die Wahrheit und Göttlichkeit des Evangeliums, welchem die christlichen Tugendhelden mit so inniger und brünstiger Liebe, mit so vester unerschütterlicher Treue anhiengen, daß nichts in der Welt im Stande war, ihren Glauben an JEsum Christum und seine himmlischen Lehren und Verheissungen wankend zu machen. Daher ihr Abscheu gegen jede Neuerung, gegen alle - auch nur die mindeste Abweichung von dem einfachen biblischen Lehrbegriff, wie ihn die Apostel aufgestellt und ihren Nachfolgern überliefert hatten. Wagte es ein falscher Lehrer oder irgend ein verkehrter Mensch, verdächtige oder glaubenswidrige Sätze vorzutragen, die mit der Lehre Jesu und seiner treuen Boten in der Bibel nicht übereinstimmten, so verstopften die Gläubigen die Ohren, setzten ihre Seelenhirten davon gleich in Kenntniß, und diese wußten die Neuerer bald von ihren Verirrungen zurück zu bringen, oder doch durch die Kraft des göttlichen Worts zu besiegen. Und so geschahe es, daß Viele in den ersten Jahrhunderten entstandene Kezereien ohne Concilienschlüsse, ohne feierlichen Richterspruch der Kirche, in der Stille unterdrückt wurden und ohne Geräusch und Aergerniß verschwanden.

Von dem Eifer der ersten Christen - von ihrer Liebe, Achtung und vesten Anhänglichkeit an Gottes Wort und seine treuen Verkünder, können wir uns heutiges Tages kaum mehr einen Begrif machen. Nicht nur als fleißige Hörer, besonders auch als treue Bewahrer und Befolger des göttlichen Wortes studirten sie auch dasselbe daheim, und stellten Tag und Nacht die heiligsten Betrachtungen darüber an. Besonders gaben sich die christlichen Familienväter alle Mühe, die darüber in den gottesdienstlichen Versammlungen vernommenen Erklärungen zu Hause zu wiederholen und den Ihrigen warm ans Herz zu legen. Und so waren, nach dem Wunsche und der Anleitung der Apostel und der ersten christlichen Bischöfe, die christlichen Hausväter - jeder im Kreise seiner Familie - gleichsam so viele Haus-Pfarrer, oder Familien-Seelsorger, und nach dem Zeugniß des heil. Chrysostomus die Privatwohnungen der Christen gleichsam so viele Kirchen und Bethäuser, worinn die jungen Glaubigen durch Lehre, Gebet und das rühende Beispiel ihrer frommen Väter zu practischen Christen gebildet und vorbereitet wurden, ihren Glauben an Jesum Christum, den Heiland und Erlöser des Menschengeschlechts, mit ihrem Herzblute zu versiegeln. Diesen heroischen Glauben holten, verstärkten und unterhielten die ersten Christen aus der Bibel. Das Evangelium war ihr Katechismus, die Psalmen Davids ihr Gesang- und Gebetbuch; das Buch Hiobs, Salomons Sprüche und Prediger ihre Trost- und Sittenbücher, woraus alle Glaubigen belehrt, erbauet, im Glauben, Vertrauen und Liebe gegen Gott und Christus gestärkt und bevestigt wurden. Unter andern segensreichen Wirkungen dieses christlichen Bibelstudiums war jene vielleicht die segensreichste, daß man in den ersten drei Jahrhunderten durchaus keine Spur von Katechismen oder irgend einem religiösen Unterrichts- und Erbauungsbuch unter den Christen vorfand. Alle wurden von ihren treuen Vorstehern und Lehrern zur einzigen Trost- und Kraftquelle hingeführt, woraus Licht, Liebe und Leben fließt. Ihrer anvertrauten Heerde das Wasser des Lebens zu trüben, abzugraben, oder in dürftigen Portionen und am Ende gar nicht mehr darzureichen - hätten die ersten christlichen Lehrer als Hochverrath gegen den obersten Bischof unserer Seelen, 1 Petr. 2, 25. angesehen: und nur Miethlinge konnten sich späterhin einer solchen Treulosigkeit gegen ihre Heerde zu Schulden kommen lassen. Was die spätern Christen in künstlichen Katechismen, frostigen Belehrungs- und Erbauungs-Büchern rc. rc. vergebens suchten, fanden die ersten Christen vollauf in der Bibel. Was sind Kraft- und Geistlose Menschenworte gegen die gewaltige Rede des Herrn, welche die Völker der Erde ergriff, mächtige Sünder schreckte, Könige beugte, und sich trotz aller Feinde erhalten hat, durch so viele Jahrtausende bis auf unsere Zeit? - Den ersten Christen war daher die Bibel ihr größtes Kleinod! Manche wußten sie, oder doch ganze Bücher und Kapitel darin auswendig. Wer zur Zeit der Verfolgung feige und niedrig genug war, die heiligen Schriften den heidnischen Richtern auszuliefern, wurde allgemein verachtet und verabscheut, und konnte nur durch die schwerste, oft lebenslängliche Kirchenbuße mit den übrigen standhaft gebliebenen Glaubigen wieder ausgesöhnt werden. In Einöden und Wildnissen, wohin sich unter Diokletians wüthender Verfolgung eine große Anzahl Christen geflüchtet hatte, war die Lesung der Bibel ihre tröstlichste Unterhaltung. Damen und Frauen von hohem und niederem Range lasen sie mit gleicher Begierde und einem heiligen Heishunger. Aeusserst rührend sind die Klagen der heiligen Märtyrinnen Agape, Chionia und Irene über den Verlust ihrer heiligen Schriften, deren Studium von frühester Jugend an, Tag und Nacht ihre seligste Beschäftigung gewesen war, und nach denen sie sich in ihrer grausigen Einöden, wohin sie eine Zeit lang vor der Wuth ihrer blutdürstigen Verfolger geflüchtet waren, mit Thränen der Wehmuth sehnten. Die ersten Christen kannten und verlangten keinen andern Trost und Unterricht als aus der Bibel. Hatte sich doch selbst ihr Herr und Meister während seiner mühevollen Laufbahn hienieden aus Gottes Wort, und besonders aus den Psalmen, mehrmals getröstet und aufgerichtet: was Wunder, wenn seine Freunde und Bekenner diesem göttlichen Beispiel folgten? Sie befanden sich wohl dabey, führten die Bibel als göttliches Orakel überall in Noth und Tod bey sich, und späterhin fand man in den Grabstätten der Christen manches Evangelienbuch noch unverwesen auf der Brust zu Tode gequälter Märtyrer und anderer treuen Zeugen Jesu liegen, die mit Freude und Zuversicht auf seine göttlichen Aussagen und Verheissungen gelebt hatten und gestorben waren.

II.

Mit welcher heiligen 'Gemüthsstimmung, in welcher heiligen Absicht die ersten Christen die heilige Schrift lasen, läßt sich schon voraus schließen. Die vornehmsten heidnischen Weisen (ein Timäus von Lokri, Plato, Cicero rc.) sahen vollkommen ein, und gestanden es feierlich, daß die Kenntnisse der natürlichen Pflichten durch den Sündenfall wären verdunkelt worden, so daß das bloße Licht der Vernunft nicht mehr zureiche, Gott zu erkennen, oder ihm eine würdige und seinem heiligen Willen angemessene Verehrung zu leisten. Alle frommen Heiden fühlten daher das Bedürfnis einer göttlichen Offenbarung, und sehnten sich darnach. Die Christen, denen das Glück der Offenbarung war zu Theil geworden, wußten es bestimmt aus ihren heiligen Urkunden, daß sich Gottes Geist nicht zu stolzen Seelen herab lasse, noch seine Wohnung in Herzen aufschlage, die mit Sünden befleckt sind, Sap. 1, 4. Sie suchten daher ihr Gemüth voraus durch anhaltendes Gebet, fromme Betrachtungen und Entsagungen von lasterhaften Neigungen, Wünschen und Begierden soviel möglich zu reinigen, und es für die Gnadenwirkungen des heiligen Geistes empfänglich zu machen; denn gründliche Heilung des Herzens läßt sich ohne Erleuchtung des Verstandes nicht denken: Verdorbenheit der Gesinnungen führt ihre Finsterniß mit sich, und es ist kein anderer Weg zum Urlicht zu gelangen, als die Besserung des Willens. Der heilige Geist ist eben sowohl ein Geist der Moralität als der Wissenschaft. Daher das rührende Flehen der ersten Christen in den uralten Kirchenhymnen zu dem heiligen Geiste, daß er ihren Verstand erleuchten, ihr Herz reinigen und für die Erkenntniß und treue Befolgung göttlicher Wahrheiten empfänglich machen, sie im Guten bestärken und bestätigen und durch lebendigen Glauben, durch Vertrauen, Dankbarkeit und Liebe, wieder mit Gott durch Christum vereinigen und ewig beseligen wolle. Um diesen göttlichen Geist flehte schon David im 50. und 119ten Psalm, denn ohne Licht und Leitung des heiligen Geistes wird Niemand die heilige Schrift recht verstehen noch anwenden lernen. Alle Vermessene, die sich mit ungeläutertem Herzen und blos gelehrtem Schuldünkel an die heil. Schriften wagten, wurden daher mit Verwirrung, Blindheit und Irrwahn bestraft. Voltaire erfrechte sich einst, das rührende Bußlied des gekrönten Sängers, den 50. Psalm in Verse zu bringen! Alles gieng gut bis auf V. 11., wo es heißt: Schaff' o Gott ein reines Herz in mir! Sein Hochmuth aber, sein wirklich infernalischer Haß gegen Gott und seine Anbeter erlaubten ihm nicht, mit dem königlichen Büßer um ein reines aufrichtiges Herz zu Gott zu flehen, dennoch strengte er sich an, den Vers poetisch zu übersetzen; aber plötzlich überfielen ihn die Schrecken der Hölle! die Feder erstarrte dem Verruchten in der verfluchten Faust, welche so viele Gotteslästerungen und Zoten zum Verderben der Unschuld und Gottesfurcht niedergeschrieben hatte. Er wollte fliehen und konnte nicht! Er fiel halb ohnmächtig auf sein Kanapee und gestand hernach mehrmals seinen Freunden, daß er nie ohne innere Angst und Zagen an diesen schauderhaften Vorfall denken könnte. … Die ersten Christen, die von Demuth ausgiengen und in Liebe endeten, wußten aus Erfahrung, daß man die göttlichen Aussprüche und Belehrungen in der heiligen Schrift mehr durch Liebe als durch spitzfindige Gelehrsamkeit, mehr durch Rührung als durch Vorwitz, mehr durch brünstiges Gebet und fromme Thränen als durch gelehrte Kommentare verstehen lerne. Ein frommes kindliches Gemüth kanns allein nur fassen: Daß Gottes Wort allein nur Wahrheit - was darinn geboten wird, weise Güte - was darinn verheissen wird, ewige Seligkeit sey - also Wahrheit ohne Trug! Güte ohne Hinterlist! reine Seligkeit ohne Mischung von Elend sey. Und so fanden und schmeckten sie, daß das Wort des Herrn süßer sey als Honig und Manna, kostbarer als Gold und Edelstein, und fruchtbarer als der Thau des Himmels, und wurden dadurch erquickt und erhoben, und befestigt an Geist und Herz, während unreine Gemüther nicht Göttliches darinn wahrnehmen; ein stolzes Herz das Göttlichste zurückstößt, eine zerstreute flatterhafte Seele den Geist verfliegen läßt, und in einem von zeitlichen Sorgen benagten Gemüthe Gottes Wort unter Dornen erstickt wird. Die ersten Christen lasen daher die heilige Schrift in keiner andern Absicht, als um stets weiser, frömmer und seliger in Gott zu werden. Wahrheit, Willensheiligkeit und Seligkeit war also das hohe Ziel, wornach sie einzig und allein strebten. Nichts aber ist von so hoher Simplicität, Zartheit und Schönheit, als die himmlische Wahrheit! Was von oben herab vom Vater des Lichts und dem Gotte alles Trostes geoffenbarte, zur Seligkeit unentbehrliche Wahrheit seyn soll, muß allen guten, reinen und himmlisch gesinnten Seelen bald erkennbare, fühlbare und genußreiche Wahrheit seyn. Ihr characteristisches Merkmal ist Heiligkeit! Und welche Lehre dringt wohl stärker auf Willensheiligkeit als der Glaube an das Geheimniß der ewigen Liebe, worinn alle Schätze himmlischer Weisheit und Seligkeit verborgen liegen. Nun aber concentriren sich alle in der heiligen Schrift verbreiteten Hauptwahrheiten darinn: daß in der Liebe Gottes des Vaters - in der Gnade seines göttlichen Sohnes - und in der Gemeinschaft des heiligen Geistes das ganze Glück des unsterblichen Menschen, mithin seine ganze Seligkeit beruhe - und daß Liebe frohe dankbare Gegenliebe gegen seinen göttlichen Retter das einzige Mittel zur Erreichung seiner verheissenen Seligkeit sey. Diese ewigen Heilswahrheiten sind nun überall so deutlich und bestimmt, so nachdrüklich und liebevoll in der ganzen heiligen Schrift ausgesprochen - sind für den gemeinsten Menschenverstand und selbst für Kinder so gemeinfaßlich und begreiflich, so anlockend und überzeugend, daß das helle Licht des Evangeliums von der Klarheit Christi nur von denen nicht gesehen wird, die von dem Gotte dieser Welt verblendet sind. 2 Cor 4, 4.

Der Mensch ist ein Sehnen Gottes! Die ganze heilige Schrift, besonders das neue Testament, drükt dieses liebevolle Sehnen der Gottheit gegen das trotzig verzagte Menschengeschlecht auf jedem Blatte aus - mit so viel Liebe und Ernst, daß eine mehr als natürliche Verblendung und Hartherzigkeit dazu gehört, den Lockungen Gottes in seine Vaterarme zu widerstehen. Der Glaube an eigene souveraine Kraft ist die Krankheit unsers Zeitalters; und Unglauben, Gottes-Verachtung, Mißhandlung und spottende Verwerfung der heiligsten Religionswahrheiten sind jezt an der Tagesordnung! Zu keiner Zeit hatten also

III.

Die Christen wohl mehr Ursache, sich unerschütterlich vest an Gottes ausdrükliches Wort zu halten, als in unsern heillosen Zeiten. Diese sind in der Bibel 2 Petr. 3 2 Tim 3, 1. 2 Thess. 2, 3-9 so mahlerisch und characteristisch beschrieben worden, daß man keinen Augenblik daran zweifeln darf, jene begeisterten, auch über die Ereignisse der entferntesten Zukunft von Gott richtig belehrten Männer haben keine anderen als unsere Gottesvergessenen Tage vor Augen gehabt. Wenn des Menschen Sohn kommen wird, die Welt zu richten, wird er Glauben unter den Kindern der Erde finden? Luc. 18, 8. Die ewige Wahrheit selbst hat die Abnahme des Glaubens in den letzten Zeiten klar vorausgesagt. Gottlosigkeit, Irreligion und Verspottung des Höchsten und Heiligsten, die in der Welt herrschend sind, also selbst ein Beweis, der für die Wahrheit und Göttlichkeit der christlichen Religion und ihrer heiligen Urkunden so laut spricht, wie die Verstokung der Juden! … Am rührendsten und überzeugendsten aber sind wohl die Geständnisse der Todfeinde der christlichen Offenbarung, die ihnen in heiteren Zwischenzeiten vielleicht wider Willen aus der Feder floßen. Ein so feierliches, über alle Einwendungen erhabenes Zeugniß zu Gunsten, des neuen Testaments kommt vor in Rousseau's Emile Tom. 3. p. 165. „Ich gestehe ihnen, daß die Erhabenheit der heiligen Schrift mich mit Bewunderung erfüllt, so wie die Reinigkeit des Evangeliums mein ganzes Herz einnimmt. Man durchgehe die Werke unsrer Philosophen mit allem Pomp ihrer Ausdrüke: wie geringfügig, wie verächtlich sind sie in Vergleichung der heiligen Schrift! Ists möglich, daß ein Buch, das so einfach und zugleich so erhaben ist, bloßes Menschenwerk seyn sollte? Ists möglich, daß die heilige Person, deren Geschichte hier beschrieben wird, ein bloßer Mensch seyn kann? Nimmt er irgendwo die Sprache eines Schwärmers oder eines ehrgeitzigen Partheigängers an? Welche Holdseligkeit, welche Reinheit ist in seinen Sitten! welche rührende Anmuth in seinem Benehmen! welche Erhabenheit in seinen Grundsätzen! welche tiefe Weisheit in seinen Reden! welche Geistesgegenwart in seinen Antworten! wie mächtig weiß er über seine Neigungen zu herrschen! wo ist der Mann, wo der Philosoph, der so ohne Schwäche, so ohne Prahlsucht leben und sterben kann! Wenn Plato sein Ideal von einem Gerechten beschreibt, der bey aller Schaam über fälschlich angeschuldigte Verbrechen, dennoch die höchsten Belohnungen der Tugend verdient, so bezeichnet er genau den Charakter Jesu Christi; diese Aehnlichkeit ist so treffend, daß alle christlichen Kirchenväter sie bemerkt haben.“

„Wie eingenommen vor Vorurtheilen, wie blind muß derjenige seyn, der den Sohn des Sophronikus (Sokrates) dem Sohn der Maria an die Seite stellen will? welch ein gränzenloser Abstand zwischen beiden! Sokrates, der ohne Schmach und Schmerzen starb, konnte leicht seinen Character bis ans Ende behaupten; und hätte sein Tod, so leicht er auch war, seinem Leben nicht die Krone aufgesezt, so möchte man doch daran zweifeln, ob Sokrates bey all seiner Weisheit wohl etwas mehr als ein Sophist war. Er erfand, sagt man, die Theorie der Sittenlehre: andere hatten vor ihm dieselbe im Leben ausgeübt, und er durfte daher nur sagen, was sie gethan hatten, durfte nur ihre Beispiele auf Vorschriften zurückführen, so was Alles geschehen! Aber wo konnte Jesus unter seinen Zeitgenossen die reine und erhabene Sittenlehre lernen, die er uns in Vorschriften und Beispielen gegeben hat? - Sokrates starb, indem er sich ruhig mit seinen Freunden unterredete; dieß scheint uns so angenehm als man es nur wünschen kann. Der Tod Jesu, der unter den qualvollesten Schmerzen von einer ganzen Nation verlästert, mißhandelt und angeklagt, sein Leben dahin gab, ist der schreklichste, den man je fürchten kann. Sokrates, als er den Giftbecher trank, segnete den weinenden Gerichtsdiener, der ihm denselben reichte; aber Jesus bat mitten unter den martervollesten Schmerzen für seine unbarmherzigen Peiniger. Gewiß, wenn Sokrates als ein Weiser lebte und starb, so lebte und starb Jesus als ein Gott!

Sollen wir die evangelische Geschichte für eine bloße Dichtung ansehn? Gewiß, meine Freunde, sie trägt nicht die Kennzeichen einer Dichtung; im Gegentheil hat die Geschichte des Sokrates, woran doch Niemand zweifelt, nicht so viele Zeugnisse für sich, wie die Geschichte Jesu Christi. In der That, eine solche Voraussetzung verwikelt nur die Schwierigkeit, statt sie zu heben! Es ist noch unbegreiflicher, daß mehrere Menschen einstimmig eine solche Geschichte sollen schreiben können, als daß ein Einziger den Gegenstand derselben aufstellen kann. Unmöglich konnten jüdische Verfasser für sich eine solche Moral, noch die Art, sich so auszudrüken, erfinden, und das Evangelium hat so auffallende und unnachahmliche Merkmale der Wahrheit, daß der Erfinder derselben mehr Bewunderung verdient, als der Held der Geschichte selbst: die Göttlichkeit des neuen Testaments ist gleichsam mit einem Sonnenstrahl offen dargestellt,. Aber was muß der für ein Herz haben, welcher der Kraft aller dieser Beweise widerstehen, sich gegen diese so faßlichen Wahrheiten verblenden und sagen kann: „ich kann nicht an das Evangelium glauben!“

Doch der untrüglichste und kräftigste aller Beweise für die Vortreflichkeit, Heiligkeit und Göttlichkeit der heiligen Schrift ist unstreitig der natürliche Haß und die Abneigung aller verdorbenen, ruchlosen, Finsterniß und Bosheit liebenden Menschen gegen die heilige Schrift, und die unsägliche beharrliche Mühe, die sie sich unter der Aufsicht und Leitung des Lügenvaters von jeher gaben, die heilige Schrift als gefährlich zu verschreien, zu verlästern, zu verstümmeln, und wo möglich ausser Umlauf zu bringen. Eine pragmatische Geschichte der Verschwörung gegen die heilige Schrift und ihre Verehrer, wäre nächst der Bibel vielleicht das nüzlichste Lehr- und Warnungsbuch für alle Christen und zugleich der beweglichste Antrieb: sich in Nacht und Nebel, in Sturm und Wetter allein an Gottes Wort, als dem einzigen und vestesten Nothanker, zu halten, und sich nicht vom Gesange höllischer Syrenen verführen zu lassen. Das Geheimniß der Bosheit liegt am Tage! Im nämliche Maase das Ansehen der Bibel sinkt, steigt das Ansehen und die Gewalt der Mächte der Finsterniß. Im Trügen ist gut fischen. Verkümmert daher den Christen nur das Bibellesen: und das Dunkel des Mittelalters ist da, ehe ihr es euch versehet! Man raube den Laien die Bibel ganz, und mehr als heidnische Blindheit und Lasterhaftigkeit, wie vor Christi Zeiten, wird die Erde zum Schandfleck der Schöpfung machen, und den Arm der Rache zur Vertilgung auffordern. … Und dahin arbeiten Alle, die unter der Maske der Offenbarung den Naturalismus herbeyführen und zur Beförderung des antichristischen Reichs die allgemeine Verbreitung des göttlichen Worts möglichst zu verhindern suchen; der Versuch, gottlose Menschen ohne Gott von ihrem ungöttlichen Wesen zu befreien, kann nicht anders, als zum allgemeinen Verderben ausschlagen. Der einzige Damm gegen dieses ist Gottes Wort! Selig, die es hören, lesen und behalten! …

Marburg, im März 1816.

L. van Eß.

Quelle:
Was war die Bibel den ersten Christen?
Herausgegeben von
Leander van Eß.
Sulzbach
in des Kommerzienraths J.E. Seibel Kunst- und Buchhandlung.
1816.

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